Wandertouren

TOUR 110 – VON SAARBRÜCKEN DURCH DEN SAARKOHLENWALD NACH FISCHBACH

In einer Zeit, in der die Welt noch so groß war, dass die Schwelle zum Unbekannten für viele nur wenige Kilometer vom Wohnort entfernt lag und in der eine Reise übers Meer nach Amerika beinahe so etwas war wie die Reise zu einem neuen Planeten, wäre ich vielleicht gerne so eine Art Abenteurer auf Zeit gewesen, jemand, der das Unterwegssein untrennbar mit dem Gefühl verbunden hätte, jederzeit in alle Himmelsrichtungen aufbrechen zu können.

Selbstverständlich wäre das nur eine schöne Illusion von Freiheit gewesen, die unter Umständen recht schnell zu einem Kampf ums Dasein geworden wäre.
Allerdings mutet aus heutiger Sicht ja bereits das normale Alltagsleben des 18. oder 19. Jahrhunderts wie ein entbehrungsreiches Abenteuer an.

Das gelobte Land war im 19. Jahrhundert für viele selbstredend Amerika. Zwar machten sich sicherlich nur die wenigsten dahin auf, um Abenteuer zu erleben, aber diese stellten sich jenseits des Atlantiks meistens ganz von alleine ein.
„Hinaus flattern sie da nach allen Seiten, wie eine Hand voll Spreu, vom Winde fort geführt …“, schrieb Friedrich Gerstäcker, ein wirklicher Abenteurer, 1854 in der Vorbemerkung zu seinem Roman „Nach Amerika!“

Gerstäcker kann als ein Weltreisender angesehen werden, ein Beobachter, angetrieben von unstillbarer Sehnsucht nach der riesigen, unbekannten Welt da draußen, aber auch von dem Wunsch, seine Erlebnisse mitzuteilen, er war Abenteurer und Schriftsteller. Und man kann ihn mit Fug und Recht auch als Geher, als Wanderer bezeichnen, wobei das eigentlich zu wenig gesagt ist über jemanden, der „die ganzen Vereinigten Staaten quer durch von Kanada bis Texas zu Fuß“ durchzog.

Verglichen mit solchen Tag für Tag die eigene Existenz bedrohenden Unternehmungen ist an einer Wanderung durch den Saarkohlenwald, wie ich sie heute vorhabe, natürlich nichts Abenteuerliches, aber dafür laufe ich auch nicht Gefahr, „dass ich dort halb verwilderte“, wie es bei Gerstäcker der Fall war.

Es ist Frühling, Anfang April.
Gerstäcker, um ihn auch in diesem Zusammenhang noch einmal zu erwähnen, liebte den Frühling.
Ich glaube, es ist der erste richtig warme, richtig einladende Frühlingstag des Jahres. Eigentlich wäre so ein Tag wie geschaffen für eine Wanderung mit vielen Fernblicken und weiten Horizonten, aber damit kann ich heute wohl eher weniger rechnen. Der Ablauf wird aller Wahrscheinlichkeit nach ungefähr so sein: Erst gut drei Kilometer durch Saarbrücken, also durch städtische Gefilde, und danach Wald, Wald, Wald, Wald.

Wenn man sich nicht daran stört, eine Weile durch eine urbane Umgebung zu wandern, dann ist der Saarbrücker Hauptbahnhof ein guter Ausgangspunkt für Fußmärsche und Spaziergänge.
Man kann am Saarufer entlang nach Saargemünd wandern oder in die entgegengesetzte Richtung nach Völklingen, Saarlouis und auch noch weiter. Man kann durch St. Arnual zu den Spicherer Höhen laufen, in deren Nähe auch der Saarland-Rundwanderweg verläuft, man hat die Möglichkeit, auf den Jakobsweg zu gelangen und so weiter.

Ich laufe erst einmal los.
Die Trierer Straße entlang bis zum Ludwigskreisel und von dort hoch in den Stadtteil Malstatt, genauer gesagt in den Distrikt Rußhütte ganz am nördlichen Stadtrand.
Da oben war ich seit Jahrzehnten nicht mehr.
Ich habe auch so gut wie keine Erinnerung daran, wie es damals dort aussah, so dass ich keine Vergleiche zu heute ziehen kann. Eines jedoch ist ganz sicher – den Naheweg, der am Bernkasteler Platz beginnen soll und an dem ich mich bei dieser Wanderung orientieren will, den gab es zu jener Zeit noch nicht.

