-
TOUR 97 – VON HIRSCHHORN NACH EBERBACH
Es gibt Augenblicke, da spielt man mit dem Gedanken, sich irgendwo einen Platz am Rande der Welt zu suchen, dort die Füße hochzulegen und darauf zu warten, was sich tut. Darauf, ob das Nichtstun im Handumdrehen zu geistiger wie körperlicher Erstarrung führt oder ob sich vielleicht sogar im Laufe der Zeit eine bislang unentdeckte innere Harmonie einstellt, die man nicht mehr missen möchte. Ich brauche nicht lange darüber nachzudenken, um zu dem Ergebnis zu kommen, dass Variante Nummer eins die wesentlich wahrscheinlichere ist. Die Zeit – im Grunde jeder einzelne Tag – ist zu kostbar, um sie zu verschwenden und mit Nichtstun zu verbringen. Jedenfalls solange wir nicht 400 Jahre…
-
TOUR 96 – LEBACH/SAARLAND – RUND UM LEBACH UND EPPELBORN
Henry David Thoreau, jener zu Lebzeiten wie auch heute als eigensinniger Rebell geltende amerikanische Schriftsteller, der Mitte des 19. Jahrhunderts für zwei Jahre in einer eigenhändig errichteten Blockhütte im Wald lebte und während dieser Zeit viel umherwanderte, der im Grunde aber sein Leben lang des Gehens und Umherstreifens nicht müde wurde, brachte in seinem umfangreichen Essay „Vom Wandern“ („Walking“) folgende ebenso schlichte wie inspirierende Erkenntnis zu Papier: „Meine Umgebung bietet viele schöne Möglichkeiten zum Wandern; und obwohl ich seit vielen Jahren fast jeden Tag laufe, manchmal sogar mehrere Tage hintereinander, habe ich sie längst nicht alle genutzt.“ Das ist ziemlich genau die Überlegung, die mir gut 150 Jahre später auch…
-
TOUR 95 – VON NECKARSTEINACH NACH HIRSCHHORN
Wir haben es uns deutlich schlimmer vorgestellt. In den Meldungen der Wetterapps vom frühen Morgen war die Rede von stundenlangem Schneeregen, von starkem Wind und von Temperaturen, die erwarten ließen, dass wir uns zudem auch noch mit eisglatten Wegen abfinden müssten. Nach dem nahen Weltuntergang hörten die Vorhersagen sich zwar nicht an, fast noch weniger aber nach rundum angenehmen Begleitumständen für eine Wanderung. Ich glaube, ich rechnete damit, dass es von Beginn an eine ziemlich trostlose Angelegenheit werden würde. Stattdessen aber passiert etwas völlig anderes. Schon die ersten Augenblicke auf dem Bahnsteig in Neckarsteinach sind alles, nur nicht trostlos. Es ist völlig windstill. Von wegen stürmische Böen. Auf den Gleisen…
-
TOUR 94 – 30 KILOMETER DURCHS NÖRDLICHE SAARLAND
Letzte Herbsttage. Seit Wochen nahezu ohne Unterbrechung dieses eintönige, abstumpfende Betongrau am Himmel, oft begleitet von stundenlangem Regen, selbst mittags war es meistens kaum mehr als dämmerhell. Für das Wochenende ist Schnee angekündigt, was heute Morgen allerdings am Rande des gerade noch Vorstellbaren liegt oder eher sogar schon jenseits davon, denn es ist mild wie zu Beginn des Frühlings. Mehr als diese halbwegs milden Temperaturen gibt es jedoch nicht, was an den Frühling erinnert. Nebel hüllt alles ein. Ein fahler, dichter Nebel, der einer fast schwarzen Morgendämmerung entstammt und der ganz bestimmt nicht mit den ersten Sonnenstrahlen verschwinden wird. Er wirkt unzerstörbar, dieser Nebel, und ich wäre nicht allzu sehr…
-
