Wandertouren

TOUR 127 – VON BUCHENAU NACH CALDERN

Als Wanderer wird man, wie ich in einem früheren Text bereits schrieb, nach und nach zu einer Art Sammler. Man sammelt Landschaften, man sammelt Orte, man fügt alten, zunehmend verblassenden Erinnerungen unaufhörlich neue, frischere hinzu. Im Laufe der Jahre entstehen so verschiedene Erinnerungsschichten, das Neue überlagert das Alte, die zeitlichen Zusammenhänge lösen sich dabei allmählich auf, und so erschafft man sich nach und nach eine eigene, ständig sich verändernde Erinnerungslandkarte.

Viele dieser Erinnerungen sind kaum mehr als rinnendes Wasser, das in trockener Erde versickert, sie sind eine Zeit lang da und dann verschwinden sie auf Nimmerwiedersehn. Man wird dessen spätestens gewahr, wenn man sich Fotos bereits länger zurückliegender Touren anschaut. Mitunter bleiben jedoch zu Beginn eher unscheinbare, blasse Bruchstücke erstaunlich lange im Gedächtnis, sie sind die ganze Zeit irgendwie unterschwellig vorhanden und gehen nicht verloren.
Eine dieser zu Beginn seltsam blassen Erinnerungen, die sich aber dennoch über die Jahre hinweg in meinem Gedächtnis gehalten hat, ist der Blick auf die Lahn auf dem Weg nach Nassau hinunter. Ein sehr schöner Blick, so dass es im Grunde ziemlich überraschend ist, dass er über die Jahre hinweg lediglich als relativ unscharfes Bild in meiner Erinnerung existierte. Wesentlich präsenter war von Anfang an der Aussichtspunkt am Gabelstein irgendwo zwischen Balduinstein und Laurenburg, von wo aus die Lahn, eingebettet zwischen Baumspalieren, aussah wie ein grünes, schillerndes Band.

Und damit sind wir gleich bei einem auffälligen Unterschied zu dieser Wanderung von Buchenau nach Caldern. Jana und ich bekommen heute die Lahn nämlich nur zweimal ganz kurz zu Gesicht, und das auch nur, weil wir zu Beginn einige Schritte vom Weg abweichen, um in Buchenau ein Foto von der dortigen Lahnbrücke aus machen zu können. Das zweite Mal, ganz am Ende der Tour in Caldern, registrieren wir die Lahn nicht einmal, so unscheinbar ist sie dort. Von Ausblicken wie bei Nassau oder am Gabelstein kann diesmal keine Rede sein.

Es sind wieder diese letzten Tage des Spätsommers, die bereits so viel Herbst in sich tragen, dass sie von richtigen Herbsttagen kaum noch etwas unterscheidet. Es sind diese Tage, an denen man irgendwie die letzten langen, warmen Sonnentage noch festhalten möchte. Sie sind angefüllt mit der Sehnsucht nach Irgendwas und Irgendwo, zugleich aber auch mit einer unbestimmten, erwartungslosen Zufriedenheit mit dem Hier und Jetzt.

Es ist ein warmer Morgen.
Über den Wiesen liegt ein helles Licht, das sich über Stunden hinweg nicht verändert.
Wir laufen ein paar Meter auf einem flachen Asphaltweg dahin, aber dann kommt auch schon der erste Anstieg, und der bringt uns nach wenigen hundert Metern zum Ort hinaus. Aber noch ist alles so ein wenig wie ein Prolog, eine einleitende Passage, die kaum etwas besagt und aus der man nicht auf das schließen kann, was noch kommt. Mag sein, dass wir halb unbewusst Vergleiche zu den uns bereits bekannten Etappen des Lahnwanderweges vornehmen und dass sich daraus eine gewisse Erwartungshaltung ergibt, aber selbst falls das so sein sollte, ist daran ja nichts Negatives.

Es ist nicht zu übersehen, dass wir uns in einer recht hügeligen Gegend befinden. Sobald wir freie Sicht in die Landschaft haben, sind jede Menge bewaldete Hügel zu erkennen, von der flachen Umgebung sich abhebend wie riesige Schildkrötenpanzer. Die Wege sind meistens breit, auch im Wald. Dort, wo die Bäume nicht ganz so eng beisammenstehen. fällt helles Sonnenlicht in schmalen Kaskaden durch die Äste und reißt Löcher in die Schatten. Auf den Wegen außerhalb des Waldes dagegen gibt es so gut wie keinen Schatten, da ist nichts als mehr oder weniger helles Sonnenlicht. Nur unmittelbar am Waldrand halten sich papierdünne Flatterschattengebilde.

Es ist unverkennbar, dass wir uns in die Stille hineinbewegen. Alles, was wir sehen, ist irgendwie Teil dieser Stille. Wir werden uns dieser Stille immer dann wirklich bewusst, wenn wir für kurze Zeit innehalten. Die Wege sind vollkommen menschenleer, auch die Blicke in die Landschaft zeigen nirgendwo eine Bewegung. Man könnte die Augen für fünf Minuten und länger schließen, und wenn man sie wieder öffnete, hätte man nichts verpasst und nichts hätte sich verändert.
Es ist eine Wanderung, bisher zumindest, bei der wir uns zudem immer am Rand von etwas bewegen – am Rande des Waldes, am Rande einer Ebene. Die Landschaft gewinnt für uns dadurch an Weite, und die Hügel begrenzen diese Weite nicht, sie rahmen sie lediglich ein.

