Wandertouren

TOUR 86 – NOHENER NAHESCHLEIFE

Es kann kaum eine tiefere Stille geben als die auf einem leeren Bahnsteig am Rande eines winzigen, wie ausgestorben wirkenden Dorfes irgendwo im Niemandsland.
Es ist eine fragile Stille, man hat den Eindruck, dass schon das geringste Geräusch kilometerweit zu hören wäre, aber sie ist so gegenwärtig, als sei sie ein Bestandteil von allem, was man sieht.

Ungefähr diese Art von Stille ist es, die mich in Nohen empfängt, kaum dass ich aus dem Zug gestiegen bin.
Vielleicht ist da deshalb gleich vom ersten Moment an dieser Eindruck einer besonderen Ausgewogenheit, vielleicht erfüllt sich auch nur irgendeine unbewusste Erwartungshaltung, jedenfalls könnte ich mir kaum einen besseren Ausgangspunkt für eine Wanderung wünschen.

Es ist bereits Mittag.
Der Himmel wirkt groß und weit, obwohl ein Wolkenfeld sich ans andere reiht.
Es ist angenehm warm, aber weit entfernt von drückender Hitze.

Ähnlich wie zum Beispiel auch die Beckinger Saarblicke beginnt die Nohener Naheschleife praktisch schon auf dem Bahnsteig.
Ich gehe nur ein paar Schritte und stoße auf den ersten Wegweiser.
Unmittelbar neben dem Bahnübergang ein taubenblaues Haus, das sich als Gaststätte entpuppt.
Auf der gegenüberliegenden Straßenseite, verborgen hinter einer Linde, eine kleine Kirche, auch sie irgendwie Teil der Stille und der Ausgewogenheit.

Nohen hat ungefähr 350 Einwohner, große Entfernungen innerhalb des Dorfes sind also wohl nicht zu erwarten.
Ein paar Häuser, eine Brücke über die Nahe – der Weg zum Ort hinaus ist ungefähr so kurz, wie ich es mir vorher gedacht habe.
Ein kleines Stück laufe ich an der Nahe entlang, die hier innerhalb weniger Schritte zwei völlig unterschiedliche Gesichter zeigt – erst eine ganz glatte, dunkle Wasserfläche, ruhig wie ein zugefrorener See, kurz darauf dann aber ein klarer, nur noch knöcheltiefer, bachähnlicher Flusslauf voller Steine, was sicher daran liegt, dass die Nahe sich an dieser Stelle für kurze Zeit in zwei Arme aufteilt, an deren unterem ich entlangwandere.
Diese ersten rund fünfhundert Meter sind nicht mehr als ein Prolog, ein Anfang vor dem Anfang sozusagen.
Erst jetzt geht es richtig los.

Ich mühe mich eine steinerne Treppe hinauf, die nicht gerade so aussieht, als stamme sie aus der lange zurückliegenden Zeit, in welche die drei Randleistenbeile gehören, die in Nohen gefunden wurden und die ein Indiz dafür sind, dass dieses Gebiet bereits vor 3000 Jahren keltischer Siedlungsraum gewesen ist.
Eine Weile habe ich eine graue oder eher weißlich-graue Felswand neben mir, aber kaum endet die Treppe, bin ich von einem Pulsschlag zum nächsten mitten im Wald.
Die Art der Stille hat sich verändert.
Es fehlt diese unterschwellige Erwartung, dass jeden Augenblick irgendetwas sie einschränken oder gar zerreißen könnte – Stimmen, Autolärm, was auch immer.
Es scheint, als gehöre die Stille an diesen Ort wie die Bäume um mich herum.

Langsamer als langsam, das ist die Devise für den Beginn der Wanderung.
Bei einer Strecke von nicht einmal 12 Kilometern kann ich mir das erlauben, ohne in Zeitnot zu geraten.
Es ist einfach auch keine Umgebung, in der Hektik gedeihen könnte.
Alles hier wirkt, als wäre es seit langer Zeit unverändert, auch wenn das natürlich nicht stimmt, aber der Eindruck ist es, der zählt.

Auf den ersten beiden Kilometern wandere ich beinahe ununterbrochen bergauf.
Oft ist der Anstieg nicht besonders steil, einmal wird er auch von einer über ein paar wenige Stufen abwärts führenden Treppe unterbrochen, aber ein paar Höhenmeter kommen unter dem Strich schon zusammen. Mal ist der Pfad breit wie eine Flussmündung, mal führt er in angedeuteten Mäandern ganz schmal an steil abfallenden Böschungen vorüber.
Zwischen den Bäumen, vor allem in den Kronen, ein schönes, warmes Licht, am Boden dagegen irgendein farbloses Schattengrün.

