TOUR 89 – VON OPPENHEIM NACH NACKENHEIM
Mitunter kommt mir der Gedanke, dass man von dem Augenblick an, in dem man loswandert, buchstäblich von einem Atemzug zum nächsten die Welt mit völlig anderen Augen sieht.
So, als würde man eine Art Enthüllungszauber anwenden, der im Handumdrehen bisher verborgen gebliebene Dinge offenbart.
Vielleicht besteht ein Teil der Begeisterung für das Wandern oder Gehen genau darin, dass man diese Trennlinie überschreitet, die Trennlinie zwischen der Alltagswelt übersehener Dinge und der Welt des Unterwegsseins, in welcher man um ein Vielfaches klarsichtiger und aufmerksamer ist.
Oder, ganz simpel – vielleicht ist es einfach so, dass man erst beim Wandern beginnt, richtig hinzuschauen.
Seit der letzten Etappe auf dem Rheinterrassenweg sind ziemlich genau zwei Jahre vergangen.
Damals ein gnadenlos heißer Sommertag, ein Tag, den man vielleicht besser am schattigen Ufer eines Sees hätte verbringen sollen, als stundenlang durch die aufgeheizte Landschaft zu marschieren. Allerdings wurde die Hitze erheblich abgemildert, da in den Weinbergen die ganze Zeit – und zwar wirklich ohne eine Sekunde Unterbrechung – ein frischer und richtig kühler Wind wehte. Kurz vor Ende der Tour setzte dann sogar Regen ein. Heute dagegen ist es vom ersten bis zum letzten Schritt einfach nur heiß. Und es ist eine Hitze, die zu keinem Zeitpunkt schwächer wird, sondern die sich über den Tag hinweg immer mehr aufbaut und sich selbst nach Einbruch der Dunkelheit kaum abschwächt.
Jana, mit der ich auch heute wieder unterwegs bin, richtet sich deshalb ebenso wie ich auf eine Wanderung ein, bei der man versuchen muss, jeden noch so winzigen Schattenstreifen auszunutzen.
Hitze hin oder her, unsere Laune könnte kaum besser sein.
Von Beginn an tragen wir so eine Art innere Gewissheit mit uns, dass wir uns für hier und heute genau die richtige Strecke ausgesucht haben.
Vor uns liegen 15, vielleicht auch 20 Kilometer durch die Weinberge Rheinhessens und im Gegensatz zu den bisherigen Etappen auf dem Rheinterrassenweg dürften wir diesmal auch tatsächlich den Rhein zu Gesicht bekommen und nicht nur irgendein blaues Rauschen kurz vorm Horizont, das aussieht, als wäre da irgendwo ein Fluss.
Vom Bahnhof aus führt die Straße erst einmal ein Stück bergauf.
Es herrscht ziemlich genau die Atmosphäre, die man an einem Vormittag mitten in der Woche erwarten darf – wenig belebte Straßen, geschlossene Geschäfte, und auf der Terrasse eines geöffneten Cafés ein einsamer Morgengast mit einer entfalteten Zeitung in den Händen, der den Eindruck erweckt, als sei er seit Stunden, wenn nicht seit Tagen nicht von seinem Stuhl aufgestanden.
Eines der wirklich guten Dinge am Rheinterrassenweg ist die Anbindung an Bahnhöfe. Man kann alle paar Kilometer vom Hauptpfad abweichen, einem Zuweg in einen am Weg liegenden Ort folgen und dort in den Zug steigen. Das bringt es mit sich, dass man enorm viele Variationsmöglichkeiten hat und völlig problemlos auch spontan Änderungen im Ablauf vornehmen kann, etwas, das uns beiden sehr entgegenkommt, da wir allzu viele Festlegungen verabscheuen.
Auf heute bezogen bedeutet dies, dass wir die Tour in Nierstein, Nackenheim oder in Bodenheim beenden können, ganz wie wir wollen.
Es dauert nur wenige Minuten und wir befinden uns bereits oberhalb Oppenheims in den Weinbergen.
Man sieht auf den ersten Blick, dass das hier eine andere Kategorie von Weinbergen ist als diejenigen, die bisher auf dem Rheinterrassenweg vorzufinden waren. Sie sind erheblich höher und auch steiler.
