Wandertouren

TOUR 88 – HANAU-STEINHEIM/DIETESHEIMER STEINBRÜCHE

Es sind nicht immer nur die besonders ins Auge fallenden, vordergründig schönsten Stellen, die einen Abdruck in meiner Erinnerung hinterlassen. Oft genug sind es auch die eher verborgenen, stillen, manchmal beinahe unscheinbaren Orte, die mir dauerhaft und unverrückbar im Gedächtnis bleiben, und zwar nicht etwa nur als verwaschene, sich allmählich auflösende Silhouette, sondern deutlich wie am Tag danach, einen zeitlosen Zauber ausübend.

Auch auf meiner heutigen Wanderung mit Jana von Hanau-Steinheim am Main entlang und zu den Dietesheimer Steinbrüchen gibt es ein paar Situationen, die zu solch einer unauslöschlichen Erinnerung werden könnten.
Eine davon ist der Blick – buchstäblich im Vorbeigehen – auf das Olof-Palme-Haus in Kesselstadt.
Schon der allererste flüchtige Eindruck, noch ehe man überhaupt einen konkreten Gedanken gedacht hat, ist der, dass dieses Haus in eine andere, lange zurückliegende Zeit gehört. Man könnte sich ohne Schwierigkeiten vorstellen, dass hier irgendein Adelsroman des frühen 19. Jahrhunderts spielt.
Ein Teil des Gebäudes ist hinter Bäumen verborgen, und der Park, der es umgibt, wirkt wie eine Schutzzone, die alles, was bedrohlich sein könnte, fernhält.

Trotz allem bin ich überrascht, dass die Geschichte dieses Hauses fast bis zum Dreißigjährigen Krieg, also beinahe vierhundert Jahre, zurückreicht.
Weniger überraschend ist die Tatsache, dass es im Laufe der Zeit Adligen und reichen Bürgern als Wohnsitz gedient und dass sich nach Ende des 2. Weltkriegs der Kommandant der US-Streitkräfte für 20 Jahre hier eingerichtet hat.

Gegen zehn Uhr morgens wandern wir los.
Der Spätsommer steht in den Startlöchern.
Obwohl der Himmel noch weit und groß und sommerlich ist, spürt und sieht man es.
Es ist diese Ahnung von kürzeren Tagen, von letzten warmen, hellen Abenden, von einer enger und dunkler wirkenden Welt.
Mehr als eine Ahnung ist es allerdings wirklich noch nicht.
Wie auch, wenn es schon morgens um zehn auf 30 Grad Lufttemperatur zugeht.
Der Horizont ist wie eine gläserne Wand, in der sich die Farben des Sommers spiegeln.
Wohin man auch schaut, überall ist alles in mikroskopischer Schärfe herausgearbeitet, wodurch ein Nebeneinander plastischer Einzelheiten entsteht, die zugleich aber zusammenpassen wie Puzzleteile.

Wir müssen uns erst einmal orientieren.
Auf der Karte des Wanderführers, den Jana mitgenommen hat, sieht es so aus, als müssten wir nur eine Brücke überqueren und könnten danach eine Weile unmittelbar am Main entlangwandern, aber ganz so ist es nicht.
Die Brücke – eine im Grunde aus drei verschiedenen Brücken bestehende Konstruktion – ist zwar da und der Main ebenfalls, aber nach Überquerung der Brücke führt der Weg nicht direkt am Ufer entlang, sondern hält sich immer ein Stück davon entfernt, manchmal nur durch eine Wiese vom Fluss getrennt, manchmal aber auch durch Wohnhäuser und Gärten.

Jana, die es liebt, unmittelbar an Flüssen entlangzulaufen, hatte sich auch hier und heute ein paar Kilometer direkt am Main entlang erhofft, aber wahrscheinlich müssen wir einfach nur ein wenig Geduld aufbringen, bis es so weit ist.
Immerhin können wir an einer Stelle ganz nahe ans Ufer herantreten.
Das Wasser ist beinahe ohne jede Bewegung, wie ein See, auf den man von weit oben hinabblickt.
Auf der gegenüberliegenden Uferseite liegen ein paar vertäute Yachten.
Eine weiße Wolkenwelt spiegelt sich im Fluss.

