Die Marienwegetappen,  Wandertouren

TOUR 34 – 3. & 4. Tag: Von Lohr nach Rieneck

Dritter Tag.
Seltsam, vor Beginn dieser Tour hatte ich mir durchaus einige Gedanken darüber gemacht, wie ich mich am Morgen des dritten Tages wohl fühlen und ob mich die lange zweite Etappe vielleicht schon vollkommen zermürben und in meine Einzelteile zerlegen würde.
Ich hatte zumindest mit irgendeiner Art von physischer Beeinträchtigung gerechnet, einer winzigen, kaum bemerkbaren Störung. Einem unangenehmen Ziehen in den Oberschenkeln, Schmerzen in den Waden, einer Blase an der Ferse.
Aber stattdessen fühle ich mich so frisch und ausgeruht, als sei ich gerade mal über die Straße zum Brötchenholen gegangen.
Nicht einen einzigen Augenblick lang schlage ich mich an diesem Morgen mit irgendeiner Art von Zweifeln herum.
Ich packe meinen Rucksack und mache mich einfach wieder auf den Weg.

Lohr liegt ein paar Kilometer abseits des Marienweges und ich stelle mir die Frage, ob ich wieder nach Mariabuchen und damit auf den Marienweg zurückkehren soll oder ob ich es vorziehe, am Main entlang nach Gemünden, meinem heutigen Ziel, zu wandern.
Ich lasse die Frage zunächst offen und schaue mir erst einmal in aller Ruhe Lohr an.
Wieder so eine Altstadt, die man jederzeit als Szenerie für einen Film über die Fugger verwenden könnte.

Am Bayersturm vorüber, durch schmale Gassen hindurch, gehe, nein wandele ich bis zum Schloss, und von da wieder zurück zum Bayersturm.
Viele Gassen sind voller flanierender und schlendernder Menschen, aber es gibt auch einige, bei denen man den Eindruck hat, dass irgendein Fluch die Leute davon abhält, sie zu betreten.
Mein Unterbewusstsein, mein Gehirn oder was auch immer hat sich mittlerweile im Übrigen für die zweite Variante – die Mainvariante – entschieden.
Auf den Marienweg werde ich also erst am vierten Tag wieder zurückkehren.

Kurz vor Mittag bin ich am Main.
Ich kann mir heute viel Zeit für alles lassen. Also lasse ich mir auch viel Zeit.
Mehr als einmal halte ich im Gehen inne, trete ganz nahe ans Ufer heran, verharre.
Das Rauschen des Windes vermischt sich mit dem leisen Geräusch winziger Wellen.
Tausende kleiner Lichtpunkte sprenkeln das Wasser.
Das kräftige Grün der Bäume strömt auf mich ein und leuchtet in meinem Kopf weiter als langsam verblassende Projektion.
In der Ferne, jenseits des Flusses, lösen die starren, festen Linien sich auf, die Konturen verschwimmen, zerstäuben.

Ich gehe weiter.
Wiesen, bewaldete Hügel, der Main.
Und dieser nicht enden wollende Asphaltpfad unter meinen Füßen.
Irgendetwas an diesem dritten Tag ist anders als an den Tagen zuvor und nach einer Weile wird mir auch klar, was es ist.
Ganz allmählich – buchstäblich Schritt für Schritt – nähere ich mich der Schwelle zu einer Parallelwelt. Einer Parallelwelt des Gehens, wenn man es so nennen will. Einer Welt, in der es nur noch um das Unterwegssein geht, um das Aufbrechen, um das Ankommen, um Entfernungen, um Zeitspannen.
Ich überschreite diese Schwelle nicht, aber viel fehlt nicht. Mir wird klar, dass vier Tage, zumindest für diesmal, genau das richtige Maß darstellen. Ein fünfter Tag, ein sechster, und es bestünde die Gefahr, tatsächlich in jene Parallelwelt abzudriften.

Mit einem Mal beinahe gleißender Sonnenschein.
Das Wasser des Mains schimmert, als hätte jemand eine Ladung Riesendiamanten hier versenkt.
Und über die Bäume muss jemand containerweise Licht ausgeschüttet haben.
Wenn mein Blick die ganze Weite des Himmels umfasst, habe ich den Eindruck, auf ein riesiges Flussdelta zu schauen und dadurch wirkt es beinahe, als sei jeder meiner Schritte ins Unendliche hinein gerichtet.