An einigen wenigen Stellen ist nicht zu übersehen, dass es in den letzten Tagen geregnet hat, meistens aber ist der Pfad vollkommen trocken. Trocken, aber nicht hart und rissig, sondern weich und nachgiebig, genau richtig fürs Gehen.
Der dichte Wald scheint sämtliche Geräusche von außen abzuwehren.
Oder es gibt schlicht keine.
Die Geräusche des Waldes selbst sind sehr dezent, keines sticht heraus, sie sind wie ein gleichmäßiges Hintergrundmurmeln, das man kaum wahrnimmt, dessen Präsenz man sich aber bewusst ist.

Der Pfad flacht allmählich merklich ab und zugleich verbreitert er sich wieder zu einem Weg, auf dem ich ausladende Schlangenlinien laufen könnte.
Ich merke, dass ich mich dem Waldrand nähere.
Die dichte Vegetation hört mit einem Mal auf, nur noch ein paar fast astlose Bäume stehen herum wie überdimensionierte Streichhölzer.

Mir fällt auf, dass es immer noch sehr still ist. Ich glaube, es wäre genug Stille vorhanden, um ganze Tage und Wochen damit auszufüllen.
Es ist eine Art der Stille, wie man sie sich auch in lange zurückliegenden Jahrhunderten vorstellen könnte, in vorindustriellen, vormaschinellen Zeiten.
Im 11., 12., 13. Jahrhundert – geschweige denn früher – existierte nicht einmal das Wort „Lärm“ und erst im Verlauf des 19. Jahrhunderts erlangte es seine gegenwärtige Bedeutung, weil neue Erfindungen wie die Dampflokomotive eine neue Art von Geräuschen hervorbrachten, für die es dann auch neue Begriffe benötigte.

Außerhalb des Waldes befinde ich mich von einem Augenblick zum nächsten in einer ziemlich eindrucksvollen Windlandschaft.
Die Sonne ist nicht zu sehen, weil sie irgendwo hinter tiefen, schweren Wolkengebilden verschwunden ist. So richtig dunkel ist es trotzdem nicht, außerdem ändert sich der Grad der Helligkeit alle paar Sekunden.
Es würde mich aber nicht wundern, wenn irgendwann in der nächsten Viertelstunde ein Gewitter heraufziehen würde.

Wenig später zeigt sich, dass es sich gelohnt hat, die ersten beiden Kilometer fast nur bergauf zu wandern.
Plötzlich weites, offenes Land, überall intensives Sommergrün, die Wolken viel heller als noch Minuten zuvor, überhaupt ist alles mit einem Mal um einige Grade freundlicher.

Der Wind ist noch etwas stärker geworden, er verwandelt die Landschaft. Das Grün wirkt nicht ganz so ruhig, wie es ohne den Wind wirken würde.
Eine Weile beobachte ich den Horizont.
Dort draußen erkenne ich keine Bewegung, es ist zu weit weg dafür, aber die fließenden Hügelwellen an der Blickfeldgrenze mildern den Eindruck von Erstarrung erheblich ab.
Die Luft ist sehr klar.
Wenn die Hügel nicht wären, könnte man noch viele Kilometer weiter sehen.

Fürs Erste war es das mit den Anstiegen.
Ich gehe ohnehin davon aus, dass die Strecke im Großen und Ganzen aus zwei Wellen besteht und ungefähr wie ein in die Länge gezogenes M aussieht. Was bedeutet, dass ich jetzt wahrscheinlich erst einmal wieder ganz ins Tal hinunterlaufe.
Ziemlich exakt so kommt es auch.

Es geht wieder in den Wald hinein.
Hier ist vom Wind so gut wie nichts mehr zu spüren.
Die Äste der Bäume sind so ruhig, als wären sie an irgendeiner unsichtbaren Substanz festgefroren.
Und wie erwartet, führt der Weg die ganze Zeit bergab.

Zur Linken öffnet sich plötzlich der Blick ins Nahetal.
Tief unten, schmal wie ein Maßband, der Fluss, ein paar Meter vom Ufer entfernt ein einsames Haus.
Im Gesamtbild ist der Fluss aber nur eine unscheinbare Randerscheinung, das Dominante ist die Entgrenzung.
Bewaldete flache Hügel, so weit das Auge reicht, darüber firnschneefarbene Wolken, irgendwo am Waldrand ein Gehöft und die kaum sichtbare graue Linie eines Weges.

