Wandertouren

TOUR 13 – THELEY: OFFIZIERSPFAD

Nebel liegt über den Feldern.
Ein dünner, grauer, allmählich emporsteigender Nebel.
Spätsommernebel, fast schon Herbstnebel.
Ein Nebel, wie er in alten Schwarz-Weiß-Filmen mitunter über einem Moor emporwallt und aus dem dann der erstickte Schrei einer Frau dringt.

Es ist früher Morgen.
Ich bin jedoch so wach und fast aufgedreht, als hätte ich eine magische Formel entdeckt, die bewirkt, dass ich nie wieder schlafen muss.
Ich fühle mich von Beginn an wohl mit dieser Strecke.
Von dem Parkplatz aus, auf dem ich starte, windet sich der Pfad schmal wie ein ausgetrocknetes Rinnsal zwischen hohen Bäumen hindurch, an Farnstauden und niedrigen Büschen vorüber.
Es ist fast noch genauso still, als wenn noch tiefste Nacht herrschen würde, nur ein paar Vögel sind zu hören.

Ich habe keine Eile, trotzdem verschwindet der Weg nur so unter meinen Füßen.
Ein heller, ein sehr heller Morgen zieht herauf. In die Schatten unter den Bäumen schlägt das Sonnenlicht große, helle Keile hinein. Und auf offenem Gelände ist es, als ginge ich über eine Trasse aus hellem Licht.

„Eine Wanderung am Morgen ist ein Segen für den ganzen Tag.“
Diese Henry David Thoreau zugeschriebenen Worte treffen zumindest an diesem Morgen und bei dieser Wanderung zu.
Es ist nicht nur die Bewegung, das Gehen, das Vorankommen, es ist auch die Aufmerksamkeit, das Erkennen und Erfassen von Kleinigkeiten.
Das scheinbar Unwesentliche gewinnt an Bedeutung, das scheinbar Verborgene ist mit einem Mal offenkundig.

Ich wandere an der „Napoleon-Eiche“ vorüber, einem über 300 Jahre alten Baum, der sofort den Blick auf sich zieht.
Anfang des 19. Jahrhunderts hat Napoleon einem Mann namens Lapointe die Ländereien vermacht, über die ich gut 200 Jahre später hinwegwandere, und von da an war die Eiche, die ich vor mir sehe, die „Napoleon-Eiche“.
Nun gut, warum nicht, zumal nach Napoleon auch wesentlich weniger schöne Dinge benannt worden sind.

Ich stapfe an immer noch nebelverhüllten Wiesen vorüber, dann wieder in den Wald hinein. Die Sonne taucht alles in geheimnisvolle Lichtfarben.
An einem Weiher halte ich kurz im Gehen inne, trinke einen Schluck.
Stille.
Stille.
Am Stamm eines Baumes klettert ein Eichhörnchen empor. Ein Vogel hüpft von Ast zu Ast. Aus der Ferne dringt das Brummen eines Traktors herüber. Ein Ereignis jagt sozusagen das nächste.
Aber es ist schließlich genau, was ich vorfinden wollte.

Nur ein paar Minuten später geschieht dann beinahe schon ein wenig zu viel. Ich trotte an einer Weide voller Stiere vorüber. Schon aus gehöriger Entfernung war ihr Gebrüll unüberhörbar.
Einer der Stiere, ein Ungetüm mit langen, gebogenen, gefährlich aussehenden Hörnern, hat mich im Visier. Vielleicht missfällt ihm mein Herumhantieren am Rucksack, vielleicht genügt auch schon meine bloße Anwesenheit.
Er kommt ganz nahe an den Weidezaun heran, brüllt.
Ansatzweise flimmern Jurassic-Park-Assoziationen durch mein Hirn.
Ein Zaun.
Keine elektrische Spannung mehr.
Ein Untier, das den Zaun niederreißt …

Ich schüttle diese unschönen Assoziationen ab und beachte den Stier einfach nicht mehr. Nach einigen Augenblicken verliert er auch tatsächlich das Interesse an mir und macht sich davon.
Die Strecke zeigt jetzt mal kurz die Zähne.
Erst geht es einen dezent ansteigenden Wiesenpfad hinauf, und dann, mal wieder im Wald, bringt mich eine dreistufige, ziemlich steile Rampe zumindest ein klein wenig ins Schwitzen. Am Ende der Rampe hat man sinnvollerweise eine Bank aufgestellt, die ich auch gleich zu einer kurzen Trinkpause nutze.