Kurz darauf jedoch ist der Himmel wieder so grau wie verwittertes Felsgestein.
Ich laufe an einer Staustufe vorüber und danach eine halbe Stunde – oder eher eine Stunde – unmittelbar an einer Landstraße entlang.
Zur Rechten bietet sich dem Auge wenigstens weiterhin eine ganz nette Landschaft, trotzdem gehe ich jetzt so rasch, dass der Weg nur so verschwindet unter meinen Füßen.

Später windet sich der Pfad zwischen Wiesen und dem Fluss dahin, dann unter einer Eisenbahnbrücke hindurch und an zwei Dörfern vorüber.
Die ganze Zeit ist er so flach wie ein Pfannkuchen.
Ich gehe, laufe, trabe.
Manchmal lugt die Sonne zaghaft hervor, meistens aber verschwindet sie hinter dicken, dunkelgrauen Wolken.

Die letzten Kilometer bis Gemünden.
Der Weg bietet jetzt nichts Erbauliches mehr.
Ich laufe an einer Eisenbahnlinie vorüber, über ein Firmengelände, durch ein Gewerbegebiet.
Dann stehe ich plötzlich auch noch vor einer abgesperrten Großbaustelle, was zur Folge hat, dass aus den letzten zwei Kilometern in der Realität fünf oder sechs werden.
Dafür aber habe ich in anderer Hinsicht Glück, denn mein Weg führt mich rein zufällig an dem Hotel vorüber, in dem ich heute übernachten will und ich muss es also nicht erst suchen.
Am Tag zuvor bin ich in einer nur noch mit allerletztem Restlicht ausgestatteten Dämmerung an meinem Ziel angekommen, heute könnte ich die gesamte Tagesetappe noch einmal hinter mich bringen und dann wäre es wahrscheinlich immer noch heller Tag.

Ich beschließe diesen dritten Tag mit einem kleinen Stadtrundgang durch Gemünden.
Schaue mir die Fachwerkhäuser der Altstadt an, promeniere am Main entlang und steige schließlich auch noch zur Scherenburg hinauf.
Dort oben tue ich ein paar Minuten lang nichts anderes, als über Gemünden und über das stille Land zu schauen und meine Gedanken im Hier und Jetzt zu verankern.
Die letzte Etappe wird mich dann von Gemünden nach Rieneck im Spessart führen.

Vierter Tag.
Irgendwo in mir – wie das ferne Aufleuchten eines verglühenden Sterns – spüre ich neben der Freude auf das Gehen, das Unterwegssein, das Schritt-vor-Schritt-setzen, auch den Wunsch anzukommen und diese viertägige Tour zu einem Abschluss zu bringen.
Die vielfältigen Eindrücke der vergangenen Tage sind zwar sehr gegenwärtig, in erster Linie aber konzentriere ich mich vom ersten Schritt an auf das, was von außen kommt.
Auf den Wind zum Beispiel, der an diesem Morgen nicht mehr ist als ein Hauch von Nichts.  Auf den Straßenverkehr, auf Wegweiser. Und so weiter.

Ich gehe in einen immer heller werdenden Morgen hinein.
Mein erstes Ziel heute ist Kloster Schönau, Wallfahrtsort Nummer sechs des Marienweges.
Gemünden habe ich rasch hinter mir, dann stapfe ich einen knappen Kilometer an der Landstraße entlang, überquere eine Brücke über die Saale und schon befinde ich mich in der schönsten Abgeschiedenheit.
Ein wunderbar blaues, gedämpftes Licht funkelt über dem Wasser, das ganz ruhig und ohne sichtbare Bewegung dahinströmt.
Meine Gedanken, eben noch dahinjagend wie Wolken im Herbststurm, kommen zur Ruhe.

Die ungefähr vier Kilometer bis Kloster Schönau sind rasch zurückgelegt.
Wieder einmal laufe ich über einen Asphaltweg, der lange Zeit nicht die kleinste Steigung aufweist. Erst ganz kurz vor Schönau muss ich ein paar Meter bergan gehen.
Auf dem Gelände des Klosters verbringe ich etwa eine halbe Stunde, schaue mir das Innere der Kirche an, verweile ein wenig am Rande der Wiese unmittelbar neben dem Kloster mit Blick auf die Saale, dann aber setze ich meinen Weg auch schon fort.

Kurz darauf bin ich im Wald.
„Rieneck 7,0 Kilometer“ lese ich auf einem Wegweiser.
Und darüber: „Steinerner Berg“ 1,2 Kilometer.
Das klingt nach einem rasch bevorstehenden Ende der heutigen Etappe und damit auch meiner viertägigen Tour insgesamt.
Es werden allerdings mehr werden als diese 7 Kilometer, viel mehr.

