Wandertouren

TOUR 104 – VON BECKINGEN NACH METTLACH

Wenn ich nach gut fünf Jahren des Unterwegsseins eines ganz sicher sagen kann, dann, dass das weite Gehen mir in keiner einzigen Sekunde, keinen Lidschlag lang, irgendwie langweilig geworden wäre.
Und nach solch einem langen Zeitraum hat das schon etwas zu sagen.
Ich erinnere mich an unzählige wunderbare, interessante oder fast schon erhabene Momente, aber nicht an einen einzigen, von dem ich im Nachhinein dachte, darauf hätte ich verzichten können.
Wenn ich die Zeit zurückdrehen könnte, dann würde ich zehn Jahre früher mit dem Wandern beginnen, aber ich glaube, man sollte nicht zu viele Gedanken an unabänderliche Dinge verschwenden.
Fest steht – im Rückblick stellt sich der Beginn meiner Wanderungen ungefähr so dar, als hätte ich eine unscheinbare Tür geöffnet und dahinter statt des erwarteten kleinen, engen, dunklen Raumes ein Universum gefunden.

Unser Startpunkt ist der Bahnsteig in Beckingen.
Von den vielen denkbaren Routen, die es gibt, um zu Fuß von hier nach Mettlach zu gelangen, haben Jana und ich uns für die unkomplizierteste und in unseren Augen auch schönste entschieden, nämlich für den Weg an der Saar entlang.
Rund 27 Kilometer liegen vor uns.
Keine geringe Entfernung, aber zu berücksichtigen ist, dass auf diesen 27 Kilometern gerade mal etwas mehr als 100 Höhenmeter zusammenkommen, und selbst da fragt man sich, wie eigentlich.

Der Beginn.
Gleich der allererste Blick fällt auf die historische Güterhalle, mittlerweile ein Lost Place, ein Relikt aus dem 19. Jahrhundert, als der Beckinger Bahnhof trotz seiner relativ geringen Bedeutung mit so viel Aufwand und Kosten errichtet wurde, dass irgendein Geheimnis dahinter zu vermuten ist, denn vergleichbar kleine Bahnhöfe hatten sicher kein Bahnhofsgebäude zu bieten, das einer rheinischen Zollburg nachempfunden war. Vielleicht gab es eine einflussreiche Persönlichkeit, die ein besonderes Interesse an Beckingen hatte, aber das wird sich rund 160 Jahre später wohl kaum noch herausfinden lassen.
Im Gegensatz zur Güterhalle ist das Bahnhofsgebäude vor einigen Jahren restauriert worden und sieht seither im Grunde wieder genauso aus wie auf uralten Fotos aus der Zeit vor dem 1. Weltkrieg.

Erster Blick zum Himmel.
Die Sonne kämpft sich langsam hervor, aber noch ist alles in der Schwebe, es kann ebenso gut ein bleigrauer, in Tristesse versinkender Tag werden wie ein warmer, heller Sommertag.
Wir wandern zum Saarufer hinab.
Mehr als ca. 300 Meter ist das vom Bahnhof aus nicht entfernt.
Dazwischen liegt allerdings noch der Saargarten, eine Parkanlage, in der zahlreiche Skulpturen verschiedener regionaler Künstler zu sehen sind.

Die Sonne fehlt.
Wahrscheinlich ist der Park deshalb so gut wie leer.
Wir spazieren von einem Ende des Gartens zum anderen, was nicht mehr als fünf Minuten in Anspruch nimmt, was aber trotzdem als gelungener Auftakt bezeichnet werden kann, dann nehmen wir endgültig die Wanderung in Angriff.

Der erste Kilometer.
Ein flacher, dem Wind ausgesetzter Asphaltweg, unmittelbar daneben der Fluss.
Genau das, was Jana und ich uns vorgestellt haben also.
Der Himmel ist blass und tief wie über einer einsamen Küstenstraße in Irland.
Am Rande des Blickfeldes ein paar algengrüne Hügelkämme, kaum sichtbar, aber trotzdem ein nicht wegzudenkendes Teil des Ganzen.
Ein einzelner, verloren wirkender Radfahrer kommt uns entgegen, sonst sind wir allein auf weiter Flur.
Der Himmel hellt langsam auf, er sieht jetzt aus wie ein See bei Windstille.

Es ist ein Beginn, wie er besser nicht sein könnte.
Überhaupt hat das Losgehen, haben diese allerersten Minuten einer Wanderung etwas Faszinierendes.
Im Kleinen ist es, als bräche man zur Entdeckung einer neuen Welt auf.
Und allzu sehr relativieren muss man das nicht einmal, denn das Entdecken spielt beim Wandern immer eine Rolle und neue Welten tun sich mitunter auch auf, nur dass es eher innere Welten sind, wenn man so will.