Es wird stetig wärmer und heller, aber solange ich im Wald bin, fällt das gar nicht so sehr auf.
Der Pfad, erst ziemlich breit, dann nur noch ein kümmerliches fußbreites Etwas, verschwindet nun stellenweise unter Gezweig und unzähligen Baumnadeln. Es riecht nach Waldboden, nach Humus, nach tiefer, gesunder Erde.
Der Duft bleibt mir noch eine ganze Weile in der Nase und selbst nach der Wanderung kann ich ihn mir noch sehr genau in Erinnerung rufen.

Für eine Weile verlasse ich den Wald nun.
Ein riesiger Kelch voll goldenen Sonnenlichts hat sich über die Landschaft ergossen. Ohne Sonnenbrille sehe ich keine zwei Schritte weit. Es tanzt und flimmert und flirrt. Die Umgebung ist nur noch ein amorphes Gebilde aus grellem Licht und verschwommenen Silhouetten.

Am Rande des Weges erahne ich eine Sinnenbank. Und ein paar Minuten lang vernehme ich die Stimmen zweier Frauen, offenbar Spaziergängerinnen, aber ich bekomme niemanden zu Gesicht, obwohl die Stimmen sich ganz nahe anhören.

Ich trabe einen steilen, schmalen Pfad hinab auf ein kleines Dorf zu. Unmittelbar vor dem ersten Haus des Dorfes – als ich schon annehme, dass der Weg mitten durch den Ort führt – biegt der Pfad nach rechts ab und für die nächste Zeit bestimmen wieder einmal Weiden, Wiesen und Weizenfelder die Szenerie.
Man kann weit sehen an diesem Morgen, wenn einen nicht gerade die Sonne blendet.
Eine Scheune.
Kleine Baumgruppen.
Äcker. Äcker. Wiesen. Wiesen. Horizont.
Manche nennen es Idylle, andere Einöde.
Für mich ist es genau das, was ich beim Wandern vorzu finden hoffe.

Natürlich kommt auch noch der obligatorische Gang in die Irre. An einer Stelle, an der ich drei verschiedene Richtungen zur Auswahl habe und ich kein Wegesymbol entdecke, wähle ich eine der beiden falschen Richtungen. Immerhin fällt es mir diesmal sehr schnell auf, so dass der Umweg nicht allzu weit ausfällt.

Kurz darauf betritt mein Fuß historischen Boden.
Auf einer Informationstafel wird darauf hingewiesen, dass „hier“ von 1919 bis 1935 die Grenze zwischen dem „Saargebiet und dem Deutschen Reich“ verlaufen sei. Und tatsächlich sieht man entlang der Strecke einige Grenzsteine mit dem „S“ für „Saargebiet“ oder dem „D“ für „Deutsches Reich“.
Ab dem 1. März 1935 gehörte das Saarland dann nach einer Volksabstimmung für 12 Jahre zu Deutschland, nach dem zweiten Weltkrieg erhielt es vorübergehend eine eigene Staatsbürgerschaft, ehe es 1957 nach einer zweiten Volksabstimmung in die Bundesrepublik eingegelidert wurde.

Im Weitergehen bemerke ich etwa hundert Meter vor mir eine junge Frau mit einem weißen Hund.
Ich gehe schneller als sie.
Sie sieht sich mehrmals nach mir um, was ich als eine gewisse Furcht vor dem fremden Wanderer in einem einsamen Wald interpretiere.
Ich komme ihr immer näher und sie sieht sich immer häufiger um.
Was soll ich tun? Langsamer gehen? Stehenbleiben?

An einer Abzweigung geht sie geradeaus weiter, während mein Weg nach links führt.
Aus den Augenwinkeln bemerke ich, dass sie beobachtet, ob ich auch tatsächlich dem Wandersymbol folge.
Fünf Minuten lang stapfe ich einen mäandernden, meine Schritte geradezu abfedernden Pfad entlang, und gerade, als ich wieder auf den breiten Hauptpfad einschwenke, ist die junge Frau mit dem Hund schon wieder da, nur ein paar Schritte vor mir.
Wieder dreht sie sich um, aber diesmal grinst sie freundlich. Offenbar bin ich mittlerweile vertrauenswürdig.