TOUR 93 – 30 KILOMETER DURCHS MITTLERE SAARLAND
Es ist einer dieser in den letzten Jahren immer häufiger auftretenden Novembertage, an denen man weder spürt noch so richtig sieht, dass November ist. Der Himmel ist zu weit und zu hell dafür, die Schatten sehen in der grellen Sonne fast aus wie leichte Spätsommerschatten, ständig nimmt man in den Augenwinkeln winzige Lichtexplosionen wahr, und ab dem frühen Vormittag ist es so warm, dass man die Ärmel hochkrempeln kann. Herbsttage wie heute sind in mancherlei Hinsicht die besten Wandertage. Es ist weder zu kalt noch zu heiß, man muss nicht beständig gegen ein inneres Frösteln ankämpfen, sobald man eine Gehpause einlegt, man gerät aber auch nicht ins Schwitzen, man kann…
-
TOUR 92 – VOM SCHAUINSLAND HINUNTER NACH KAPPEL
Die Welt ist klein, sagen viele. Und dieser Satz hat zweifellos seine Berechtigung in einer Epoche, in der man binnen eines Tages mit dem Flugzeug am anderen Ende des Globus sein kann und in der man via Internet oder Fernsehen Ereignisse aus weit entfernten Gegenden nahezu in ebenjenem Augenblick nachzuvollziehen vermag, in welchem sie stattfinden. Die Welt ist klein – oder wird als klein empfunden -, weil beinahe alles so unglaublich schnell abläuft. Aber wenn wir uns zu Fuß aufmachen, dann ändert sich plötzlich die Perspektive, die Langsamkeit dominiert und schon allein dadurch erscheint selbst der winzige Ausschnitt der Welt, der gehend und wandernd für uns erreichbar ist, mit einem…
-
TOUR 91 – RUND UM EBERBACH
Erste Herbsttage. Tage des allmählich verblassenden Lichts und der im Nebel verschwindenden Horizonte, Tage der grauen, dunstigen Morgendämmerungen und des verwitterten, ausgebleichten Endsommerblaus, Tage der leuchtenden Farben, Tage des allerletzten, schon kaum mehr vorhandenen Sommerhauchs und der ersten Ahnung kalter Wintermorgen, Übergangstage, Schwellentage, Tage, an denen man schon beinahe die Erinnerungen eines ganzen Jahres mit sich trägt. Und natürlich auch Tage des Wanderns. Es gibt ja nicht wenige, für die der Herbst sogar die beste Zeit zum Wandern ist. Was allein schon deshalb kein Wunder ist, weil man sich im Herbst im Allgemeinen nicht mehr mit der teilweise gnadenlosen Hitze der Sommermonate beschäftigen muss. Jana, mit der ich heute wieder…
-
TOUR 90 – VON WIEBELSKIRCHEN NACH ST. WENDEL
Ich glaube nicht, dass jemals der Tag kommen wird, an dem ich genug habe. Genug vom Gehen, genug vom Unterwegssein, genug davon, einen kleinen Teil dieses winzigen Ausschnitts des Universums zu erkunden, der für mich erreichbar ist. Wenn er irgendwann aber doch kommen sollte, dieser Tag, dann möchte ich sagen können: Das Unterwegssein ist genau das Richtige gewesen und ich würde nichts anders machen wollen. Zum zweiten Mal innerhalb weniger Monate bin ich in Wiebelskirchen, dem nach der Kernstadt größten Stadtteil von Neunkirchen. 20 Kilometer südwestlich von hier liegt Saarbrücken, 20 Kilometer südöstlich das bereits zu Rheinland-Pfalz gehörende Zweibrücken. Neunkirchen ist eines der ehemaligen Schwerindustriezentren des Saarlandes. Allerdings reden wir…
-
TOUR 89 – VON OPPENHEIM NACH NACKENHEIM
