Die Marienwegetappen,  Wandertouren

TOUR 53/1. TAG: VON SODEN NACH KLEINWALLSTADT

Die ersten Tage des Sommers sind nicht mehr fern.
Hell, klar, licht, beinahe durchsichtig ist der Himmel, nur irgendwo am Rand ein Schatten von unnachgiebigem Grau.
Es ist beinahe Mittag.
Ein letzter Rest nächtlicher Stille ist noch übriggeblieben, allmählich zerfallend wie die verwitterte Spur einer alten, unbekannten Schrift.

Kurze Bestandsaufnahme: Ich bin in Soden, unweit von Aschaffenburg, wo ich irgendwann im August des vergangenen Jahres – an einem Tag, der ähnlich hell und warm gewesen ist wie der heutige – Etappe Nummer 10 meiner Marienwegtour beendet habe. In den Tagen danach folgten damals noch die Etappen 11 bis 13, die mich von Würzburg nach Marktbreit führten. Die Lücke zwischen Soden und Würzburg, die sich daraus ergeben hat, ist zu schließen, und an diesem strahlenden und von irgendeinem Tag im Hochsommer nicht zu unterscheidenden Maitag beginne ich damit.

Das Etappenziel für heute ist Kleinwallstadt, was alles in allem etwa 20 Kilometer sein dürften.
Für den späten Nachmittag ist Regen vorausgesagt. Kein Problem, solange es sich nicht um einen Regen handelt, der binnen Minuten aus einem staubtrockenen, unscheinbaren Waldpfad eine Kneippanlage macht. Und solange sich kein Gewitter hinzugesellt.

Ich wandere los, zum Ort hinaus in den Wald hinein.
Es dauert zehn Minuten.
Zehn Minuten, bis ich die Bewegung, den Rhythmus des Wanderns als so selbstverständlich empfinde, als sei ich bereits stundenlang unterwegs.
Es dauert zwanzig Minuten.
Zwanzig Minuten, bis ich den Eindruck habe, dass ein Hauch des schimmernden Mittagshimmels und des sanften Waldgrüns gleichsam in meinem Atem mitströmt und mir bewusst wird, dass es außer dem Rauschen sich im Wind wiegender Baumwipfel kein Geräusch mehr gibt. Unwillkürlich bleibe ich stehen und ein paar federleichte Augenblicke lang lausche ich in die Stille hinein.

Dann wandere ich weiter.
Der Weg ist breit und es gibt so gut wie keine Steigungen.
Wohin mein Blick auch fällt, überall Licht. Selbst die Schatten am Rande des Weges und zwischen den Stämmen der Bäume wirken hell.

Eine Wegkreuzung.
Nach so ziemlich allen möglichen Richtungen zweigen Pfade ab. Schräg gegenüber eine gar nicht mal so kleine Kapelle. Es handelt sich um Wallfahrtsstätte Nummer 12 des Marienweges, „Maria Frieden“. Das bedeutet, ich bin bereits auf der Höhe des Aschaffenburger Stadtteils Obernau.
Auf einem der zahlreichen Wegweiser, die ich hier entdecke, sehe ich auch tatsächlich den Hinweis: „Obernau 1,5 Kilometer“.

Der Weg nach Obernau führt nach rechts, ich dagegen gehe geradeaus weiter.
Der stille Mittag summt sein Frühlingslied vom grünen Rauschen der Baumwipfel und von den schweigenden Schatten.
Kniehohes Gras am Wegrand, manchmal ein paar niedrige Sträucher.
Das Sonnenlicht wandert an den Stämmen der Bäume entlang immer tiefer, es ergießt sich über die grauen Wurzelstränge, überflutet den Waldboden wie ein kleiner See.

Schnurgerade zieht der Weg sich durch den Wald, senkt sich dabei kaum merklich. Die Bäume stehen weit auseinander, so dass immer wieder der Eindruck entsteht, der Wald sei bald zu Ende.
Gut, irgendwann ist er natürlich tatsächlich zu Ende.
Ich laufe ein Stück über Asphalt, dann auf einem Steg über einen fast ausgetrockneten Bach hinüber, später dann säumen zu beiden Seiten sattgrüne Wiesen meinen Weg.
Wind kommt auf.
Binnen weniger Augenblicke wird der eben noch helle, leuchtende Sommerhimmel staubgrau, aber noch ehe ich mir Gedanken darüber machen kann, ob der Regen einige Stunden früher kommt als angekündigt, reißt die Wolkendecke auch schon wieder auf. Das Licht ist wieder ein Sommerlicht, die Sommerschatten sind wieder Sommerschatten.