Auf diesen ersten Kilometern bewegen wir uns auf der Gemarkung der Gemeinde Dautphetal. Buchenau, unser Startort, hat zwar nicht die meisten Einwohner aller Ortsteile von Dautphetal, ist jedoch der flächenmäßig größte.
Die Dautphe ist ein Fluss oder vielmehr ein Flüsschen, nicht mehr als 9 oder 10 Kilometer lang, das in die Lahn mündet.
Der Name klingt geheimnisvoll und bis ins letzte Detail scheint seine Herkunft auch noch nicht geklärt zu sein. Vermutlich wäre die Lösung, wie bei so vielen rätselhaften Dingen, letztlich nichts allzu Überraschendes.
In Urkunden des frühen Mittelalters taucht das Flüsschen unter der Bezeichnung Dudafhero marca auf. Der zweite Wortteil -afhero lässt sich dabei wohl auf eine der damals typischen Allgemeinbezeichnungen für Gewässer zurückführen, nämlich -affa bzw. -apa. Der erste Wortteil Dud- hingegen kann, wie es scheint, mit einem Sumpfgewächs in Verbindung gebracht werden. Wie gesagt, nichts allzu Geheimnisvolles vermutlich.

Von jenen einige Jahre zurückliegenden Touren auf dem Lahnwanderweg ist Jana und mir unter anderem die hohe Anzahl von Wiesenpfaden in Erinnerung geblieben. Immer wieder stießen wir darauf, und so bemerkenswert sie waren, so unterschiedlich waren sie auch. Einmal wanderten wir über eine Anhöhe, in der Nähe die Häuser eines kleinen Dorfes. Der Pfad war beinahe schon in abendliches Dämmerlicht getaucht, der Himmel schien mit jeder Minute tiefer herabzusinken und dann erblickten wir am Rande des Pfades einen einzelnen Baum, mitten im Nichts einer Grasebene. Es war dieser Baum, welcher der Szenerie das Besondere verlieh. Unter einem düsteren Himmel hätte man sich ihn ohne Schwierigkeiten auch als Galgenbaum vorstellen können, unter dem immer noch hellen Frühlingshimmel jedoch wirkte er lediglich schön und eigenartig.

Auch bei dieser Wanderung sind Wiesenpfade nicht selten. Und sie passen in diese Landschaft wie Gebirgspässe in die Anden.
Meistens laufen wir jedoch auf breiten Wegen am Waldrand entlang oder durch vom Spätsommerlicht in dunklere Schattenbereiche und hellere Lichtbereiche unterteilte Waldpassagen.
Jana erhofft sich allmählich ein paar schmalere Pfade und vor allem einige Fernblicke mehr. Letztere müssten sich eigentlich noch einstellen, denn unsere Route soll noch an einem Aussichtsturm vorbeiführen.

Irgendwann stehen wir auf einer einsamen Hochfläche und mit einem Mal nimmt die Stille eine beinahe sichtbare Form an.
Es ist eine friedvolle Stille, nicht etwa eine erdrückende oder irgendwie beklemmende. Es ist eine Stille, in der ein Flügelschlag nahezu ohrenbetäubend wirken würde. Ich glaube, das ist der erste Moment auf dieser Wanderung, der so eine Art Begeisterung in uns auslöst.

Kurz darauf traben wir einen lang gezogenen, schnörkelhaften Asphaltweg hinab, auf dem der Horizont von einigen der vorhin erwähnten Schildkrötenpanzer-Hügeln gebildet wird. Davor ein paar Wiesen und Felder sowie einige Baumreihen. Eine Szenerie irgendwo zwischen Beschaulichkeit und Ereignislosigkeit, für eine Wanderung nicht das Schlechteste.
Am Rande des Weges eine Bank. Ein besserer Ort, eine Rast einzulegen, ist kaum vorstellbar. Eine Viertelstunde lang bleiben wir da hocken, hinter uns der Weg, vor uns eine kleine Weide. Keine Bewegung, nirgends.

Im Weiterlaufen gönnen wir uns noch einen Rundumblick. Einige Hügel wirken jetzt recht nah, und für ein paar Minuten sieht es so aus, als würde unser Weg irgendwo durch diese Hügel hindurchführen, aber dann biegen wir scharf rechts ab und traben wieder einen dieser breiten Waldwege bergan, die man im Grunde untereinander austauschen könnte, ohne dass es besonders auffallen würde.

Noch befinden wir uns übrigens innerhalb der Gemarkung der Gemeinde Dautphetal, die von Buchenau haben wir allerdings mittlerweile verlassen.
Buchenau ist by the way alle sieben Jahre Schauplatz eines Volksfestes, des „Buchenauer Grenzgangs“, bei dem jede Menge Menschen die Grenzen der Buchenauer Gemarkung ablaufen.