Mitunter kommt mir der Gedanke, dass man von dem Augenblick an, in dem man loswandert, buchstäblich von einem Atemzug zum nächsten die Welt mit völlig anderen Augen sieht. So, als würde man eine Art Enthüllungszauber anwenden, der im Handumdrehen bisher verborgen gebliebene Dinge offenbart. Vielleicht besteht ein Teil der Begeisterung für das Wandern oder Gehen genau darin, dass man diese Trennlinie überschreitet, die Trennlinie zwischen der Alltagswelt übersehener Dinge und der Welt des Unterwegsseins, in welcher man um ein Vielfaches klarsichtiger und aufmerksamer ist. Oder, ganz simpel – vielleicht ist es einfach so, dass man erst beim Wandern beginnt, richtig hinzuschauen. Seit der letzten Etappe auf dem Rheinterrassenweg sind ziemlich…
-
TOUR 88 – HANAU-STEINHEIM/DIETESHEIMER STEINBRÜCHE
Es sind nicht immer nur die besonders ins Auge fallenden, vordergründig schönsten Stellen, die einen Abdruck in meiner Erinnerung hinterlassen. Oft genug sind es auch die eher verborgenen, stillen, manchmal beinahe unscheinbaren Orte, die mir dauerhaft und unverrückbar im Gedächtnis bleiben, und zwar nicht etwa nur als verwaschene, sich allmählich auflösende Silhouette, sondern deutlich wie am Tag danach, einen zeitlosen Zauber ausübend. Auch auf meiner heutigen Wanderung mit Jana von Hanau-Steinheim am Main entlang und zu den Dietesheimer Steinbrüchen gibt es ein paar Situationen, die zu solch einer unauslöschlichen Erinnerung werden könnten. Eine davon ist der Blick – buchstäblich im Vorbeigehen – auf das Olof-Palme-Haus in Kesselstadt. Schon der allererste…
-
TOUR 87 – VON LANDSTUHL NACH BRUCHMÜHLBACH-MIESAU
Es ist immer so eine Sache, wenn man sich dazu entschließt, eine Wanderung zu unternehmen, bei der man auf nahezu jegliche Vorbereitung verzichtet, auf Hilfsmittel wie GPS, Karten usw. sowieso. Man muss sich entweder darauf verlassen, dass die Strecke gut ausgeschildert ist, oder darauf, dass sich schon irgendwie eine Lösung finden wird, falls das nicht der Fall sein sollte. Es hat Touren gegeben, da war von vornherein absehbar, dass mich diese Herangehensweise in Schwierigkeiten bringen würde. Ich bin sehr oft nicht auf der ursprünglich vorgesehenen Route ans Ziel gekommen. Oder erst nach hundert Umwegen. Oder ich war gezwungen, während der Tour das Ziel völlig neu festzulegen. Vorausgesetzt, man ist körperlich…
-
TOUR 86 – NOHENER NAHESCHLEIFE
Es kann kaum eine tiefere Stille geben als die auf einem leeren Bahnsteig am Rande eines winzigen, wie ausgestorben wirkenden Dorfes irgendwo im Niemandsland. Es ist eine fragile Stille, man hat den Eindruck, dass schon das geringste Geräusch kilometerweit zu hören wäre, aber sie ist so gegenwärtig, als sei sie ein Bestandteil von allem, was man sieht. Ungefähr diese Art von Stille ist es, die mich in Nohen empfängt, kaum dass ich aus dem Zug gestiegen bin. Vielleicht ist da deshalb gleich vom ersten Moment an dieser Eindruck einer besonderen Ausgewogenheit, vielleicht erfüllt sich auch nur irgendeine unbewusste Erwartungshaltung, jedenfalls könnte ich mir kaum einen besseren Ausgangspunkt für eine Wanderung…
-
TOUR 85 – VON WIEBELSKIRCHEN NACH SCHIFFWEILER