Was den Pfad betrifft, so kann jetzt von schnurgerade keine Rede mehr sein. Beinahe unaufhörlich wechselt er die Richtung, schlägt Haken, biegt um Kurven, rollt über kleine Bodenwellen hinweg, wird dabei oft unmerklich immer schmaler. Um mich herum Muster und Formen, die ich im Detail gar nicht wahrnehme, die nur irgendwie vorhanden sind und die sich auflösen in allgegenwärtiges schillerndes Grün.

Ich nähere mich Sulzbach am Main.
Mittlerweile ist es richtig heiß geworden. Die wenigen Wolken sind dünn wie Japanpapier und die Straßen sind fast vollkommen schattenlos.
Dafür ist der Weg – erst einmal – alles andere als beschwerlich.
Eine breite, völlig flache Straße, dann eine lange Treppe, die hinabführt zu anderen breiten, flachen Straßen.
Müheloser kann Gehen kaum sein.

Mir ist klar, dass das so nicht bleiben wird. Ich befinde mich inzwischen ganz unten im Tal, ringsum alles voller Hügelkuppen.
Ein paar Straßen weiter kommt denn auch der erwartete Anstieg. Dass er besonders lang wäre, kann man nicht behaupten, aber er beinhaltet ein paar richtig steile Rampen.
Als ich oben bin, werde ich immerhin mit einem ganz netten Fernblick über Sulzbach hinweg bis zu einem bläulich schimmernden Horizont aus Himmel und Hügeln belohnt.

In dem Wäldchen, das ich wenig später durchwandere, wird der Pfad unübersichtlich wie ein Untertagebergwerk. Er verzweigt sich in immer winzigere Ästuare, der Boden ist holprig und zerfurcht, und zu allem Überfluss ist das Marienwegsymbol an mehreren Stellen so angebracht, dass mehr als eine Richtung in Frage kommt. Ich laufe viele kleine Umwege, muss immer wieder umkehren, weil sich herausstellt, dass der eingeschlagene Weg doch nicht der richtige gewesen ist, und habe irgendwann das Gefühl, so ziemlich jeden Quadratzentimeter des Waldes erkundet zu haben.
Als ich endlich wieder aus dem Wald heraus bin, stoße ich auf einen Wegweiser, auf dem die Entfernung nach Sulzbach mit 2,5 Kilometern angegeben ist. Die vielen kleinen Umwege haben jedoch dazu geführt, dass ich seither mehr als vier Kilometer zurückgelegt habe. Im ersten Moment bin ich etwas überrascht, andererseits hat es bei früheren Touren schon ganz andere Relationen zwischen vorher berechneter und tatsächlicher Wegstrecke gegeben.

Es fühlt sich jetzt an wie ein richtiger Sommertag.
Das Land ist überflutet von einem Ozean aus Licht.
Ich wandere an Wiesen vorüber, in denen der Wind sich verfängt. Wenn ich den Blick in die Ferne richte, streicht er über ein Meer aus wogendem Grün dahin. Ganz am Rande des Blickfeldes flimmert und flirrt die Luft, als würde kosmischer Staub auf die Erde fallen.
Wie von selbst werden meine Schritte ganz gleichmäßig, der Weg ist jetzt wie ein Strom, der mich mit sich trägt.

Ich wandere an einem einsamen Gehöft vorüber.
Kurz dahinter eine Bank am Wegrand, der ich einfach nicht widerstehen kann.
Eine Viertelstunde lang ruhe ich mich im Schatten eines knorrigen Baumes aus und überlasse mich der ziellosen Leichtigkeit meiner Gedanken.

Von der Bank sind es nur ein paar Schritte bis zum Waldrand.
Linkerhand zweigt ein Weg ab, der vermutlich irgendwo in die Tiefen des Spessarts hineinführt. Das ist ganz bestimmt nicht die Richtung, die ich einschlagen muss, wenn ich mein heutiges Ziel Kleinwallstadt erreichen will.
Der Wegweiser mit dem Marienwegsymbol zeigt nach rechts.
Okay, das ist also der richtige Weg.

Zum letzten Mal für diesen Tag Wald.
Erst ein von Traktorenreifen zerfurchter Forstweg, dann aber ein Miniaturparadies aus märchenhaft schönen Pfaden.
Lichtes Geäst schwebt über schattengrünem Gras.
Wurzeln wie schmale Silberadern im weichen Waldboden.
Schmale, schlanke Stämme, umflossen von Wellen sanften Lichts.
Aus meinem Gehen wird für kurze Zeit so etwas wie ein Durchstreifen, Schritt für Schritt, Atemzug für Atemzug.
Der kaum hörbare Wind ist wie der Atem des Waldes, der kommt und geht.
Ganz ruhig, ganz langsam.