Dass der Weg kein Leinpfad ist, stört uns nicht weiter, denn er ist trotzdem ganz nach unserem Geschmack. Er ist breit genug für Geher und Radfahrer, er ist flach wie ein holländischer Radweg und man kommt darauf voran, als ob man sich auf Rollschuhen bewegen würde.
Ich persönlich rechne damit, dass wir erst nach fünf oder sechs Kilometern wieder auf die andere Mainseite wechseln, und das ist auch tatsächlich der Fall.
Aber schon nach nicht einmal einer halben Stunde überqueren wir trotzdem eine Brücke, jedoch nicht über den Main, sondern über die wesentlich kleinere und schmalere Kinzig, die mit den weit und tief übers Wasser sich neigenden Bäumen so ein wenig wie ein Altarm eines größeren Flusses wirkt.

Wir sind jetzt in Kesselstadt, genau wie unser Ausgangspunkt Steinheim seit langer Zeit ein Stadtteil von Hanau.
Die „halbländliche Stille“, die Karl Gutzkow im Jahre 1866 hier ausgemacht hat, ist irgendwie immer noch vorhanden.
Gutzkow verbrachte knapp drei Jahre in einem mittlerweile abgerissenen Haus in der Philippsruher Allee.
In seinem bewegten Leben ist Kesselstadt nur eine von zahllosen Stationen, aber in all dem „Gewirr von Kampf und Polemik“, wie schon 1908 der Literaturwissenschaftler Heinrich Hubert Houben Gutzkows Wirken umschrieb, stellt Kesselstadt so etwas wie eine Insel der Ruhe dar.
Notgedrungen, denn Gutzkow litt an paranoiden Anfällen und Wahnvorstellungen, denen er durch den Rückzug den Nährboden zu entziehen hoffte.

Zurück in die Gegenwart.
Wenn wir einfach geradeaus weitergingen, kämen wir auf direktem Wege zu Schloss Philippsruhe, einem Barockbau, dessen Erscheinungsbild sich jedoch durch Umbauten nach und nach verändert hat, wie es im Grunde ja bei so ziemlich allen Schlössern der Fall ist.

Wir ziehen es aber vor, einen kleinen Umweg zu machen, der uns endlich direkt ans Mainufer bringt.
Von jetzt auf gleich verändert sich die Atmosphäre, als würden wir in einem Raum sitzen und plötzlich wären das Dach und die Außenwände einfach weg.
Die Weite des Flusses, die Weite des Himmels ergänzen einander.

Von irgendwoher taucht der Gedanke auf, dass man manche Dinge tausendmal betrachten könnte und dennoch würde man nie genug davon bekommen.
Es ist ein träger, nicht wirklich zu Ende gedachter Gedanke.
Aber wahrscheinlich ist ziemlich viel Wahres dran.
Eine Variation lautet: Wenn man jeden Moment einer Wanderung später noch einmal erleben würde, dann fielen einem vielleicht ganz andere Dinge auf, ungefähr so, als würde man sich zum zweiten Mal einen Film ansehen.

Bevor wir weiter am Main entlanglaufen, streifen wir zunächst über das nicht gerade kleine Gelände von Schloss Philippsruhe.
Die für den Nachmittag angekündigte 35-Grad-Hitze ist zwar immer noch ein paar Stunden entfernt, aber es ist mittlerweile doch so warm geworden, dass wir um jeden Zentimeter Schatten froh sind, den wir auftreiben können.
Einen besseren Ort als den Schlosspark mit seinen vielen Bäumen können wir deshalb im Moment kaum finden.
Jana weiß durch die Lektüre des Wanderführers bereits, wie weitläufig der Park ist, während ich davon ziemlich überrascht bin, denn ich hatte kaum mehr erwartet als einen etwas größeren Vorgarten.

Nach einer guten halben Stunde sind wir wieder am Main.
Ein ganz leichter Wind streicht übers Wasser, der wenigstens ein bisschen Abkühlung mitbringt.
Die Wasseroberfläche ist nicht glatt. Überall gibt es winzige Wellen und kaum sichtbare Strudel.
Der Himmel ist wie eine durchsichtige Folie.
Wenn man für einen Moment die Augen schließt, dann bleibt ein Teil des Schimmerns hinter den geschlossenen Lidern bestehen.

Der Bereich unmittelbar am Fluss ist, wie wir leider feststellen müssen, Mückengebiet. Später im Hotel entdecke ich, dass mein linker Oberarm exakt fünfzehn Stiche aufweist, so dicht nebeneinander liegend, dass sie beinahe aussehen wie eine blutrote Naht. Jana ergeht es nicht viel besser.
Vorläufig aber merken wir von den Stichen gar nichts und deshalb ist es im Augenblick noch so, als ob sie gar nicht vorhanden wären.