Es hat schon Tage gegeben, an denen es weitaus verlockender war, kilometerweit draußen herumzulaufen. Es ist trübe und kühl, von Sommer keine Spur. Dichte Wolkencluster nehmen beinahe den ganzen Himmel ein. Sie bringen ein seltsames, wächsernes Licht hervor, fast wie an einem nebligen Wintermorgen. Je länger man den Himmel betrachtet, desto schwerer fällt es zu glauben, dass irgendwann in den nächsten ein, zwei Stunden sommerliche Helligkeit Einzug halten wird, und sei es nur für ein paar Minuten. Ich habe es kaum erwarten können, wieder aufzubrechen. Ob es hell oder stockfinster ist, ob warm oder lausig kalt, das spielt heute eine untergeordnete Rolle. Aufbrechen, das war in den letzten Wochen und…
-
TOUR 84 – VON HERXHEIM AM BERG NACH BAD DÜRKHEIM
Der Tag ist warm und hell, exakt so, wie es sich bereits Stunden zuvor erahnen ließ, als die kühle, noch von Dunkelheit eingerahmte Dämmerung sich von Atemzug zu Atemzug mehr in einen stillen, klaren Morgen verwandelt hat. Mehr Frühling als heute geht kaum. Da ist dieser Himmel, weit und offen, schon lange kein morgendlicher Himmel mehr, sondern ein leuchtender Mittagshimmel, bis fast zum Rande des Blickfeldes sieht man alles gestochen scharf, nur die Horizontlinie selbst sieht aus wie ein Saum aus dunstiger Gischt. Da ist dieses frühlingshafte Grün überall, Bäume, niedrige Hecken, Weinhänge, Wiesen, man hat beinahe das Gefühl, den Geschmack von Grashalmen auf der Zunge zu spüren oder den…
-
TOUR 83 – 20 KILOMETER DURCHS MITTLERE UND NÖRDLICHE SAARLAND
Unterwegssein, das ist zur Zeit eine sehr eingeschränkte Angelegenheit. An irgendeinen beliebigen Ort fahren und dort herumwandern, so weit die Füße tragen, das gehört fürs Erste der Vergangenheit an. Spaziergänge von drei oder von fünf Kilometern, die noch vor wenigen Wochen banaler Alltag waren, sind zu etwas Besonderem geworden, eine Wanderung von 20 Kilometern, wie ich sie heute im Sinn habe, hat beinahe schon etwas Epochales. Nicht nur die Selbstverständlichkeit des Normalen ist dahin, sondern auch die Selbstverständlichkeit des Besonderen, von dem wir oft schon gar nicht mehr gemerkt haben, dass es etwas Besonderes ist. Meine Wanderung beginnt mit dem allerersten Schritt zur Haustür hinaus. Es sind die ersten Tage…
-
TOUR 82 – PRIMSTALER PANORAMAPFAD UND WARKEN-ECKSTEIN-WEG
Mittwoch, 18. März. Mit jedem Tag, den die Corona-Krise anhält, wird sie gegenwärtiger und unwirklicher zugleich. Gegenwärtiger, weil die täglichen Zahlen von Neuinfektionen und von Toten – so abstrakt sie auch erscheinen mögen – eine Art Maßstab für die Größe der Gefahr darstellen, unwirklicher, weil die Selbstverständlichkeit einer jahrzehntelang gewohnten Normalität gerade in Nullkommanichts erodiert. Man kommt sich vor wie in einem Realität gewordenen dystopischen Film. In wenigen Tagen, vielleicht sogar schon innerhalb der nächsten 24 Stunden, werden mit hoher Wahrscheinlichkeit drastische Ausgangsbeschränkungen angeordnet werden. Wandern wird dann wohl nur noch sehr eingeschränkt möglich sein, wenn überhaupt. Mehr als je zuvor ist das Unterwegssein deshalb ein Anker, etwas Stabiles in…
-
TOUR 81 – VON EDENKOBEN NACH NEUSTADT AN DER WEINSTR.
