TOUR 124 – VON WEIL AM RHEIN NACH KLEINKEMS
Es ist eine Art Erwachen.
Als Jana und ich aus dem Zug steigen, aus der Wärme in die winterliche Kälte, kommt es uns im allerersten Moment beinahe so vor, als würden wir aus einem warmen Bad in einen Bottich mit Eiswasser eintauchen. Es ist zu kalt, um lange stehenzubleiben. Die nähere Umgebung bietet auch nichts, was uns vor Begeisterung an Ort und Stelle bannen würde, und so machen wir uns auf in Richtung Rheinufer, welches allerdings mindestens anderthalb Kilometer von hier entfernt ist.
Im Pulk der übrigen hier ausgestiegenen Fahrgäste trotten wir eine von kleinen Eisfeldern übersäte Treppe hinauf und dann über eine Eisenbahnbrücke. Der Himmel ist ein typischer Winterhimmel – eine kalte Sonne verbreitet kaltes Licht, hier und da sind ein paar Wolkeninseln zu sehen, und dennoch ist da neben der Helligkeit die Ahnung einer Leere, wie sie nicht selten an erheblich trüberen Wintertagen als heute den Himmel zu einem uferlosen und farblosen Nichts werden lässt. Es ist, wie gesagt, nur eine Ahnung davon zu spüren, aber sie hat eine ganze Weile Bestand.
Weil am Rhein ist eine Dreiländereck-Stadt. Die Brücke über den Rhein nach Frankreich hinüber heißt denn auch Dreiländerbrücke und die Stadt kann sich seit knapp drei Jahren offiziell „3-Länder-Stadt“ nennen, denn neben Frankreich grenzt Deutschland hier auch an die Schweiz. Weil am Rhein ist sogar Teil des Baseler Nahverkehrsnetzes.
Noch mehr als bei so manch anderer Wanderung müssen Jana und ich uns in Geduld üben, bis wir die Stadt endlich hinter uns haben. Wir werfen einen kurzen Blick auf die Dreiländerbrücke, aber von hier aus unmittelbar am Rheinufer flussabwärts zu laufen, ist nicht möglich. Über Kilometer hinweg ziehen sich Hafenanlagen entlang unseres Weges. Es war klar, dass wir nicht sofort eine Idylle vorfinden würden, es bleibt uns also nichts übrig, als die Gegebenheiten hinzunehmen, wie sie sind.
Jana zeigt mir auf der Karte, ab wann ihrer Meinung nach mit einer grundlegenden Veränderung der Szenerie zu rechnen ist, nämlich bei einem kleinen Jachthafen ganz am Rande der Stadt oder eigentlich sogar bereits außerhalb der Stadtgrenzen.
Und genau so kommt es auch.
Irgendwann biegen wir in einen kleinen Weg ein und von diesem Moment an, buchstäblich Schritt für Schritt, entfernen wir uns vom Stadtlärm und überschreiten schließlich die Schwelle zu einem idyllischen Mikrokosmos. Zunächst ist da noch nicht viel mehr als das ruhige Bild eines schnurgeraden und tischebenen Weges, der unmittelbar am Wasser entlangführt. Der Himmel ist hell wie an einem Sommermorgen, die Landschaft darunter jedoch ist eine kalte Winterlandschaft.
Wir halten erst einmal eine Minute lang inne. Die Szenerie hat etwas Friedvolles, vor allem, wenn man den Kontrast zu den ersten Kilometern bedenkt. Die Wasseroberfläche ist fast ganz ruhig. Ein Reiher löst sich, als hätte er sich aus der Luft manifestiert, aus einem Schattenfleck am Uferrand und fliegt über den Fluss. Aber danach ist dann nur wieder diese ruhige Leere da. Es fühlt sich beinahe bereits wie Ankunft an, wie Ankommen, dabei sind wir noch fast am Anfang.
Noch befinden wir uns am Hauptarm des Rheins. Auf der gegenüberliegenden Flussseite liegt Frankreich, die Grenze verläuft mitten durch den Rhein. Aber sollten wir geglaubt haben, dass dieser Wechsel von Lärm zu relativer Stille und von Stadtstraßen zu Leinpfad bereits alles an Veränderung sei, was uns im Laufe dieser Wanderung erwartet, dann haben wir uns getäuscht, und zwar gründlich.