Je weiter ich komme, desto weniger sehen die Straßen noch nach Großstadt aus.
Es ist warm.
Die Sonne heizt den Asphalt allmählich auf, und sobald man die Häuserschatten verlässt, hat man schon beinahe eine Vorahnung von Frühsommer.
Den Naheweg zu finden, erweist sich als überraschend einfach.
Ich überquere besagten Bernkasteler Platz und entdecke das blaue N, das für den Naheweg steht, an einem schief gewachsenen Baum am Rande einer kleinen Grünfläche. Von hier aus muss ich nur noch eine kurze Wohnstraße hinaufmarschieren und dann, nach dreieinhalb Kilometern, ist der urbane Teil der Wanderung abgeschlossen.
Was jetzt folgt, ist Wald.
Viele, viele Kilometer Wald.

Es handelt sich um den südlichen Rand eines gut 60 Quadratkilometer großen Gebiets, das Saarkohlenwald genannt wird.
Wie der Name schon vermuten lässt, war der Saarkohlenwald früher Kohleabbaurevier. Ringsum liegen jede Menge ehemaliger Bergbauorte – Sulzbach, Fischbach-Camphausen, Göttelborn und viele mehr.

Soweit man von planmäßigem, systematischem Kohleabbau spricht und nicht von mehr oder weniger planlosen, oft sogar zu privaten Zwecken durchgeführten Grabungen, die bis ins Mittelalter oder sogar bis in die Antike zurückreichen, lässt sich der Beginn des Saarkohlebergbaus etwa auf die Mitte des 18. Jahrhunderts datieren. Von diesem zeitlichen Ausgangspunkt aus gesehen existierte der Saarbergbau also gut 250 Jahre und der Saarkohlenwald ist mit dieser Historie natürlich aufs Engste verbunden.

Ich wandere über breite Wege, die aussehen wie ausgetrocknete Kanäle.
Der Wald ist hell und nach dem Stadtlärm wirkt die nur aus Vogelgezwitscher und den Stimmen einiger Spaziergänger bestehende Geräuschkulisse beinahe etwas unwirklich.
Sonnenlicht fällt in Kaskaden durch die Baumwipfel.
Von Zeit zu Zeit wird der lichte Laubwald von Nadelgehölzen unterbrochen, die kaum lichtdurchlässiger sind als eine Steinmauer.
Kilometerweit gibt es nichts anderes als die erwähnten breiten Waldwege. Veränderungen liegen hier im Detail, am Wegrand, meistens aber ist der Eindruck vorherrschend, dass man 100 Meter weiter das Gleiche sieht wie zuvor und 100 Meter weiter wiederum das Gleiche.
Die Wanderung wird dadurch nach und nach zu einer Art Waldspaziergang, das Gefühl, einen rund 20 Kilometer langen Fußmarsch zu unternehmen, verliert sich immer mehr.

Nach einer Weile ruhigen Dahintrottens verliere ich den Naheweg halb freiwillig, halb ungewollt aus den Augen und bekomme ihn von diesem Zeitpunkt an auch nur noch sehr selten zu Gesicht.
Minutenlang wird es jetzt erstaunlich still, wenn man bedenkt, dass der Wald auf allen Seiten von Ortschaften und von Straßen umzingelt ist.
Der Wald präsentiert sich hier als ein Netz verzweigter Wege und Pfade, so dass ich immer wieder die Möglichkeit habe, die Richtung zu ändern. Viele dieser Pfade sind schmal wie Rinnsale, aber man sieht doch, dass sie von Spaziergängern und Wanderern benutzt werden, denn sie heben sich deutlich von den mit Laub und kleinen Ästen bedeckten Pfadrändern ab.
Ein paar Minuten lang wandere ich durch einen sehr stillen und wie von der übrigen Welt abgetrennt wirkenden Friedwald.
Eine einsame Radfahrerin kreuzt meinen Weg, aber danach begegne ich lange Zeit keiner Menschenseele mehr.