Ein besonderer Punkt beim Gehen ist die Langsamkeit.
Selbst wenn man so schnell geht, wie die Beine es zulassen, ist man immer noch mit vergleichsweise geringer Geschwindigkeit unterwegs.
Das verändert den Blick auf ganz viele Dinge.
Denn mit einem Mal schrumpft der innerhalb von ein paar Stunden erreichbare Teil der Welt auf ein paar Dörfer zusammen.
Das macht geduldig.
Und es lässt die Ressource Zeit und das, was man damit anfängt, umso kostbarer erscheinen.

Der erste Ort hinter Beckingen ist Saarfels.
Er hat keine 1000 Einwohner und ist seit 1974 ein Ortsteil von Beckingen.
Viel bekommen wir davon nicht zu sehen, denn wir laufen lediglich am Dorfrand entlang und gelangen dann auf einen Trampelpfad unmittelbar am Ufer, den etliche hundert oder tausend Füße hervorgebracht haben.

Flussblicke:
Das Wasser grünlich schimmernd im stetig heller werdenden Sonnenlicht.
Flache, sommergrüne Böschungen.
Brennnesseln und hohes Gras reichen bis ans Wasser heran.
In der Mitte des Flusses die Schatten-Licht-Grenze, aber selbst in den schattigen Bereichen spiegelt sich der Himmel.

Wir rätseln die ganze Zeit, was es mit diesem Trampelpfad auf sich hat und welches Ziel die Leute haben, die ihn benutzen.
Ein Wanderweg ist hier weit und breit keiner in Sicht und es sieht auch ganz und gar nicht so aus, als würde der Pfad irgendwohin führen oder auch nur auf einen anderen Pfad oder eine Straße münden. Ein Spazierweg ist es auch keinesfalls, dafür ist er viel zu schmal und unbequem. Aber dass Leute hier einfach nur hin und her laufen, ist eine so absurde Vorstellung, dass wir diese Erklärung wohl völlig ausschließen können.

Kurz vor Fremersdorf entdecken wir die Lösung des Rätsels.
Oder vielmehr, Jana entdeckt sie.
Ganz plötzlich hört der Trampelpfad auf, so, als würde er in der Erde verschwinden, aber dafür führt eine breite Schneise mitten durch dichtes Gestrüpp die Böschung hinauf zum Rand der Landstraße.
Schräg gegenüber befindet sich der Bahnhaltepunkt Fremersdorf und höchstwahrscheinlich ist dieser denn auch das Ziel der unbekannten Fußgänger.

Der eigentliche Ort Fremersdorf liegt am jenseitigen Saarufer und genau dahin wollen wir jetzt.
Die Fußgängerbrücke, die den Bahnhaltepunkt mit dem Dorf verbindet, wirkt ziemlich in die Jahre gekommen und irgendwie viel kleiner als aus der Entfernung. Von dem erwähnten Trampelpfad aus hatten wir sie nämlich die ganze Zeit im Blick.

Drüben angekommen halten wir Ausschau nach einem Weg, der uns zurück ans Saarufer bringt.
Obgleich man aus verschiedenen Richtungen Verkehrslärm hört, könnte es rein optisch kaum einen stilleren und einsameren Ort geben.
Die Straße ist vollkommen leer.
Kein Auto, kein Fußgänger.
Am Wegrand ein geschlossenes Gasthaus.

Wir müssen nicht lange suchen.
Nur wenige Meter von der Brücke entfernt können wir wieder zum Flussufer abbiegen.
Mittlerweile ist aus dem blassen, grauen Morgen ein sonniger Sommertag geworden. Nirgends auch nur ein Anflug irgendeiner Eintrübung. Die dunklen, die Sonne verdeckenden Wolken sind wie wegradiert. Der Asphaltweg unter unseren Füßen leuchtet wie ein silberner Faden.
Das mögen alles keine elementaren Dinge sein. Man könnte diesen Weg auch an sonnenlosen Wintertagen gehen und sich wohlfühlen, aber so ist es doch angenehmer.

Immer noch ist überraschend wenig los.
Von Zeit zu Zeit begegnet uns ein Radfahrer oder ein einsamer Jogger, das ist alles. Im Laufe der nächsten Stunden nimmt ihre Zahl etwas zu, aber selbst auf dem Kiespfad um die Saarschleife herum werden wir später nur auf wenige Menschen treffen.