Wir laufen eine Kuppe hinauf und haben dann in so ziemlich alle Richtungen freie Sicht.
Die Landschaft ist hell und voller Licht.
Zwischen den Weinflächen bis ganz zum Horizont eine in der Sonne beinahe weiß leuchtende Wegenaht. Links und rechts davon nichts als Grün. Der Blick kann den Weg nicht ganz einfangen, weil die Krümmungen und Schleifen, die er bildet, an vielen Stellen unter dem Grün verschwinden.
Unmittelbar unterhalb von uns die Katharinenkirche, die im Vergleich zu den Gebäuden um sie herum beinahe unwirklich riesenhaft wirkt.
Die Kirche hat etwas mit dem Heidelberger Schloss gemeinsam, nämlich, dass sie im Pfälzischen Erbfolgekrieg von französischen Truppen zerstört wurde.
Anders als das Schloss wurde sie irgendwann zwar wieder aufgebaut, aber natürlich hatte der Neubau nicht mehr allzu viel mit dem ursprünglichen Erscheinungsbild der Kirche gemein.
Ein ganz spezieller Teil der Kirche aber soll noch beinahe in seinem ursprünglichen Zustand vorhanden sein, nämlich die sogenannte Oppenheimer Rose, eines der Kirchenfenster.
Es liegt auf der Hand, dass der Gestaltung von Kirchenfenstern im Hochmittelalter eine besondere Bedeutung zukam. Zumindest gilt das für viele große Kirchengebäude.
In Notre-Dame-de-Chartres beispielsweise wurden im 11. und 12. Jahrhundert nach und nach sage und schreibe insgesamt 176 Fenster geschaffen, und zwar nicht irgendwelche funktionalen Luken oder Löcher, sondern mit leuchtenden Glasmalereien versehene Kunstwerke.
Wie die Fenster der Kathedrale von Chartres sind auch viele der Kirchenfenster der Katharinenkirche gotischen Ursprungs.
Die erwähnte Oppenheimer Rose stammt vom Beginn des 14. Jahrhunderts und die Geschichte ihrer Entstehung endete mit dem Tod ihres namenlosen Erschaffers, eines Lehrlings oder vielleicht auch Gesellen, dem die Gestaltung von dem eigentlich mit der Arbeit beauftragten Meister aus Zeitmangel übertragen worden war.
Nach Fertigstellung des Fensters, so die Überlieferung, stürzte der Lehrling, von einem Faustschlag des Meisters aus dem Gleichgewicht gebracht, vom Gerüst.
Der Grund für den Faustschlag kann dem Dunkel der Vergangenheit nicht mehr so recht entrissen werden. Es mag Eifersucht auf die Fertigkeiten des Lehrlings gewesen sein, es mag im Gegenteil die Wut über eine vermeintlich unzulängliche Arbeit gewesen sein, klar ist jedenfalls, dass der Gestürzte seinen Verletzungen erlag.
Immerhin – sein Werk besteht fort, selbst nach Jahrhunderten. Das ist mehr, als man von den meisten Menschen sagen kann.
Wir lassen Oppenheim und alle düsteren Geschichten des Mittelalters jetzt aber hinter uns und wandern in die Weinberge hinein.
Es ist immer noch Sommer und das spürt man in jedem Augenblick.
Wir gehen wie durch einen Raum, der sich immer mehr erweitert. Mit jedem neuen Schritt, jedem neuen Blick verschiebt sich der Horizont ein kleines Stück.
Weinberge, mitunter ein paar Büsche am Wegrand, ab und zu wie in die Luft hineingeschnitten ein Einzelkämpfer von Baum auf einer Anhöhe.
Um uns herum sammelt sich allmählich Stille an, eine beiläufige, für kleine Geräusche durchlässige Mittagsstille.
Von Zeit zu Zeit wandern wir über eine kleine Kuppe hinweg, meistens aber ist der Weg flach wie eine Tischplatte und von beschwerlich kann überhaupt keine Rede sein.
Alles andere hätte uns auch sehr überrascht.
Jana entdeckt einen Hagebuttenstrauch am Wegrand und fotografiert ihn.