Der stille, warme Mittag geht allmählich in einen ebenso stillen, aber noch wärmeren Nachmittag über. Die Wolken sind seidenpapierdünn und jedes Detail der Landschaft ist noch in weiter Entfernung deutlich wie durch eine Lupe zu erkennen. Die Fernblicke werden jetzt häufiger, und wie zuvor bestehen sie aus Ebene und Hügeln, nur dass die Hügel jetzt eher verstreute flache Hubbel sind, kleine Landschaftsdellen, weniger richtige Anhöhen. Aber diese offene Landschaft gefällt uns und vor allem Jana viel besser als die ständigen breiten Waldschneisen zuvor.

Einen langen Anstieg später sind wir am Rimbergturm, einem 24 Meter hohen Aussichtsturm auf knapp 500 Metern Höhe.
Es ist niemand da, ein vollkommen von Menschen gemiedener Ort scheint es aber ganz und gar nicht zu sein, denn der Mülleimer am Fuße des Turms quillt bereits über.
Wir steigen gemächlich den Turm hinauf, und oben angelangt, bietet sich uns der mit weitem Abstand grandioseste Fernblick des Tages. Wir schauen über ein Heer von Hügeln hinweg, allesamt bewaldet, die umgeben sind von hellen Feld- und Wiesenflächen. Gegen den Horizont hin rückt alles näher zusammen, die helleren Anteile der Landschaft werden vom Grün der Hügel verschluckt.
Im Vordergrund eine Armee von Bäumen, die gerade so in unser Blickfeld hineinragen, aber ansonsten ist alles irgendwie Ferne. Irgendwo in der Mitte ein Dorf, weiter hinten ein paar Windräder, die aber in der Weite nahezu unsichtbar sind. Der Horizont ist eine blaue, unscharfe Linie, man ahnt noch eine Hügelwelle, aber sie ist nicht mehr wirklich erkennbar, sondern geht in ein diffuses, blaues Rauschen über.

Man könnte beinahe sagen, dass dieser Turm und vor allem der Ausblick von dort oben alles ändert. Von diesem Moment an wird aus einer ganz netten Wanderung eine wirklich schöne. Und von diesem Moment an wandelt sich auch – zumindest für eine gewisse Zeit – die Charakteristik der Pfade, denn mit einem Mal sind da nicht mehr nur diese breiten Waldschneisen, sondern es gibt schmale, verschnörkelte Pfade, die im Vergleich zu den Waldautobahnen fast wie Verzierungen wirken. Wir trotten Böschungen hinab, über welche der Pfad gleichsam wie ein Rinnsal hinabstürzt, links und rechts knöchelhohes Gras. Es ist, als hätten wir beim Turm die Schwelle wenn nicht zu einer anderen Welt, so doch wenigstens zu einem vollkommen eigenen Landschaftsraum betreten.

Nach einiger Zeit finden wir uns dann doch auf einem breiten Pfad wieder, der entlang des Waldes verläuft. Noch immer gibt es vereinzelte Fernblicke, und ihnen allen ist gemeinsam, dass sie still wie ein Landschaftsgemälde wirken. Es gibt keine Bewegung außer unserem eigenen Voranschreiten. Und das ist im Grunde während der gesamten Wanderung so gewesen. Einmal, mitten im Nirgendwo, kam uns ein Wanderer entgegen, und das war seit Buchenau das einzige Mal, dass wir jemanden zu Gesicht bekommen bzw. eine von Menschen ausgehende Bewegung wahrgenommen haben.

An einer Weggabelung wenden wir uns nach rechts und nach einer gewissen Zeit sehen wir dann unseren Zielort Caldern vor uns. Um zum Bahnhof zu gelangen, müssen wir jedoch den ganzen Ort durchqueren und dann sogar noch ein Stück weiter an der Landstraße entlanglaufen.
Es ist 15 Uhr und heiß wie in einem Backofen.
Aber die kühlen Tagen kommen noch früh genug.

3 Comments

  • Jana

    Du hast diese Wanderung wieder so schön beschrieben, dass ich gleich noch mal mit dir loslaufen möchte, lieber Torsten. Ich sehe uns in Gedanken oben auf dem Aussichtsturm stehen und die Fernblicke bestaunen. Die waren die Entschädigung dafür, dass wir diesmal die Lahn so gut wie nicht zu sehen bekamen.
    Bald geht’s an die Mosel, ich freue mich schon.

    Liebe Grüße
    Jana

    • Torsten Wirschum

      Insgesamt eine schöne Wanderung gewesen, liebe Jana. Der Turm war natürlich das Highlight. Tolle Fernblicke von da oben. Damit haben wir insgesamt sieben Etappen auf dem Lahnwanderweg gemacht, und wir haben ja schon gesagt, dass es dabei vermutlich bleiben wird.
      Jetzt auf zur Mosel!:-)

      Liebe Grüße
      Torsten

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