Ich nähere mich nun dem Hofgut Imsbach.
Schon von weitem höre ich die Geräusche geschäftigen Treibens.
Zwei Männer werkeln an einem Traktor herum.
Irgendwo wird ein Baum gefällt,
Spaziergänger und Wanderer kreuzen meinen Weg.
Von der morgendlichen Stille ist kaum etwas übriggeblieben.

Auf einem Hügel entdecke ich eine kleine Kapelle.
Dort hinauf steige ich noch, blicke über das Hofgut und all die Pfade und Wege, die von hier ausgehen und sich nach allen Richtungen verzweigen.

Danach begebe ich mich ohne Eile zu dem Parkplatz zurück, von dem aus ich losgewandert bin.

12 Comments

    • gorm

      Vielen Dank, liebe Daniela, freut mich sehr, dass Dir der Text gefällt.:-) Ich möchte eben nicht nur eine reine Streckenbeschreibung abliefern. „Wunderschön gemacht“ gilt im Übrigen auch für Deinen Gartenblog.:-) Grüße Torsten

  • Frank Herber

    Mensch Torsten,

    wer den skandinavischen Elchen getrotzt hat, den wird doch so ein Rindvieh nicht ins Boxhorn jagen 😅

    Grüßle
    Frank

  • Bernd G.

    Sind den Pfad vor einiger Zeit auch mal gegangen. Mir persönlich fehlen so ein wenig die Highlights, auch wenn es sicher ein schöner Weg ist.

    • gorm

      Nun gut, es ist die Frage, was man als Highlight betrachtet. Für mich ist ein toller Wald mit viel Stille durchaus ein Highlight. Ganz in der Nähe beginnt übrigens der Nahe-Quell-Pfad, ein weiterer Premiumweg, der nur knapp 6 Kilometer lang ist. Der lässt sich gut mit dem Offizierspfad verbinden.

  • Ursula Dahinden-Florinett

    Du schilderst das Bild eines friedlichen Spätsommertages so schön. Auf Bild 7 widerspiegeln sich Bäume und Sträucher im idyllischen Weier. Eine Superaufnahme, überhaupt alle Bilder mit der durchschimmernden Sonne gefallen mir. Die markanten Grenzsteine, die den Grenzverlauf markieren sind sehr interessant, steckt doch eine Geschichte dahinter. Eine sonnendurchflutende Wanderung erzählt in einer vollendeter Sprache!

    • gorm

      Vielen Dank, liebe Ursula.:-) An diese Wanderung erinnere ich mich sehr gerne zurück. Sie war, nicht zuletzt aufgrund der Strecke selbst, eine der schönsten des Jahres. Und auf diesen Premiumwegen gibt man sich immer auch Mühe, Informationen für den Wanderer bereitzustellen.

  • Ursula Dahinden-Florinett

    Twitter sei Dank habe ich deine Wanderung noch einmal gelesen und kann daher an frühere Erlebnisse zurückdenken.
    Der 1. Abschnitt weckt Erinnerungen wach an Jamaica Inn. Ueberhaupt Erinnerungen an alle Romane von Daphne du Maurier welche ich gelesen habe, sowie an all‘ die Orte welche ich der Bücher wegen abgefahren oder gewandert bin. Was doch nur ein Abschnitt alles bewirken kann. Herzlichen Dank Torsten und liebe Grüsse

    • gorm

      Daphne du Maurier ist für mich beinahe noch ein weißer Fleck auf der literarischen Landkarte. Wie es scheint, könnte es sich lohnen, etwas von ihr zu lesen. Vielen Dank für Deine Worte, liebe Ursula.

  • Mata

    Es ist immer wieder sehr witzig und aufschlussreich, auch deine alten Texte mal wieder zu lesen. Man sieht da klar auch die Entwicklung des Blogs. Es ist ein Erlebnis, deine Texte zu lesen, damals wie heute.

    Grüße, Mata

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