Irgendwo vor Merzig legen wir eine erste Rast ein.
Dass nur ein paar Meter entfernt eine Autobahn verläuft, stört uns nicht länger als eine Minute, danach nehmen wir es kaum noch wahr.
Hier sind vorübergehend mal ein paar Radfahrer mehr unterwegs, was sicher damit zu tun hat, dass Merzig immerhin rund 30 000 Einwohner hat und damit die größte Stadt im Umkreis von 20 Kilometern und natürlich auch die größte Stadt des gesamten Landkreises Merzig-Wadern ist.
Die nächstgelegenen Städte mit mehr Einwohnern als Merzig sind Saarlouis im Süden und Trier im Norden von hier.
Wenn wir immer weiter nach Westen wandern würden, kämen wir sehr bald nach Perl und damit in die Gegend, wo Deutschland, Frankreich und Luxemburg ein Dreiländereck bilden.

Nebenbei bemerkt wird Merzig – wie übrigens auch Mettlach – in Karl Mays Riesen-Kolportageroman „Die Liebe des Ulanen“ erwähnt. Die Handlung des Romans wird zwar in dem für die Kolportageromane der damaligen Zeit recht typischen Aufbau teilweise in ferne Länder verlagert, einer der wichtigsten Schauplätze ist jedoch Schloss Ortry in Lothringen zur Zeit des Deutsch-Französischen Krieges 1870/71. Deshalb ist es nicht weiter erstaunlich, dass geografisch benachbarte Regionen und Orte wie der Hunsrück, Trier und eben auch Merzig Erwähnung finden.

Nach ungefähr einer halben Stunde setzen wir unsere Wanderung fort.
Seit die Sonne sich durchgesetzt hat, ist der Weg endgültig ein Traum, wie gemacht für Jana und mich.

Flussblicke:
Ganz ruhig das Wasser, aber nur, wenn man den Blick nirgends verharren lässt.
Im Detail zeigen sich viele kleine Strömungen und viele winzige Wellen, ringsum überall überwältigendes Grün, die Uferböschung ist dicht bewachsen, der Himmel scheint nicht mehr als zehn Zentimeter von den Baumspitzen entfernt zu sein.

Am Wegrand jetzt ausgedehnte Maisfelder, ein Hauch von Mittlerem Westen.
Das Wasser des Flusses schimmert türkis.
Es gibt ein paar Wolken, aber die sehen eher aus wie große Wattebäusche.
Im Mittagslicht ist es beinahe, als bewege sich der Horizont auf uns zu.
Ein schöner Augenblick reiht sich an den nächsten und alle zusammen ergeben eine der großartigsten Wanderungen, die Jana und ich bisher gemacht haben.

Ein Weg kann letztlich nicht wesentlich besser sein als die Landschaft, durch die er führt.
Wenn das hier eine gottverlassene Kraterlandschaft wäre, dann könnte der Weg noch so schön in der Sonne schimmern, wir würden einfach nur schauen, dass wir so schnell wir möglich von hier wegkämen.
Aber manchmal hat man Glück und es passt alles zusammen.
Hier und heute ist das so.

Inmitten all der Begrenzungen, Einschränkungen und Beeinträchtigungen, die das Leben uns auferlegt, ist das Gehen für mich so etwas wie ein unzerstörbares Stück Freiheit.
Es brauchte seine Zeit, bis ich das in seinem vollen Wert erkannte und zu schätzen wusste.
Aber das liegt in der Natur der Sache und es ist gut und richtig, dass es so ist.
Unter anderem bedeutet es nämlich, dass man etwas tun muss, um belohnt zu werden, wenn man es so nennen will, und dass einem nicht alles gleich im ersten Moment, beim ersten Schritt sozusagen, in den Schoß fällt.

Hinter Merzig wird es für eine Weile wieder einsam, aber nicht trostlos einsam, sondern entspannend einsam.
Alles ist im Gleichgewicht.
Überall ruhige, stille Bilder.
Der Fluss, der Himmel, Bäume am Ufer, Maisfelder.
Es gibt keine plötzlichen Übergänge. Veränderungen gehen langsam vonstatten. Alleine schon dadurch wird jeder Ansatz von Hektik im Keim erstickt.
Und das Gehen ist genau die richtige Fortbewegungsart dafür.

Bei Besseringen, einem Stadtteil von Merzig, müssen wir für ein paar hundert Meter wieder auf die andere Flussseite hinüber.
Die Saar hat hier jetzt eine ganz gehörige Breite und ist nicht mehr so schmal, dass man an vielen Stellen einen Hund hinüberwerfen könnte, wie Mark Twain es bei seiner Deutschlandreise über den Neckar gesagt hat.
Längst hat die Saar mittlerweile das Wasser ihrer größten Nebenflüsse aufgenommen, zuletzt bei Rehlingen-Siersburg das der gut 100 Kilometer langen Nied.