Der Main prägt die nächsten ein, zwei Kilometer.
Aus zwanzig oder dreißig Schritten Entfernung sieht er aus wie eine unbewegliche, ruhige Fläche, fast wie eine ebene Platte, aber sobald wir uns dem Uferbereich nähern, löst sich die scheinbare Starre in winzige Bewegungen auf.
In Ufernähe ist das Wasser flach und hell, auf dem Grund liegen schwere Steine, die teilweise über die Wasseroberfläche hinausragen, aber schon ein, zwei Meter weg vom Ufer erscheint das Wasser so dunkel, dass sich überhaupt nicht abschätzen lässt, wie tief es ist.

Wir befinden uns hier etwa bei Mainkilometer 57, mit anderen Worten ca. 57 Kilometer von der Mündung des Mains in den Rhein bei Mainz-Kostheim entfernt.
Bis hierher hatte der Main also immerhin gut 450 Kilometer Zeit, das Wasser aller möglichen Nebenflüsse aufzunehmen und zu einem richtig breiten Fluss zu werden.

In früheren, gar nicht einmal so lange zurückliegenden Zeiten existierte eine solche Einteilung in Flusskilometer noch nicht, schlicht und ergreifend deshalb, weil die technischen Voraussetzungen dafür fehlten. Aber selbst wenn es sie gegeben hätte, wäre sie bis weit ins 19. Jahrhundert hinein an der territorialen Aufsplitterung Deutschlands und den damit einhergehenden Unterschieden bei Maßeinheiten gescheitert.
Nicht nur dass beispielsweise Bayern sein eigenes Maßsystem zugrundelegte, auch innerhalb Bayerns gab es mehrere unterschiedliche Herangehensweisen.
Solange nichts Einheitliches existierte, berechneten die Schiffer die Entfernungen auf den Flüssen mehr schlecht als recht nach Wegstunden, was naturgemäß mit einer gewissen Ungenauigkeit behaftet war.

Eine kurze Sekunde lang entsteht vor meinem inneren Auge das Bild einer Gruppe ausgelaugter Männer, die unter Aufbietung aller Kräfte einen schwer beladenen Kahn stromaufwärts ziehen.
Der Gedanke allein bringt mich schon fast ins Schwitzen.

Der Asphaltweg, auf dem wir wandern, ist immer noch so flach, dass von Schloss Philippsruhe bis zur Staustufe Mühlheim kein einziger Höhenmeter zustandekommt.
Die Treppe hoch zur Schleusenbrücke ist ohnehin der mit Abstand längste Anstieg des Tages.
Es ist auf der gesamten Strecke ein völlig entspanntes Gehen, genau das Richtige für einen solchen Hitzetag.

Nach der Überquerung der Schleusenbrücke ist der Main Geschichte, was der Wanderung allerdings keinen Abbruch tut.
Auch dass wir ein kurzes Stück auf einem Fußweg an der Landstraße entlangwandern müssen, stört weder Jana noch mich.

Es ist jetzt früher Nachmittag.
In der prallen Sonne hat die Hitze mittlerweile provenzalisches Niveau erreicht. Die Schatten der Bäume am Wegrand mildern sie allerdings erheblich ab – wenn sie denn vorhanden sind.
Zwischen der Staustufe Mühlheim und dem Vogelsberger See, unserem nächsten Zwischenziel, gibt es jedoch so gut wie keinen Baum.
Die Sonne ist ein weißes Rad über einer flimmernden Landschaft.
Zerfaserte Wolkenschnüre am stillen Himmel.
Die Regentage vom Juli liegen lange zurück. Man sieht auf den ersten Blick, dass es an Feuchtigkeit fehlt. Die Böden sind knochentrocken. Die Spitzen der Grashalme sind gelb, aber an vielen Stellen gibt es nicht einmal mehr Gras.

Wir nähern uns dem Vogelsberger See, einem von mehreren Seen eines Naherholungsgebietes, das hier nach der Einstellung des Basaltabbaus Anfang der 1980er Jahre entstanden ist.
Viel bekommen wir von dem See zunächst nicht mit.
Ganz zu Beginn erhaschen wir einen Blick darauf, bei dem ich mich nicht so recht entscheiden kann, ob das, was ich sehe, eher beklemmend oder eher idyllisch auf mich wirkt.
Danach führt der Pfad aber erst einmal weg vom See, zwischen dicht nebeneinander stehenden Bäumen hindurch und an strohgelben, abgeernteten Feldern vorüber, manchmal aber sogar an richtigen Blumenwiesen.
Sommergeräusche: Vogelgezwitscher, Stimmen und Lachen.
Die Wege sind gar nicht einmal so sehr bevölkert, aber man merkt doch, dass es Samstagnachmittag ist und dass viele Leute frei haben. Wir dürften so ziemlich die Einzigen sein, die den See nur als Durchgangsstation betrachten, für den Rest ist der See offenbar das endgültige Ziel.