Nach einer Weile traben wir einen kleinen Abhang hinunter und gleich der erste flüchtige Eindruck unterscheidet sich von allem, was zuvor gewesen ist, als hätten wir eine andere Galaxie betreten.
Auch jetzt noch befinden wir uns am Hauptarm des Rheins, aber man könnte meinen, auf irgendeine rätselhafte Art und Weise seien wir zu Figuren eines Gemäldes von Anfang des 19. Jahrhunderts oder aus einer noch früheren Zeit geworden, als der Rhein nördlich von Basel eine unübersichtliche und ständig sich verändernde Stromlandschaft war. Dutzende und Aberdutzende von Inseln zerteilten den Fluss, immer wieder bildeten sich neue Verästelungen und Flussarme.
Stetig war also auch in diesem Fall nur der Wandel.
Mit der Rheinbegradigung verlor der Rhein sein wildnishaftes Erscheinungsbild nach und nach allerdings.
Nicht zuletzt verschwanden zum Beispiel die Sumpfgebiete entlang des Oberrheins, Brutstätten der Anopheles-Mücke und damit der Malaria. Gerade am Oberrhein war die Malaria nahezu allgegenwärtig, wenn auch wohl nicht die schwerste Form Malaria tropica, sondern Malaria tertiana. Dennoch fielen im Laufe der Zeit Tausende von Menschen der Krankheit zum Opfer. Huningue und Ville-Neuf – also die Städte gegenüber von Weil am Rhein am jenseitigen Rheinufer in Frankreich – waren noch im Jahre 1877 als Malariagebiete ausgewiesen. Letztlich gilt der Oberrhein erst seit 1948 als malariafreies Gebiet.
Die nächste drastische Veränderung, den Rhein nördlich von Basel betreffend, war der Bau des Rheinseitenkanals in den Jahrzehnten nach dem 1. Weltkrieg. Über diesen Kanal wird seitdem der Schiffsverkehr abgewickelt, und das ist der Grund, warum der Hauptarm des Rheins hier wie ein Altrheinarm aussieht.
Wir genießen diesen Blick erst einmal. Steine ragen wie kleine Plattformen aus dem Wasser. Ein Kiesgeröllstrand hat Teile des Flussbetts erobert. Und dann ist da dieses Blau überall. Kein grelles, aufdringliches Dauerhochsommerblau, sondern ein eher dezentes, nichtsdestotrotz tiefes und schönes Blau, das den Augen guttut. Es gibt Abstufungen – das dunkle, an den Ufern mitunter fast schwarze Blau des Wassers und als Kontrast das sehr helle, hier und da von kaum sichtbarem Wolkenflaum umrahmte Blau des Himmels.
Über dem Wasser und von diesem ausgehend liegt eine friedvolle Ruhe. Es ist natürlich eine kleinräumige Ruhe inmitten einer industrialisierten und urbanisierten Gegend. Dennoch ist es eine Oase des Nicht-Geschehens und jeder Moment scheint aus mehreren, wie aus einer fernen Galaxie der Stille entliehenen Zauberpartikeln zusammengesetzt zu sein.
Der Mittag ist nahe.
Es ist etwas milder geworden, jedenfalls kommt es uns so vor. Womöglich ist es aber nur die Bewegung, die uns die Winterkälte weniger spüren lässt als noch am Morgen. Oft sind die Wege von einer dünnen Schicht brüchigen Schnees bedeckt, oft ist aber auch von Schnee so gut wie nichts zu sehen und man könnte beinahe annehmen, der Frühling habe schon begonnen.
Etwa auf Höhe des Weiler Stadtteils Märkt versperrt uns die Kander den Weg. Allzu breit ist sie selbst an der Stelle ihrer Mündung in den Rhein nicht, trotzdem stellt sie für uns ein unüberwindbares Hindernis dar, so dass wir einen kleinen Bogen schlagen müssen.
In früheren Zeiten gab es am Ufer der Kander einige Mühlen, die aber so gut wie alle verschwunden sind, wie das ja vielerorts der Fall ist. Um die 18 Mühlen soll es hier sogar noch Ende des 19. Jahrhunderts gegeben haben.
