Wandertouren

TOUR 76 – VON WACHENHEIM NACH NEUSTADT AN DER WEINSTRAßE

Eine Wanderung zu planen kann eine aufwendige Sache sein, auch wenn man nicht gerade einen mehrtägigen oder gar mehrwöchigen Trip auf dem Pacific Crest Trail oder irgendwo am Nordkap in Angriff zu nehmen beabsichtigt.
Es genügt schon eine längere Tagestour, sofern man seine eigene Route entwirft und diese womöglich nicht nur aus beschilderten Wanderwegen besteht, sondern aus allem, was irgendwie ein halbwegs begehbarer Pfad, eine halbwegs begehbare Straße ist.

Bei Mehrtagestouren ist der zeitliche Aufwand für die Planung naturgemäß noch höher, selbst dann, wenn man bereit ist, sich spontanen Entschlüssen oder gar der Regie des Zufalls zu überlassen.
Die Detailplanung der ersten vier Marienwegetappen kostete mich zwei volle Tage und während dieser Zeit habe ich die Route so oft verändert, dass am Ende kaum mehr als der Startort Würzburg übrigblieb.

Es geht natürlich auch anders.
Ein Ort, von dem aus man loswandert, ein bequemer Wanderweg, ein Ort, an dem man ankommt, Ende. Und dies kann – wie viele andere Varianten auch – an bestimmten Tagen und je nach Stimmung exakt das Richtige sein.

Ich bin heute wieder mit Jana unterwegs und wir haben uns für eine dieser gerade erwähnten unkomplizierten Touren entschieden, nämlich für ein kurzes Teilstück des Pfälzer Mandelpfades.
Jana kennt die Strecke bereits von einer Wanderung im April, der so ziemlich den am besten geeigneten Monat darstellt, wenn man von der Mandelblüte auch wirklich was mitbekommen will.

Jetzt aber haben wir Ende November.
Eine fortlaufende Reihe grauer Herbsttage liegt hinter uns, Wochen mit beinahe unaufhörlichem Regen und kaltem Nebel, einer unerquicklicher als der andere.
Von Frühling und von Mandelblüte waren diese Tage weiter weg als Erinnerungen an Ereignisse, die so lange zurückliegen, dass man nicht einmal mehr weiß, ob sie überhaupt stattgefunden haben. Aber wie grau die vergangenen Wochen auch gewesen sein mögen, heute ist es anders, ganz anders.
Der Himmel ist blau und hell wie an einem Hochsommertag, die Schatten durchscheinend und leicht wie Chiffon.

Gehen funktioniert wahrscheinlich dann am besten, wenn man sich über die äußeren Umstände nicht allzu viele Gedanken machen muss, sondern einfach losmarschieren kann.
Wie auch immer, wenn nichts völlig Unvorhersehbares geschieht, dann müssen wir uns heute keine Sekunde lang mit irgendwelchen störenden Einflüssen auseinandersetzen.

Vom Bahnhof in Wachenheim aus bewegen wir uns mit verhaltener Zielstrebigkeit durch einige eher unscheinbare Straßen und an von kaltem Morgenlicht überfluteten Kleingärten vorüber, bis wir nach zehn oder fünfzehn Minuten an einer Straßenecke zum ersten Mal das Symbol des Pfälzer Mandelpfades zu Gesicht bekommen. Wir könnten uns auch an der Markierung des Wanderweges Deutsche Weinstraße orientieren, der bis Neustadt mit dem Mandelpfad deckungsgleich ist, aber dazu müssten wir sie erst einmal finden.

Von beinahe jedem Punkt aus sehen wir auf einem Hügel oberhalb der Stadt die Wachtenburg, die wie üblich mit einer endlosen Reihe von Namen und Scharmützeln verbunden ist und deren heutiges Erscheinungsbild mit den Ursprüngen der Burg so ziemlich überhaupt nichts mehr gemeinsam hat.
Wahrscheinlich führen mehrere Wege zur Burg hinauf, aber wir haben keinen Grund, vom Mandelpfad abzuweichen. Wir lassen den Ortskern hinter uns und wandern eine stetig schmaler werdende Straße hinauf. Über den Dächern gleißend helles Licht, aber der Temperaturunterschied zwischen Häuserschatten und praller Sonne ist beinahe der zwischen einem Wintertag und einem Frühlingstag.

Mit einem Mal zu beiden Seiten Mauern, die von Wildem Wein bewachsen sind, im Gegenlicht ist schon schemenhaft die Burg zu erkennen, darüber der meerblaue Himmel, in der Ferne weißes Wolkenrauschen.
Noch ein paar Dutzend Treppenstufen und schon befinden wir uns direkt neben der Burg, an einer Stelle, an der Jana bei ihrer Wanderung im April Rast gemacht hat.