So vertieft bin ich ins Gehen und in ein zielloses Denken, dass ich irgendwann irgendwo eine Abzweigung verpasse und kilometerweit in die Irre marschiere. Erst an der Saale entlang, dann an einem Bahngleis, weiter und weiter.
Aber Irrweg hin oder her, es ist jetzt ein Gehen wie ein Gleiten durch eine andere Dimension.
Die Sonne leuchtet die Landschaft bis in den allerletzten Winkel aus. Alles wirkt plötzlich unglaublich weit und ich bin mittendrin in dieser leuchtenden Weite.
Irgendwann, als ich so gar keine Hoffnung mehr habe, auch nur in der Nähe des Marienweges zu sein, erkundige ich mich dann aber doch nach dem Weg.
Erwartungsgemäß bin ich tatsächlich in die völlig falsche Richtung unterwegs.
Und erwartungsgemäß ist es ein gutes Stück Weges, das ich zurückgehen muss, um wieder auf den Marienweg zu gelangen.

Zwischen mir und meinem Zielort Rieneck befindet sich ein mittelgroßer, bewaldeter Hügel.
Der Weg hinauf zieht sich.
Eine Kurve und noch eine und noch eine.
Das sind fast schon Serpentinen.
Stille senkt sich herab.
Irgendwo ein sanftes Schwirren, kaum hörbar, sonst nichts.
Zwischen den Bäumen hindurch blicke ich auf Wiesen und ein weites Flusstal.

Dann bin ich oben auf der Hügelkuppe.
Vermutlich ist das jener „Steinerne Berg“, den ich eigentlich schon vor Lichtjahren hätte erreichen sollen. Vielleicht aber auch nicht, ich weiß es nicht
Wie auch immer, mehr als zwei Stunden sind vergangen, seit ich auf den Wegweiser gestoßen bin, auf dem „Rieneck 7,0 Kilometer“ geschrieben stand.
Und jetzt stehe ich vor einem weiteren Wegweiser, und auf dem lese ich: „Rieneck Kirche 7,5 Kilometer.“
Ich komme mir vor, als wäre ich zu einem interstellaren Flug zur Erkundung neuer Welten aufgebrochen und nach 20 Jahren vergeblicher Suche unversehens wieder auf die Erde zurückgeschleudert worden.
Aber meine Fassungslosigkeit währt nicht länger als einen einzigen kurzen Augenblick.
Es gibt unveränderbare Gegebenheiten und daraus resultierende Notwendigkeiten und mehr ist eigentlich zu der Situation nicht zu sagen.
Oder doch: Die nächsten Kilometer werden zu den einprägsamsten der gesamten viertägigen Tour gehören.

Denn immer tiefer wandere ich nun in die Stille hinein.
Sie legt sich um meine Schultern wie ein Mantel.
Nur der Wind ist noch da, kaum hörbar.
Ein Rascheln von Blättern, ein sanfter, steter Sog, wie der Atem der Landschaft selbst.
Die Zeit zerspringt in Stücke und setzt sich zu etwas völlig Neuem zusammen.
Ich muss nichts abschütteln, nichts eliminieren, nichts ergründen. Ich streife das alles ab wie eine überflüssige zweite Haut.

Dann der Abstieg hinunter nach Rieneck.
Wenn ich nicht von Zeit zu Zeit ein Wandersymbol an einem Baum erblicken würde, dann bekäme ich Zweifel, ob ich mich wirklich noch auf einem Wanderpfad befinde.
Überall auf dem Pfad Äste und kleine Baumstämme und manchmal eine Passage mitten durch ein in alle möglichen Himmelsrichtungen wucherndes Dickicht.

Im Tal angekommen, trabe ich unter einem tiefen, aber von einem hellen Lichtnetz umsponnenen Himmel an der Sinn vorüber.
Die Sinn ist genau der passende Fluss für mich, denn ihr Name soll auf das Urgermanische „sent“ = „gehen“ zurückzuführen sein und mithin also so etwas wie „die Gehende“ bedeuten.

Von weitem sehe ich Burg Rieneck.
Und für diesmal auch nur von weitem, denn ich wandere nicht nach Rieneck hinein, sondern zu dem ungefähr einen Kilometer von der Stadt entfernten Bahnhof.
Das ist dann wirklich der Abschluss meiner viertägigen Tour.
Ende Mai werde ich wieder hier sein und die nächsten vier Etappen des Marienweges in Angriff nehmen.