Es wird eine Zeit geben, in der uns diese Tage der Pandemie im Rückblick vielleicht noch unwirklicher erscheinen werden als im Augenblick. Eine Zeit, in der wir uns nicht mehr vorkommen werden, als wären wir Statisten in einer Realität gewordenen Dystopie. Eine Zeit, in der auch das Unterwegssein wieder selbstverständlich sein wird. So selbstverständlich wie die Morgendämmerung am Ende der Nacht, so selbstverständlich wie das Aufeinanderfolgen der Jahreszeiten und die Existenz der Sonne. Im Moment jedoch sind wir mittendrin. Es ist Samstag, der 14. März, und es gibt seit vielen Tagen, anschwellend wie eine unbesiegbare Riesenwoge, nur ein einziges Thema, nämlich DAS VIRUS. Nichts anderes scheint mehr zu existieren. Es…
-
TOUR 80: GEISLINGEN AN DER STEIGE – FILSTALGUCKER
Es ist wieder einmal ein Windtag. Allerdings keiner dieser Windtage, an denen unaufhörlich graue Böen über die Anhöhen fegen und Schneisen in die Wälder schlagen und an denen man allein schon am ohrenbetäubenden Lärm des Sturms dessen zerstörerische Kraft zu erahnen vermag. Von dem irgendwann unweigerlich einsetzenden Regen gar nicht erst zu reden. Es ist kein wirklich kalter Wind, nichts, das seine allerersten Ursprünge irgendwo in der Tundra Sibiriens oder über dem Nordatlantik gehabt hat, aber eine angenehme Frühlingsbrise ist es auch nicht gerade. Es ist eben so ein Mittelding, das man nicht vermissen würde, wenn es nicht da wäre, das aber auch nicht besonders stört. Die Uhr gegenüber dem…
-
TOUR 79 – SCHRIESHEIM – SCHAUENBURG – SCHRIESHEIM
Es muss so eine Art Bestimmung sein. Das Gehen, meine ich. Etwas, das wie eine phönizische Amphore oder ein keltischer Armreif lange Zeit irgendwo vergraben liegt, irgendwann aber gefunden wird, und von da an weiß man um sein Vorhandensein und es wird nach und nach so selbstverständlich, als wäre es immer schon da gewesen. Vielleicht ist es auch in den Genen zahlloser Ahnen angelegt und wurde über Jahrzehnte und Jahrhunderte hinweg weitergetragen wie eine Fackel, die mit jedem Mal heller brennt, keine Ahnung. Jedenfalls ist da irgendetwas, das manche dazu bringt, Tag für Tag lange Strecken zu Fuß zurückzulegen und oft Dutzende von Kilometern immer einen Schritt vor den nächsten…
-
TOUR 78: SAARBURG – SAAR-LEUKTAL-PANORAMAWEG
Saarburg liegt unter einer dicken Schicht zerklüfteter Wolken. Es regnet. Ein dünner, milder Regen, der alle Konturen verschwimmen und der die Distanzen geringer erscheinen lässt. Steingrau der Himmel. Man kommt sich vor wie in einem Raum, in dem die Wände sich aufeinander zubewegen. Die Häuserzeilen entlang der Saar wirken wie in einen dünnen Kokon aus Regen und Nebel hineingewoben, hier und da sticht ein hellerer Farbton hervor, im Fluss spiegelt sich eine fahle Wolkenlandschaft. Es ist weder kalt noch winterlich, es ist einfach nur grau und nass. Die Straßen sind nicht gerade belebt. Auf meinem Weg vom Bahnhof zur Innenstadt begegnet mir nur vereinzelt mal ein Fußgänger. Sogar der Marktplatz…
-
TOUR 77: NIEDALTDORF/SAARLAND – GRENZBLICKWEG
Es ist einer dieser staubgrauen Tage, an denen das Grau nicht nur oberflächlich vorhanden ist, sondern an denen es aus der Tiefe der Erde emporzusteigen scheint und an denen man sich des Gefühls nicht erwehren kann, dass man die Sonne wochenlang nicht mehr zu sehen bekommen wird. Der Himmel hängt tief und dunkel über den Häusern. Dem Auge fehlen irgendwie die Farben. Überall dieses stumpfe, konturenlose Gewaber, als würde man durch eine blinde Scheibe nach draußen blicken. Es ist Anfang Januar, aber man könnte beinahe meinen, es sei November. Auch heute bin ich wieder mit Jana unterwegs. Während wir vom Bahnsteig am Rande von Niedaltdorf in den Ort hinunterlaufen, wird…