Wir nähern uns allmählich Istein.
Es ist sehr hell, besonders dort, wo die Schneeflächen breiten Raum einnehmen. Vom Ufer des Flusses trennt uns meist nur eine Böschung. Das Wasser ist sehr ruhig. Hier und da ragen große Äste und zerborstene Baumstämme wie abgestürzte Flugobjekte daraus hervor. Es passiert nichts, außer dass der Schnee unter unseren Füßen knirscht, und genau das ist das Gute.
Plötzlich entdecken wir eine Ansammlung großer Felsbrocken im Wasser, in unregelmäßigen Abständen vom Ufer bis in die Mitte des Flussbettes reichend. Weiter vorne gibt es flache, von Sträuchern bewachsene Kiesbänke. Von ruhig dahinfließendem Wasser kann nun keine Rede mehr sein, allerdings beträgt die Tiefe des Flusses zwischen den Kiesbänken kaum mehr als einige Zentimeter, von wildem Dahinrauschen kann man also ganz sicher auch nicht sprechen.
Später stehen wir auf einer Aussichtsplattform und betrachten das Ganze von einer etwas erhöhten Position aus.
Es gibt da diesen dunklen Strich entlaubter Sträucher und Bäume auf der Flussinsel zwischen Rheinlauf und Kanal. Darüber der wässrige blaue Himmel mit schneeflockenweißen Wolkenresten. Wenn man den Blick ziellos schweifen lässt, nimmt der Himmel sehr viel Raum ein. Dennoch ist der Himmel nur Peripherie, das Zentrum dagegen ist der Fluss. Auf diesen richtet sich sehr schnell unsere Aufmerksamkeit.
Die Felsbrocken gab es auch vor 200 Jahren schon, nur waren sie da nicht zu sehen. Erst infolge der Rheinbegradigung und der damit einhergehenden Verkürzung und Vertiefung des Flusslaufes wurden sie freigespült. Das Material, aus dem sie bestehen, ist Kalkstein. Sie sind Überreste eines Massivs, des Isteiner Klotzes, der heute allerdings durch verschiedene Ereignisse wie Sprengungen und diverse Baumaßnahmen – darunter natürlich auch die Rheinbegradigung – nur noch etwa ein Zehntel seiner ursprünglichen Größe aufweist.
Bei den Felsbrocken haben sich Stromschnellen gebildet, welche die Bezeichnung „Isteiner Schwellen“ tragen und die sich über etwa einen Kilometer hinziehen.
Diese Isteiner Schwellen stellen so etwas wie den Höhepunkt unserer Wanderung dar. Wir sind hier genau zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Von der Bewegung des Wassers abgesehen scheint ringsum alles zur Ruhe gekommen. Würde tiefster Winter herrschen mit einer richtigen Eiseskälte und Schnee überall, würde uns diese Reglosigkeit noch wesentlich mehr auffallen. Vielleicht wäre es dann bereits so etwas wie Erstarrung, vollkommener Stillstand. So ist es eher ein Zur-Ruhe-Kommen, ein Schwebezustand zwischen Behäbigkeit und Ereignislosigkeit.
Bis zum Bahnsteig in Kleinkems sind es nun noch ungefähr vier Kilometer. Die ganze Zeit laufen wir praktisch unmittelbar an der Autobahn entlang. Wie zuvor wechseln Wegpassagen, auf denen sich eine dünne Schicht Schnee hält, und vollkommen schneefreie Abschnitte einander ab. Die helle Wintersonne bleibt uns erhalten, wenngleich der Horizont nach und nach in einer weißen Gischt verschwindet. Von Eintrübung kann jedoch keine Rede sein. Während wir durch die Straßen von Kleinkems laufen, wird es eher sogar noch ein wenig heller. Aber es ist kalt. Und vom Beginn des Frühlings trennen uns noch viele frostige Wintertage.
One Comment
Danubi
Sehr schöner Text. Als wäre man selbst dabei gewesen. Vielleicht nicht die klassische Wandergegend (Hafenanlagen), aber allemal interessant.