Je länger wir über die verzweigten Pfade rund um den See wandern, desto mehr verfestigt sich der Eindruck, dass es uns in eine Art kleines Naturparadies verschlagen hat.
Schroffe, zerfurchte, teilweise fast klippenartige Steilhänge, in Besitz genommen von verschiedenen Baumarten und sonstigen Gewächsen, das an manchen Stellen türkisblaue Wasser zehn, fünfzehn Meter tief in einer kesselartigen Schlucht, mittendrin eine Insel, die aussieht wie ein riesengroßer Pilz, alles wirkt urwüchsig schön, nicht riesig, nicht fremdartig, aber trotzdem eindrucksvoll.
Man sollte sich das Staunen eben nicht nur für die ganz großen Dinge aufheben, nicht nur für jene, bei denen es einem den Atem verschlägt und bei denen es irgendwie nichts Besonderes ist, ins Staunen zu geraten.

Wenn man das gesamte Areal aus der Vogelperspektive betrachten würde, dann sähe man vermutlich eine Kette von Gewässern, durchwirkt von vielen Wegen und Pfadschlingen.
Die größte Attraktion ist für die meisten wohl die Canyonbrücke, die eine vielleicht sechs oder sieben Meter breite Lücke zwischen zwei Felsen überspannt.
Es ist eine der ganz wenigen Stellen, von denen aus man eine völlig ungehinderte Sicht auf den Vogelsberger See hat und dementsprechend viele Leute tummeln sich dort.

Keine Ahnung, ob die Wanderung stark oder eher wenig von unseren Erwartungen abgewichen ist, aber eins steht fest – mehr an Abwechslung, als wir sie heute erlebt haben, lässt sich in eine Tour von 15 Kilometern kaum einbauen.

Sogar Wald kommt auf den ein, zwei Kilometern vom See nach Steinheim noch hinzu.
Es herrscht eine windlose, träge Hitze, nur dass die Bäume viel davon fernhalten.
Es ist ein erstaunlich stiller und einsamer Wald.
Von gelegentlichen Radfahrern abgesehen, begegnen wir bis rund 100 Meter vor Steinheim niemandem. Dann erst kommen uns ein paar Spaziergänger entgegen, die wahrscheinlich auch den Vogelsberger See zum Ziel haben.

Die letzten anderthalb Kilometer laufen wir bei sengender Sonne durch die Straßen von Steinheim.
Ob es wirklich 35 Grad sind wie angekündigt oder doch etwas weniger, lässt sich schwer sagen.
Aber es macht uns jetzt, so kurz vor dem Ziel, ohnehin nichts mehr aus.

4 Comments

  • Mata

    Ich finde es schön und interessant, dass nach und nach immer neue Gebiete dazukommen. In dieser Hinsicht sind auch die Stadtansichten gut. Herzstück des Blogs bleiben natürlich deine Texte, von denen wir hier wieder ein sehr gelungenes Beispiel haben.

    Gruß, Mata

    • gorm

      Vielen Dank für den Kommentar, es freut mich, dass der Blog dir gefällt.:-) Was die Gegenden betrifft – da bin ich immer bemüht, neue zu erschließen. Es wird zum Beispiel höchste Zeit, dass mal eine Wanderung in NRW hinzukommt oder auch eine in den „neuen“ Bundesländern.

      Beste Grüße
      Torsten

  • Jana

    Das war mal wieder eine Tour, die uns wegen ihrer Abwechslung sehr gefallen hat. Es gab viel zu sehen auf diesen 15 Kilometern – vom Olof-Palme-Haus über das beeindruckende Schloss Phillipsruhe bis zum Naherholungsgebiet Dietesheimer Steinbrüche. Nur auf die Mückenstiche hätten wir gut verzichten können.
    Es macht einfach Spaß, neue Gegenden zu erkunden. Und dir ist es erneut gelungen, unsere Wanderung sehr bildhaft und ausdrucksstark zu beschreiben.

    Liebe Grüße
    Jana

    • gorm

      Hallo, liebe Jana.:-)
      Du warst es ja, die diese Wanderung ausgesucht hat. Ich denke mal, eine bessere hätten wir für diesen Hitzetag kaum finden können. Höhenmeter praktisch nicht vorhanden, es gab viel zu sehen und auf den Wegen entlang des Mains und um den Vogelsberger See kam die Freude am Gehen, an der Bewegung auch nicht zu kurz. Fazit – alles rundum gelungen.:-)

      Liebe Grüße
      Torsten

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