Dann ist es vorüber, aber irgendwie doch noch nicht. Ich trabe leichten Fußes an Wiesen entlang, von denen allmählich die Schatten des Nachmittags Besitz ergreifen, aber noch eine ganze Weile verharrt ein Teil von mir in diesem Feenwald, oder vielmehr, die Erinnerung an Bilder, an Geräusche, an Stille, an Farben verwandelt sich in das sehr angenehme Gefühl, dass ein Rädchen ins andere greift und so ziemlich alles passt.

Hinter einer kleinen Anhöhe öffnet sich plötzlich der Blick ins Maintal. Das glitzernde Band des Flusses sticht aus dem dunklen Grün baumbestandener Ufer heraus und verliert sich irgendwo in der Ferne.
Noch etwa drei Kilometer.
Erst jetzt – später als erwartet – komme ich an die Stelle, an der ich den Marienweg verlassen muss, wenn ich zum Bahnhaltepunkt Kleinwallstadt will.

Ich laufe einen ästhetisch geschwungenen Pfad hinab und mit einem Mal registrieren meine im Grunde schon völlig auf den Abschluss der Etappe ausgerichteten Gedanken, welches Paradies ich gerade durchwandere.
Um mich herum summt und brummt und blüht und flattert es.
Lauschige Bänke unter Obstbäumen, überwucherte Weinbergmauern, schattenspendende kleine Laubwäldchen, ein Eindruck abgerundeter als der andere.
Später finde ich heraus, wo ich hier eigentlich bin.
Es ist der Plattenberg, ein Naturraum, der ein Rückzugsgebiet für viele Tier- und Pflanzenarten darstellt, eine bunte, vielfältige kleine Welt.

Noch ehe ich Kleinwallstadt erreiche, ist es vorbei mit Licht und Wärme.
Von einer Sekunde zur nächsten bedecken dichte graue Wolken den Himmel, sie scheinen sich ganz tief über den Fluss hinabzusenken und jeder noch so winzige helle Fleck wird ausradiert.
Dann beginnt der Regen.

 

Noch eine Marienwegetappe:

Tour 67 Von Ochsenfurt nach Kitzingen

Manchmal gibt es keinen richtigen Anfang.

Man geht in der Erinnerung bis zu einem bestimmten

Punkt zurück, und dann geht man weiter zurück und

noch weiter, vielleicht sogar bis dahin, wo Erinnerung

kaum noch mehr ist als ein fast lichtloser Canyon

oder ein Höhlengebilde, in dem nichts mehr als ver-

gessene, verschüttete…    weiterlesen      Bildergalerie

 

4 Comments

  • Mata

    Wieder ein schön gelungener und ungewöhnlicher Wanderblogtext. Etwas schade finde ich, dass du dieses Jahr so wenige Marienwegetappen gemacht hast.

    Grüße, Mata

    • gorm

      Vielen Dank für die positive Resonanz, freut mich sehr.:-)
      Tja, leider bestehen zeitliche Zwänge, die dazu führen, dass ich die Marienwegetappen in diesem Jahr etwas zurückstellen musste. Aber das Jahr ist ja noch nicht vorüber. Einige Etappen werden ganz sicher noch folgen.

      Betse Grüße
      Torsten

  • Jana

    „Das Land ist überflutet von einem Ozean aus Licht.“ Wieder so ein wunderschöner Blogtext, den ich genussvoll mehrfach las. Man wandert beim Lesen mit, spürt die Wärme, den Wind, das Rauschen der Baumwipfel – deine Beschreibungen sind äußerst plastisch. Den Bildern nach zu urteilen – auch diese wieder sehr schön – war es eine auch visuell sehr angenehme Etappe: viel Licht, viel Grün, tolle Ausblicke. Und es war eine Punktlandung bezüglich des dann erst am Ende eintretenden Regens.

    Liebe Grüße
    Jana

    • gorm

      Vielen Dank für deinen Kommentar, liebe Jana.
      Bei den Marienwegetappen kommt einfach einiges zusammen, was sie zu besonderen Wanderungen für mich macht. Ich mag Unterfanken, ich mag den Spessart, ich mag die Abwechslung, die sich mir bei solchen Fernwegen bietet. Und noch einiges mehr. Ich habe immer sehr rasch das Gefühl, dass das Unterwegssein, das Gehen ganz selbstverständlich und quasi wie von selbst abläuft, muss mich nicht erst groß reinfinden.
      Und diesmal haben zusätzlich auch die Umstände gepasst. Sonne, Wärme, Spätfrühling bzw. Frühsommer, keine Zeitnot. Und ein paar Etappen werde ich dieses Jahr sicher noch machen, vielleicht im September.

      Liebe Grüße
      Torsten

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