-
TOUR 76 – VON WACHENHEIM NACH NEUSTADT AN DER WEINSTRAßE
Eine Wanderung zu planen kann eine aufwendige Sache sein, auch wenn man nicht gerade einen mehrtägigen oder gar mehrwöchigen Trip auf dem Pacific Crest Trail oder irgendwo am Nordkap in Angriff zu nehmen beabsichtigt. Es genügt schon eine längere Tagestour, sofern man seine eigene Route entwirft und diese womöglich nicht nur aus beschilderten Wanderwegen besteht, sondern aus allem, was irgendwie ein halbwegs begehbarer Pfad, eine halbwegs begehbare Straße ist. Bei Mehrtagestouren ist der zeitliche Aufwand für die Planung naturgemäß noch höher, selbst dann, wenn man bereit ist, sich spontanen Entschlüssen oder gar der Regie des Zufalls zu überlassen. Die Detailplanung der ersten vier Marienwegetappen kostete mich zwei volle Tage und…
-
TOUR 75: HASSEL/SAARLAND – HÜTTENWANDERWEG
Das Erste, was ich wahrnehme, als ich auf den Bahnsteig trete, ist dieses Flimmern. Ein Flimmern beinahe wie an einem heißen Hochsommertag irgendwo am Horizont über dem aufgeheizten Asphalt einer Landstraße. Erst nach und nach füllt sich mein Blickfeld mit Konturen: Ein uraltes Bahnhofsgebäude, das im Gegensatz zu vielen anderen uralten Bahnhofsgebäuden aber keine allmählich sich atomisierende Ruine ist, Wohnhäuser, zwei Straßen. Am Rande des Bildausschnitts leuchtende Farben, Herbstfarben genauer gesagt. Am Morgen noch ist alles grau gewesen wie an einem Nebeltag in den schottischen Highlands, genau das also, was man vom November erwartet. Jetzt aber ist der Himmel ganz hell, ohne jeden Anflug von Eintrübung, und wenn ich Glück…
-
TOUR 74 – VON OBERNHOF NACH DAUSENAU
Da ist dieser eine Moment, beinahe schon auf den letzten Metern der Wanderung, dieser nicht sofort wieder endende, sondern fortdauernde Moment, der aus der Stille und Weite des Himmels zu erwachsen scheint, der voller Leichtigkeit ist und voller Gelassenheit, wie vom Wind fortgetragenes Herbstlaub, dieser eine Moment, der sich anfühlt, als würde er all die vergangenen Stunden umfassen, den Aufbruch, das Unterwegssein, die Worte, die Bilder, die Empfindungen, und der zugleich so gegenwärtig ist wie ein in den Handrücken geritztes Tattoo. Es geschieht nichts in diesem Moment, was die Erde aus ihrer Umlaufbahn katapultiert oder auch nur die den Horizont begrenzenden Hügel ein paar Meter nach hinten oder vorne versetzt,…
-
TOUR 73 – VON LAUTERECKEN NACH WOLFSTEIN
Am Anfang ist nicht das Wort, nicht einmal der Gedanke. Am Anfang ist nur ein Gefühl. Das Gefühl, aufbrechen zu wollen. Oder, wenn das ein zu großes Wort sein sollte, losgehen zu wollen. Mit welchem Ziel, zu welchem Zweck, das ist in diesem Stadium erst einmal nicht von Belang. Aber wenn man es wirklich ernst meint, dann ist es vom ersten Moment an ein Gefühl, das beinahe schon einem Entschluss gleichkommt. Ich jedenfalls empfand von Beginn an eine Art unverrückbare Gewissheit, dass das Gehen keine rasch vorübergehende Laune sein würde, sondern etwas Dauerhaftes. Die Gründe zu wandern sind vermutlich so unterschiedlich und zahlreich wie Kieselsteine an einem Flusslauf, aber die…