Die Landschaft ist ein einziger Lichtsee.
Von Horizont zu Horizont ein schattenloses Leuchten.
Das Blickfeld dehnt sich so weit, dass die Hügel im Hintergrund beinahe genauso flach wirken wie die Ebene.
Die Sonne ist alabasterweiß und nimmt beinahe die ganze rechte Seite des Himmels ein.
Man sieht beim Unterwegssein so vieles, man sammelt Eindrücke, die ausreichen, um die Erinnerungen zweier Leben damit zu füllen, aber im Grunde bestehen viele der besten Augenblicke aus nichts anderem als daraus, die Dinge einfach auf sich wirken zu lassen.

Erst nach einer geschlagenen halben Stunde setzen wir unsere Wanderung fort.
Als ich mich später noch einmal umdrehe, sehe ich, dass schon andere Wanderer unseren Platz eingenommen haben.

Während wir einen Trampelpfad oberhalb der Weinhänge entlanglaufen, bleibt uns die phänomenale Fernsicht noch eine Weile erhalten.
Vom November ist nichts zu spüren.
Ein paar kaum existente Schatten, alles andere brennt die Sonne weg.
Es ist ein Herbsttag, besser als aus jedem Bilderbuch.
Alles Hässliche und Schäbige scheint sich in Nichts aufgelöst zu haben.

Ein paar hundert Meter von der Burg entfernt führen breite, steinerne Stufen den Hang hinab, die Meter für Meter mehr unter Laub verschwinden wie ein Felswatt unter Meerwasser.
Am Ende der Stufen stoßen wir auf einen jener tischebenen, ins Gelände hineindrapierten Asphaltwege, die sowohl Jana als auch ich besonders mögen, vor allem, wenn sie auch noch einen Kilometer und mehr wie an einem riesigen Lineal ausgerichtet auf den Horizont zu verlaufen.

Ein paar Minuten lang bewegen wir uns allerdings erst einmal wieder auf Wachenheim zu, unterhalb der Weinhänge und unterhalb der Burg entlang, aber der Weg führt nicht mehr in die Stadt hinein, sondern beschreibt einen halbkreisförmigen Bogen und trägt uns danach in die exakt entgegengesetzte Richtung.

Was jetzt kommt, ist noch ein bisschen besser als das, was wir bisher schon hatten.
Wir laufen durch Weinberge, die in der Sonne leuchten, an Wiesen und Äckern vorüber, aus denen alles, was auch nur ansatzweise dunkel ist, von diesem allgegenwärtigen Sonnenfeuer aufgesogen worden ist.
Es ist warm wie im Mai.
Nur dass es ein Mai am Ende des Herbstes ist.

Im Minutentakt begegnen uns jetzt Spaziergänger, gelegentlich auch mal ein Radfahrer.
Kein Wunder, der Tag ist schließlich wie geschaffen dafür, draußen zu sein.
Der Weg ist die ganze Zeit flach wie mit einem Hobel bearbeitet, von einigen wenigen Geländewellen abgesehen.
Aber der Anstieg hinauf zur Burg bleibt tatsächlich während der gesamten Wanderung die einzige nennenswerte Steigung.

Bis auf ein kurzes Stück über holpriges Kopfsteinpflaster, laufen wir ausschließlich über glatten Asphalt.
Am Rand eine dünne Schicht von windleichtem Laub, das den Eindruck macht, als liege es erst seit ein paar Tagen da und das eher an frühe Oktobertage erinnert.
Der Weg führt mitten in die riesige weiße Sonne hinein.
Wir sind umgeben von einem unermesslich großen Raum, der mit nichts als Licht angefüllt ist.

Auch die Fernblicke bleiben, was sie die ganze Zeit gewesen sind, nämlich überwältigend.
Einmal erahnen wir im Wolkendunst am Horizont sogar die Spitze des Wormser Doms. Die Silhouette von Mannheim etwas weiter südlich davon ist erheblich leichter auszumachen.

Ich erinnere mich an meine erste Wanderung in der Gegend von Neustadt vor gut drei Jahren. Damals ein Tag, an dem es weder Licht noch Farben zu geben schien, sondern nur ein graues Einerlei, in dem ich oft nur ein paar Schritte weit sehen konnte, so dass es mir mitunter vorkam, als würde ich völlig ohne Ziel und Orientierung durch die Gegend laufen.
Im Vergleich zu heute war das wie Wandern mit einer Fackel durch einen Luftschutzbunker zu einem Strandspaziergang bei Sonnenaufgang an der Adria.

Trotzdem ist mir damals etwas Elementares bewusst geworden.
Für mich ist Gehen oft einfach Selbstzweck. Ich gehe um des Gehens willen. Überspitzt formuliert – ich würde mich auch dann noch wohlfühlen, wenn ich auf einer Baustellenauffahrt hin und her laufen oder mich durch einen finsteren Stollen fortbewegen würde, wenn ich nur gehen könnte.
An einem Tag wie heute jedoch wäre es eine völlig überflüssige Einschränkung, wenn wir uns nicht auf das einlassen würden, was der Weg und uns anbietet.