Keine zwanzig Minuten später haben wir das Flussufer ein letztes Mal gewechselt.
Die Szenerie könnte idyllischer kaum sein.
In Richtung der langsam tiefer sinkenden Sonne flaches Land, Äcker, Wiesen, alles wie halb hinter einem Vorhang aus samtweichem Nachmittagslicht verborgen.
Ein einsamer Spaziergänger steht mitten auf dem Weg und blickt irgendwohin.
Selbstredend ist der Weg noch immer flach wie eine Strandpromenade.

Wir befinden uns jetzt im Grunde bereits am Beginn der Saarschleife.
Wenn wir durch die Luft gehen könnten, hätten wir von hier aus nur noch vielleicht zwei oder drei Kilometer bis zu unserem Zielort Mettlach vor uns. Dem Lauf der Saar folgend sind es aber immerhin zehn Kilometer.
Von nun an ist es mit Wiesen und Äckern vorbei, an ihre Stelle treten steile, massige Hügelrücken an beiden Flussufern.
In der Ferne erkennen wir bereits den Baumwipfelpfad oberhalb des Aussichtspunktes Cloef.
Unterhalb der Cloef windet sich jener Pfad durch den rund 200 Meter hohen Steilhang, den ich mich vor über fünf Jahren in völliger Verkennung der Umstände trotz meiner Höhenangst hinaufgequält habe, weil ab einem bestimmten Punkt das Umkehren noch übler gewesen wäre.

Vor Dreisbach verläuft der Weg ein, zwei Kilometer an einer Landstraße entlang, was uns aber nicht besonders stört.
Etwas lästiger ist da schon die Passage von Dreisbach bis etwa zum Beginn des Steinbachtals, weil wir da auf der Straße gehen und ein wachsames Auge auf den allerdings sehr spärlichen Autoverkehr haben müssen.

Es gibt aber keine einzige Sekunde auf dieser Wanderung, in der Jana oder ich das Interesse an unserer Umgebung verlieren oder in der wir wünschten, wir hätten uns für eine andere Tour entschieden.
Auch die Streckenlänge von 27 Kilometern haben wir genau richtig gewählt.
Es ist längst beschlossene Sache, dass wir bald noch eine weitere Wanderung entlang der Saar machen werden.

Flussblicke:
Die Hügel reichen bis nahe ans Ufer heran, dazwischen nur der Weg.
Der Fluss wirkt still wie ein Gebirgssee an einem Wintermorgen.
Das Wasser ist dunkel vom Spiegelbild der Bäume und Hügel.
Das ist der Stoff, aus dem schöne Erinnerungen gemacht sind.

Damit beginnt der letzte Abschnitt unserer Wanderung.
Wir traben auf einem Kiesweg unmittelbar unterhalb der Steilhänge vorüber.
Das ist jetzt auch für Jana bekanntes Terrain, denn ein Jahr zuvor sind wir vom Aussichtspunkt Cloef durch das Steinbachtal zur Saar hinuntergewandert und von da dann weiter nach Mettlach spaziert.

Es ist ein schöner, warmer Abend im August.
Stimmen und Lachen schweben in der Luft.
Ein einsames Boot fährt langsam in die Sonne hinein.
Es wird noch lange hell sein, einige Stunden.
Irgendwie liegt aber dennoch bereits eine Ahnung kurzer, kühler Herbsttage in der Luft.

 

3 Comments

  • Roxanne

    Ganz toll. Wie immer bekommt man sofort Lust loszuwandern und zu schauen, ob man das alles so ähnlich sieht, wie im Text beschrieben.

    Roxanne

  • Jana

    Auf diese Wanderung mit dir entlang der Saar hatte ich mich so sehr gefreut, lieber Torsten. Die Erwartungen waren dementsprechend groß und … wurden mehr als erfüllt! Was für eine wunderschöne, entspannende Flusswanderung! Du hast auch diese Wanderung wieder so ausdrucksstark in Szene gesetzt, dass ich sie in Gedanken gleich noch mal genossen habe.
    Demnächst folgt unsere nächste Flusswanderung, der ich auch schon voller Vorfreude entgegenfiebere.

    Liebe Grüße
    Jana

    • gorm

      Es war eine tolle Wanderung, liebe Jana, eine der schönsten überhaupt bisher. Wir sind dabei meistens dem Saarradweg gefolgt, haben aber zwischendurch auch unsere eigene Route gewählt.:-) Ich denke, wenn wir Mitte Oktober auch nur ein bisschen Glück mit dem Wetter haben, dann wird auch die nächste Flusswanderung ein grandioses Erlebnis.

      Liebe Grüße
      Torsten

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