10 Comments

  • Jana

    Hach, das war wieder wunderbar zu lesen, lieber Torsten! Lange musste ich auf diese Fortsetzung warten, aber nun wurde ich durch die Beschreibung gleich zweier Tage entschädigt. Wie schön, dass sich deine Befürchtungen hinsichtlich irgendwelcher körperlichen Beeinträchtigungen nicht bestätigt haben. Du bist eben inzwischen schon ein erprobter „Geher“. Tja, und dieser ungeplante Umweg am letzten Tag musste wahrscheinlich einfach wieder sein – so ist das Leben …
    Vielen Dank wieder für deine schönen Beschreibungen und tollen Bilder!

    Liebe Grüße
    Jana

    • gorm

      Hallo liebe Jana, freut mich sehr, dass der Text Dir gefällt!:-)
      Man kann noch so gut vorbereitet sein, die Realität ist letztendlich der Gradmesser. Dass der zweite Tag so völlig problemlos verlief, das war natürlich toll. Auch an den letzten beiden Tagen bin ich alles in allem jeweis mehr als 25 Kilometer gegangen, es war also durchaus hilfreich, nicht schon nach dem zweiten Tag erledigt zu sein.:-)
      Vielen Dank für Deinen schönen Kommentar!:-)
      Liebe Grüße
      Torsten

  • Ursula Dahinden-Florinett

    3. Tag:
    Es ist schön, dass du dich nach den ersten zwei Tagen Gehen trotzdem frisch und zufrieden auf den Weg gemacht hast.
    Es ist eindrücklich dein Verharren mit all‘ deinen Gedanken am Main zu lesen. Die Strecke des Mains von Lohr nach Gmünden muss einzigartig schön sein.
    Ich bin froh, dass du das Aufbrechen, Unterwegssein und Ankommen nicht zu deiner einzigen Zielsetzung gemacht hast. Es wären doch dann einzigartige Gedanken und Beschreibungen deiner Tour verloren gegangen.

    • gorm

      Vielen Dank für Deinen Kommentar, liebe Ursula! Ich glaube, dass eine noch längere Tour beinahe unweigerlich dazu führt, dass man völlig aus dem normalen Alltag herausfällt, und genau das will ich nicht.
      Es gibt sehr schöne Passagen auf dem Weg von Lohr nach Gemünden, aber ehrlicherweise muss ich sagen, dass zumindest der zweite und der vierte Tag schöner waren als dieser dritte. Immerhin bot er einiges an Abwechslung, dadurch dass die beiden Städte in die Tour integriert waren. Ich bereue es auch nicht, vom Marienweg abgewichen zu sein, denn durch die Sperrung einer Mainbrücke bei Gemünden hätte ich in Langenprozelten die Fähre nehmen müssen und wäre dann ohnehin auf den Weg gekommen, für den ich mich jetzt eben von Anfang an entschieden habe.

  • Ursula Dahinden-Florinett

    Tag 4: So eine viertägige Tour erfordert doch Anspannung und Konzentration. Es ist gut nachvollziehbar diese Wanderungen am Abend zu einem Abschluss zu bringen.
    „Nichtsdestotrotz“ erzählst du wieder dein Gehen an der Sinn entlang in der Abgeschiedenheit, dem Aufenthalt im Kloster und deine verpasste (habe ich immer Freude :-)) Abzweigung eindrücklich. Hättest du den direkten Weg genommen, wären mit ja deine einprägsamsten Kilometer deiner Tour entgangen, welche ja deine Wanderung noch abrundeten.
    Deine einzelnen Worte, Sätze, Gedanken in diesen Touren sind wieder spannend in der Gesamtheit deiner Blogs 3 und 4 erzählt.

    • gorm

      Die Sinn ist schon ein sehr bemerkenswerter und auch nicht zu unterschätzender Fluss. Zwar gibt es Passagen, in denen er recht träge und strömungsarm wirkt, aber es gibt auch Abschnitte mit kleinen Stromschnellen, die recht gefährlich werden können.
      Auf diesen letzten, so einprägsamen Kilometern bin ich eben schon in der Abgeschiedenheit des Spessarts gewwandert. Auch die nächsten Etappen Ende Mai werden durch den Spessart führen. Wie großartig das sein kann, wusste ich bereits vorher, da ich den Spessart kenne, aber es wurde mir noch mal sehr eindrucksvoll bestätigt.

  • Caroline

    Deine Art von deiner Reise zu erzählen berührt mich sehr. Es erinnert mich an ein Gemälde von Caspar David Friedrich. Wunderschön.😊

    • gorm

      Es freut mich, dass Dir meine Tourberichte so gefallen.:-) Es ist so, dass mich bloße Wegbeschreibungen nicht zufriedenstellen würden. Gehen ist für mich eben mehr, als mich von einem Punkt A zu einem Punkt B zu bewegen. Vielen Dank für Deinen Kommentar!:-)

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