Wir wandern an Deidesheim vorüber, einem der zahlreichen Weinorte in dieser Gegend.
Jana mutmaßt, dass nicht weit von hier auch der Eselsweg verlaufen müsste. Sie hat kaum ausgesprochen, da stoßen wir auch schon auf eine Infotafel zu eben diesem Eselsweg, der wir entnehmen, dass die Bauern dieses Landstrichs zu Beginn des 18. Jahrhunderts Getreide und Mehl von Eseln über unwegsame Hügel transportieren ließen, um die damals allüberall vorhandenen Zollschranken zu umgehen.

Einen halben Kilometer weiter erreichen wir das bereits zu Neustadt gehörende Königsbach …
… und von einem Schritt, von einem Augenblinzeln zum nächsten ändert sich die Szenerie vollkommen.
Keine wie Teppiche in der Sonne ausgerollten Pfade mehr, stattdessen verläuft der Weg jetzt bis zum Marktplatz in Neustadt nur noch durch Stadtstraßen. Wobei Königsbach allerdings nicht gerade städtisch anmutet. Wir trotten durch malerische, verwinkelte Gassen und unmittelbar hinter dem Ortsschild wird uns dann auch noch ein letzter nahezu schrankenloser Fernblick bis zum Rand des Odenwaldes geboten.

In Gimmeldingen, dem nächsten Ort, vollzieht der Weg einen Zickzackkurs durch ein paar Nebenstraßen, den wir uns eigentlich auch sparen könnten, danach wandern wir in der in der allmählich sinkenden Sonne auf Neustadt zu.
Es ist immer noch warm. Keine Spur von Regen oder Nebel oder sonst etwas, das nach November aussieht.

So kurz die Tour gewesen ist, so intensiv und so grandios war sie auch. Man muss keine Wanderung bis zum Ende der Welt unternehmen, um ein starkes und im besten Fall über die Wanderung hinaus anhaltendes Glücksgefühl zu bewirken.
Mitunter, so wie heute, reichen dafür schon ein paar Kilometer in der Herbstsonne.

 

Noch eine Tour auf dem Pfälzer Mandelpfad

Tour 81 Von Edenkoben nach Neustadt an der Weinstr.

Es wird eine Zeit geben, in der uns diese Tage der Pandemie im Rückblick vielleicht noch unwirklicher erscheinen werden als im Augenblick.
Eine Zeit, in der wir uns nicht mehr vorkommen werden, als wären wir Statisten in einer Realität gewordenen Dystopie.
Eine Zeit, in der auch das Unterwegssein wieder selbstverständlich sein wird. So selbstverständlich wie die Morgendämmerung am Ende der Nacht, so selbstverständlich …

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4 Comments

  • Mata

    Das scheint ja ein practvoller Tag zum Wandern gewesen zu sein. Dein Text ist wie immer sehr lesenswert und wird dem schönen Tag gerecht. Deine Beschreibungen sprechen auf ganz eigene Weise zum Leser.

    Grüße, Mata

    • gorm

      Der Tag war so eine Art leuchtende Insel in einem Meer von trüben Tagen.:-) Aber die Pfalz ist auch ganz grundsätzlich ein schönes Wandergebiet. Vielen Dank für den Kommentar.

      Beste Grüße
      Torsten

  • Jana

    Was hatten wir nur für ein wunderbares Wetter Ende November bei dieser Wanderung, lieber Torsten! Ich staune immer noch. Und wie ich dir ja schon bei der Wanderung sagte, hätte ich nicht gedacht, dass die Tour im November ebenso schön ist, wie sie es im April bei der Mandelblüte war. Es war wieder ein großes Vergnügen, mit dir tolle Eindrücke zu teilen! Fast unnötig zu erwähnen, dass du erneut einen sehr schönen Text dazu geschrieben hast. Den lese ich nach gemeinsamen Wanderungen natürlich besonders gern, weil er mir noch mal alles so gut detailliert in Erinnerung bringt.

    Ganz liebe Weihnachtsgrüße
    Jana

    • gorm

      Hallo, liebe Jana.:-)
      Wir haben uns wieder einmal genau den richtigen Tag für eine Wanderung ausgesucht, war ja schon mehrmals so. Die Strecke war kurz, aber trotzdem einprägsam, eben wegen der tollen Herbsteindrücke. Die Etappe beginnt ja eigentlich bereits in Bad Dürkheim, aber ich denke, für diesen relativ kurzen Tag war Wachenheim genau der richtige Startort. Ich schätze mal, das war nicht unsere letzte Wanderung in dieser Gegend.

      Auch für dich ganz liebe Grüße
      Torsten

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