Irgendwie denke oder ahne ich, dass dies die Augenblicke sind, in denen man lernt, geduldig zu sein, die Geduld zuzulassen, zu erkennen, dass es Momente gibt, in denen man nicht durch Betriebsamkeit oder Anstrengung vorankommt, sondern durch Innehalten, durch Garnichtstun.
Wie immer besteht das Kunststück darin, das Richtige zur richtigen Zeit zu tun.

Dieser Fernblick ist natürlich auch die Bestätigung dafür, dass ich in einer sehr ländlichen Region unterwegs bin.
Nohen hat, wie bereits erwähnt, nur etwa 350 Einwohner, die Nachbarorte kaum mehr, zwischen den Dörfern erstrecken sich ausgedehnte Waldgebiete, nördlich der Nahe die des Hunsrücks, südlich davon die des sogenannten Westrichs.

Wie der Balken einer Wippe kippt der Pfad mit einem Mal steil nach unten.
Für zweihundert Meter wird der Wald zu einer Art kleinem Dickicht, die Bäume stehen dicht wie Weizenhalme zusammen, am Wegrand kniehohes Gras.
Ich komme mir ansatzweise vor wie in einem Stollen unter Tage, nur dass ich hier überall von flirrendem Grün umgeben bin.
Kaum lassen die Bäume eine Lücke, sehe ich wieder die Nahe. Sie wirkt schon um einiges größer als vorhin, aber es dauert noch ungefähr eine Viertelstunde, bis ich ganz unten im Tal ankomme.

Wenn ich der Ansicht gewesen sein sollte, dass ich heute für die Dauer der Wanderung so eine Art Stillegarantie besitzen sollte, dann werde ich jetzt eines Besseren belehrt.
Die lauten, durchdringenden Stimmen zweier Wanderinnen versetzen plötzlich den ganzen Wald in Aufruhr.

Ein paar Augenblicke lang rätsele ich darüber, woher die Stimmen kommen, dann aber wird mir klar, dass die beiden Frauen sich ein paar hundert Meter hinter mir befinden und ungefähr im selben Tempo wie ich unterwegs sind, vielleicht ein klein wenig schneller. Es kann jedenfalls ewig dauern, bis sie mich überholt haben und danach wird ihr Geschrei ja immer noch eine Weile zu hören sein. Wenn ich Pech habe, zieht sich das Ganze eine Stunde und länger hin.
Ich könnte natürlich schneller gehen und den Abstand vergrößern, aber ich bin genau mit der Geschwindigkeit unterwegs, mit der ich heute unterwegs sein möchte.
Die Lösung kommt in Form einer wie bestellt am Wegrand stehenden Bank.
Ich lasse mich darauf nieder und setze meinen Weg erst fort, als die beiden nicht nur außer Sicht-, sondern auch außer Hörweite sind.

Zwei Wegbiegungen später befinde ich mich unmittelbar am Naheufer.
Ich schätze, dass der Fluss hier ungefähr zwölf Meter breit ist. Das Wasser ist nicht besonders tief, jedenfalls ragen überall wie winzige Inseln graue Steine daraus hervor.
Am liebsten würde ich mich eine Zeit lang in die Mitte des Flusses stellen, aber dafür ist das Wasser dann doch ein bisschen zu tief, wenn man keine Stiefel trägt.

Eine ganze Weile verläuft der Weg jetzt in Ufernähe.
Manchmal führt er ganz dicht heran, manchmal befindet sich zwischen Pfad und Fluss ein Saum dichten Gebüsches.

Ich werfe eine kurzen Blick zum Himmel.
Von einem drohenden Gewitter kann keine Rede mehr sein.
Es ist zwar nicht gerade der Inbegriff eines hellen Sommertages, aber es herrscht ein angenehm mildes Licht, weit entfernt von trüb, weit entfernt von grau, und die Temperaturen treiben einem auch nicht den Schweiß auf die Stirn, im Grunde also alles bestens.
Der Wind – von dem im Wald aber ohnehin nichts zu spüren war – hat sich zu einem gerade noch so vorhandenen Lüftchen abgeschwächt.
Es ist so eine Atmosphäre, die nahe an vollkommene Abgeschiedenheit herankommt, sie aber nicht ganz erreicht, weil da immer die Ahnung oder Erwartung eines fernen Geräusches ist.