Der Wald wird immer dunkler.
Dunkler und noch stiller.
Die ganze Zeit waren immer noch Symbole oder Bezeichnungen irgendwelcher Wanderwege zu sehen, die im Saarkohlenwald natürlich in Mengen zu finden sind.
Aber jetzt – nichts mehr.
Ohne dass es mir zunächst so richtig bewusst wird, nimmt um mich herum das Chaos zu. Umgestürzte Baumruinen, zerborstene Stämme, der Weg uneben wie eine Freestyle-Buckelpiste.
Ab und zu muss ich mir einen Weg durchs Unterholz suchen. Auch hier überall Baumtrümmer, die den Weg versperren. Das Licht über den Wipfeln ist stellenweise blass wie an einem Wintermorgen.

Zu Beginn, auf dem Naheweg, wäre es mir gar nicht so unrecht gewesen, von Zeit zu Zeit die breiten Waldstränge verlassen zu können, jetzt dagegen könnte ich einen richtig breiten Waldweg samt Wegweiser gut gebrauchen, um mich wieder etwas genauer orientieren zu können und nicht lediglich zu versuchen, grob die Himmelsrichtung einzuhalten, in der ich meinen Zielort Fischbach vermute.

Im Nachhinein betrachtet bringt die Wanderung im Grunde das, was ich mir davon erwarten durfte, aber die Sache ist die, dass ich durch dieses ungeplante Abkommen vom Weg letztlich sogar mehr daraus gemacht habe. Und eines kann ich auf jeden Fall für mich in Anspruch nehmen – es ist wirklich ein Kunststück, bei der enormen Anzahl von ausgeschilderten Wanderwegen, die hier verlaufen, tatsächlich eine Passage zu entdecken, die vom Wanderwegenetz nicht erfasst ist.

Es dauert auch nicht lange und die Pfade werden wieder ansehnlicher, und neben den Wanderwegesymbolen kehren auch die Spaziergänger in den Wald zurück.
Ungefähr auf der Höhe von Riegelsberg überquere ich eine Landstraße und danach folge ich eine halbe Stunde lang mal diesem, mal jenem Symbol. Auch das blaue N des Naheweges taucht zwischendurch wieder auf, ich verliere es aber sehr rasch wieder aus den Augen.

An einer Weggabelung stoße ich auf den Wilden Netzbachpfad, einen Wanderweg, den ich von einer mehrere Jahre zurückliegenden Tour kenne.
Auf den drei Kilometern, die ich dem Pfad folge, ist denn der Netzbach auch stets nicht mehr als ein paar Schritte entfernt.
Von dem Moment an, als ich meinen Fuß auf den Netzbachpfad setze, wird die Wanderung mit einem Mal zu einem richtigen Erlebnis.
Der Weg ist jetzt schmal wie ein Buchrücken und eingezwängt zwischen eine steile Böschung und den Bach samt dessen Ufer, das nicht selten aus beinahe sumpfartigem Gelände besteht. Vielfach sind Bäume umgestürzt und bis hart an den Rand der Böschung hinabgerutscht oder sogar in den Pfad hinein. Der Boden ist an vielen Stellen feucht, weil vermutlich seit Tagen kein Sonnenstrahl es mehr bis dahin geschafft hat.
Immer wieder muss ich mich über Baumwracks hinweghieven oder mich ein paar Meter einen schlammigen Anstieg hinaufarbeiten.

Erst ganz am Ende wird der Pfad dann wieder zu einem übersichtlichen Weg, nur hier und da noch ein paar Wurzelstränge oder ein Steg zur Auflockerung.
Die gesamte Komposition auf diesen rund drei Kilometern könnte besser nicht passen und sie ist zugleich ein guter Abschluss der Wanderung.

Das heißt, es ist natürlich noch nicht ganz der Abschluss.
Ich wandere schließlich noch am Netzbachweiher vorüber, einem vor Jahrzehnten angelegten künstlichen Gewässer.
Ich merke jetzt erst, wie warm es mittlerweile geworden ist.
Über dem Weiher hält sich ein feines Flimmern, das an Tauwiesen im Morgennebel erinnert. Das Wasser ist beinahe ganz ruhig, nur zur Mitte hin sind ein paar winzige, eher angedeutete als tatsächlich vorhandene Kreise zu erkennen.
Erst hatte ich die Ruhe des Waldes, jetzt habe ich die Ruhe des Wassers.
Das Lachen und die Stimmen von überall her tun der Ruhe keinen Abbruch.
Im Gegenteil, an einem Ort wie diesem würde etwas fehlen, wenn sie nicht da wären.

 

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