Die Weinberge sind zwar das bestimmende, alles vereinnahmende Element, aber ein paar andere Dinge gibt es doch noch.
Irgendwann kurz nach Mittag stehen wir auf einem Plateau.
Mitten im Wind und im Licht.
Der Himmel ist riesig.
Die Weinberge nehmen mit einem Mal nur noch den Vordergrund ein, der Rest sind Dörfer, Hügel und weit hinten ein paar zerklüftete Wolkeninseln.
Hier oben biegt der Weg im rechten Winkel ab und plötzlich sehen wir eine traumhafte Szenerie vor uns.
Ein Bild aus Blau und Grün und Weiß, perfekt zusammenwirkend.
Im Tal, am Fuß der Weinhänge, eine kleine Stadt.
Dahinter eine Ebene aus schraffierten, unterschiedlich großen Feldern und Weinflächen, dahinter unscharfe, kilometerlange Hügelwellen, dahinter blaues Rauschen.
Und irgendwo mittendrin der Rhein.
Von unserem Standpunkt aus könnte man meinen, dass es sich um einen kleinen See handelt, denn wir sehen lediglich einen winzigen Ausschnitt des Flusses.
Wir schlagen erst einmal fünf Minuten Wurzeln und lassen die Details auf uns wirken.
Man kann noch so viele Wanderungen gemacht haben, letztlich ist jede Tour auf ihre Weise neu und einzigartig.
Das hat sein Gutes, denn so bietet das Erkunden der Welt zu Fuß ein unerschöpfliches Reservoir an Wegen und an Eindrücken.
Wie auch immer, von diesem Moment an ist die heutige Etappe für uns beide die bisher mit Abstand schönste auf dem Rheinterrassenweg.
Die Stadt im Tal ist im Übrigen Nierstein, genau wie Oppenheim und so ziemlich alle Dörfer und Städte ringsum ein Weinort.
In 133 von 136 Gemeinden Rheinhessens wird Weinbau betrieben.
Es ist also wohl kaum übertrieben, Wein als allgegenwärtig in dieser Region zu bezeichnen.
Nierstein entpuppt sich als größer, als es von oben ausgesehen hat.
Wir laufen eine schier endlose Straße entlang, die sich gerade wie eine Ackerfurche durch die Stadt zieht. Erst an einem Bahnübergang, der den Eindruck erweckt, als würde dahinter die Mojavewüste beginnen, dringt allmählich die Erkenntnis in unser Bewusstsein, dass wir einen falschen Weg eingeschlagen haben.
Zwei Minuten zögern wir das Unvermeidliche zwar noch hinaus, aber es bleibt uns nichts anderes übrig, als umzukehren.
Von nun an passen wir besser auf, wohin wir unsere Schritte lenken.
Der Umweg bringt es mit sich, dass es ziemlich lange dauert, bis wir Nierstein endlich hinter uns haben.
Nicht dass es ein hässlicher Ort wäre, ganz im Gegenteil, aber es zieht uns wieder in die Weite der Weinberge.
Die 30-Grad-Marke ist mittlerweile sicher längst überschritten.
So gut wie kein Wind, aber immerhin ein paar Wolken.
Wir haben aber kein Problem mit der Hitze. Ein paar Grad weniger wären zwar angenehm, aber wir wussten schließlich, was uns erwartet.
Unmittelbar hinter Nierstein durchwandern wir so eine Art Hohlweg, von denen es ja auf den vorhergehenden Etappen mehr als genug gegeben hat und die so etwas wie eines der Wahrzeichen des Rheinterrassenweges sind.
Es sind allerdings nur ein paar wenige Meter und es bleibt heute auch der einzige Hohlweg.
Der Pfad führt nun wieder in die Weinberge.
Es ist wunderbar hell.
Es ist eine Helligkeit, die weit entfernt davon ist, den Augen wehzutun. Die Rebstöcke sind wie Schattenwände, die das Licht abschwächen, aber irgendwann ist zu viel Raum dazwischen und es gibt nur noch den Weg und die Sonne.
Je höher wir kommen, desto mehr wird der Rhein zum Mittelpunkt.