Unverhofft kann ich meinen Wunsch, mich in die Flussmitte zu begeben und dort ein paar Minuten lang stehenzubleiben, doch noch in die Tat umsetzen.
Ich muss dazu nicht einmal von Stein zu Stein balancieren oder gar durchs Wasser waten.
Da ist nämlich diese aus flachem, rissigem Gestein bestehende Halbinsel, die an einer Stelle einige Meter weit in den Fluss hineinragt.
Ich gehe ganz bis zum Rand, hart ans Wasser heran.
Auch hier ist die Nahe sehr flach. Direkt unter der Oberfläche dunkle, kantige Steine. Die Ufer sind dicht bewachsen. An den flachsten Stellen – dort, wo das Wasser sehr rasch dahinfließt – bilden sich kleine Wellenkämme.
Hundert Meter entfernt eine malerische Holzbrücke. Unmittelbar dahinter eine Flussbiegung, deshalb stellt die Brücke irgendwie den Rand des Bildausschnitts dar.

Auf den ersten rund sechs Kilometern ist die Naheschleife übrigens identisch mit einer Etappe des Nahesteiges, eines 35 Kilometer langen Wanderweges von Neubrücke/Nahe nach Idar-Oberstein, den man natürlich auch in der entgegengesetzten Richtung zurücklegen kann. Schon in Nohen habe ich den ersten Hinweis darauf gesehen und seitdem waren in regelmäßigen Abständen Kilometerangaben an den Bäumen angebracht.
Exakt bei der gerade erwähnten Brücke zweigt der Nahesteig endlich in eine andere Richtung ab und führt auf Neubrücke zu, während ich mich ziemlich genau von diesem Punkt an wieder auf Nohen zubewege.

Ich wandere durch dichten, hellen Wald.
Der Weg führt bergan, nicht steil, aber stetig.
Es wird wieder sehr still.
Fast so still, als befände ich mich in einem Wald ohne jegliche Geräusche.
Ich habe das Gefühl, alles schon von anderen Wanderungen zu kennen, trotzdem aber ist es auf ganz eigene Weise schön und neu.

Wenn der Pfad jetzt noch zwei, drei Kilometer beschaulich durchs Gelände mäandern würde, vielleicht mit dem einen oder anderen Fernblick über im Sommernachmittagslicht ruhende Felder hinweg bis zu einem dunstigen, großen, leeren Horizont, dann wäre ich restlos zufrieden.
Ungefähr so kommt es tatsächlich auch, von einem tückischen, mit Seilen gesicherten Abstieg abgesehen, der mich ein letztes Mal zum Naheufer hinabführt.

Ein paar hundert Meter von Nohen entfernt stehe ich dann auf einer nach allen Richtungen offenen Anhöhe.
Der Himmel ist sehr tief, die Wolken dunkel wie vor einem Gewitter.
Sie passen gut zusammen, diese Weite und dieser tiefe, dunkle Himmel.

Solange ich unterwegs bin, spüre ich das Leben, denke ich plötzlich, selbst in den einsamsten Gegenden.
Während ich auf einem ziemlich neu wirkenden Asphaltweg nach Nohen hinunterlaufe, denke ich es noch ein zweites Mal.
Dann wird mir bewusst, dass ich das Gefühl, das dieser Gedanke ausdrückt, im Grunde auf jeder Wanderung habe, auch dann, wenn ich es nicht in Worte fasse.

Nach ein paar hundert Metern durch leere Dorfstraßen lande ich genau gegenüber der Gaststätte mit der taubenblauen Fassade, bei der ich vor ein paar Stunden meine Wanderung begonnen habe.
Es ist ein paar Grad wärmer geworden seitdem, die Luft ist feucht wie in einem Waschkeller ohne Fenster.
Für ein paar Minuten reißt die Wolkenschicht auf und der Bahnsteig ist in grelles Sonnenlicht getaucht.
Dann schieben die Wolken sich wieder ineinander und von der Helligkeit bleibt nichts übrig.

2 Comments

  • Sylban

    Grandios wie immer. Der im Text erwähnte Hunsrück ist eines der vielen Wander-Mittelgebirge in Deutschland. Wie es scheint, sind aber auch südlich davon schöne Wanderstrecken zu finden. Der Schwierigkeitsgrad dürfte bei mittelschwer liegen, nehme ich an?

    Gruß, Sylban

    • gorm

      Vielen Dank für den Kommentar. Gut 400 Höhenmeter bei 12 Kilometern, leicht ist die Strecke sicher nicht, aber die Steigungen sind nicht wirklich steil. Sie ziehen sich aber.:-)

      Beste Grüße
      Torsten

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