Erst sehen wir ihn halb versteckt hinter hohen Rebstöcken, aber kaum sind wir so weit oben, dass wir über die Ebene hinwegblicken können, bleibt er bis kurz vor dem Ende der Etappe stets sichtbar.
Früher Nachmittag.
Man hat den Eindruck, dass man sogar noch etwas weiter sehen kann als am Vormittag.
Irgendwo weit hinten lösen sich aus der weißen Gischt des Horizonts feste Konturen – ein einzelner Hügelkamm, der vorher nur zu erahnen war.
In dem Blau über der Ebene treiben Wolken wie Packeisfelder.
Das stillste und zugleich schönste Bild des Tages ist der Blick vom sogenannten Roten Hang hinab auf Nierstein.
Es ist ein Bild wie ein lebendig gewordenes Gemälde aus dem 18. Jahrhundert.
Um das hinzubekommen, ist das Zusammenwirken mehrerer Elemente notwendig: der saphirblau schimmernde Fluss, die zwischen die Weinhänge eingebetteten Häuser, die weiße Fassade der Kirche St. Martin, die Ebene jenseits des Stroms.
Jedes einzelne dieser Elemente ist wichtig für den Gesamteindruck, aber es ist der Rhein, der als einziges völlig unverzichtbar dafür ist.
Am liebsten würde man durch die Luft spazieren.
Der Anblick bleibt uns noch eine kleine Weile erhalten, denn wir wandern noch ein Stück höher hinauf.
Der Rote Hang hat natürlich auch wieder mit Wein zu tun, denn es ist eines der Weinbaugebiete in dieser Gegend.
Seine geologische Entstehungsgeschichte reicht allerdings in eine Zeit zurück, als noch niemand existierte, der auch nur daran denken konnte, Wein anzubauen, nämlich ins mehr als 250 Millionen Jahre zurückliegende Perm.
Wir wandern weiter durch die Weinberge, den Rhein immer zu unserer Rechten, ungefähr hundert Meter unterhalb von uns. Das Wasser hat die ganze Zeit diesen fast unwirklich blauen Schimmer, dazu diese weite Ebene, in der selbst das Nahe fern wirkt, aber alles seinen Platz hat – die Wege und Straßen, die Weinberge, der Fluss, der Horizont.
Durch den Umweg in Nierstein sind ein paar Kilometer mehr zustandegekommen, als wir vorher erwartet hatten. Unter anderem deshalb beschließen wir, die Wanderung in Nackenheim zu beenden und nicht erst in Bodenheim.
Drei Bilder prägen sich mir bis zu unserer Ankunft am Bahnsteig in Nackenheim noch so genau ein, als würde ich eine gestochen scharfe Fotografie betrachten.
Erstes Bild: Wieder der Fluss und die Ebene, eine im Vergleich zum Fluss sehr schmale Landstraße, alles sehr sommerlich, aber im Vordergrund ein Hagebuttenstrauch mit einigen schon herbstgelben Blättern.
Zweites Bild: Im Zentrum wieder der Fluss, überall Wege und Straßen, die ziemlich genau seinem Lauf zu folgen scheinen, in der Ferne irgendwo, aber doch zum Greifen nah die Skyline von Frankfurt.
Drittes Bild: Der über die Weinberge hinausragende Turm der Kirche St. Gereon in Nackenheim, im weiten Umkreis, wohin man den Blick auch richtet, alles ganz ruhig, eine verwaiste Landschaft, ein leerer, stiller Horizont.
Das ist beinahe der Abschluss.
Anderthalb oder zwei Kilometer müssen wir noch durch Nackenheim laufen, um zum Bahnhof zu gelangen.
Alles in allem haben wir heute etwa 20 Kilometer zurückgelegt, nicht exorbitant viel, aber auch nicht gerade wenig.
Und ein Ziel zu erreichen, sei es auch im Kleinen, ist immer ein gutes Gefühl.
One Comment
Anonymous
Wieder eine schöne und dichte Beschreibung.
Auffällig ist, dass es auf dem Rheinterrassenweg offensichtlich keinen Meter Wald gibt, was für mich bei einer Wanderung eigentlich ein Ausschlusskriterium wäre. Allerdings sind die Blicke hinunter auf den Rhein schon richtig toll.
Roxanne