Wandertouren

TOUR 64 – HOMBURG: SCHLOSSBERGTOUR & HERZOG-II-KARL-AUGUST-PFAD

Vor einigen Monaten las ich den Reisebericht eines Pilgers, in dem ich irgendwann auf die Aussage stieß, dass ihm die konkrete Route, auf der er seine Ziele erreiche, gar nicht so wichtig sei.
An diesem Satz blieb ich hängen.
Erstens, weil er in Zeiten exakt festgelegter GPS-Touren für eine immer seltener werdende Einstellung zum Unterwegssein steht.
Und zweitens natürlich, weil er meiner eigenen Herangehensweise ziemlich nahekommt.

Freiwillige oder unfreiwillige Umwege, mich treiben lassen, spontane Veränderungen der Route und – wenn es sein muss – auch des Zielortes, das gehört für mich zum Gehen genauso dazu wie Rucksack und Wanderschuhe. Dass es Touren gibt, bei denen ich einfach nur möglichst unproblematisch von A nach B kommen und das Wandern genießen möchte, ohne mich von irgendetwas ablenken zu lassen, das steht natürlich ebenso außer Frage.

Heute zum Beispiel ist so ein Tag, an dem mir der Sinn nach einer Wanderung ohne irgendeinen Anflug von Komplikationen steht.
Dazu passt, dass ich bereits auf dem Bahnsteig, eigentlich sogar schon auf den letzten Minuten der Zugfahrt, eine irgendwo zwischen Vorfreude und Entdeckerfreude angesiedelte Stimmungslage habe, die nichts anderes anstrebt, als sich später auf der Wanderung an sanftem Blätterrauschen und an dem stillen, klaren Licht der Frühlingssonne zu ergötzen.

Wie schon einmal vor gut zwei Jahren ist mein erstes Ziel die Ruine der Hohenburg oberhalb von Homburg.
Vom Bahnhof aus wandere ich ohne einen Schatten von Eile durch die nicht gerade belebte Fußgängerzone.
Es ist warm, das Blau des Himmels würde die Anwohner einer Südseelagune neidisch machen, und wohin ich auch schaue, da ist nirgends etwas, das irgendwie verschwommen, trübe, grau oder hässlich aussieht.

Im Vorbeigehen werfe ich einen Blick auf eine ganz respektable Kirche, deren achteckiger Turm besonders ins Auge springt.
Von hier an geht es eine Weile bergauf, zunächst über Kopfsteinpflaster, dann über eine Treppe, die so nahe an den Häusern vorüberführt, dass man beinahe den Eindruck hat, mitten durch die Wohnräume zu laufen.
Schon bald aber zeigt sich das erste Grün, und es stört mich nicht im Geringsten, dass es nur das übliche Efeugrün ist.

Die Besichtigung der Hohenburg oder vielmehr dessen, was davon noch übrig ist nach gut sieben Jahrhunderten, nimmt nicht allzu viel Zeit in Anspruch.
Was nicht an der Ruine liegt, sondern in erster Linie daran, dass ich mich noch ganz am Anfang der Wanderung befinde und mir mehr nach Gehen als nach Besichtigen zumute ist.
Ich laufe ein paarmal hin und her, das schon, aber ich inspiziere nicht jeden Stein.

Wenn man sich die Entfernung der einzelnen Mauerreste zueinander anschaut, dann muss die Burg enorme Ausmaße gehabt haben.
Vielleicht nicht in ihrer ursprünglichen Bestimmung als Sitz hiesiger mittelalterlicher Grafen, aber doch spätestens ab dem Zeitpunkt, als der Festungsbaumeister Ludwigs des XIV. – Sébastien de Vauban – die Burg Ende des 17. Jahrhunderts zu einer Festung ausbauen ließ.

Aus dem ohnehin schon wunderbar klaren Morgen beginnt nun ganz allmählich, ein strahlend heller Tag zu werden. Der Himmel ist beinahe durchsichtig blau, wie flaches Wasser. Die Hügel, die den Horizont begrenzen, wirken dünn und fast gläsern.
Ein paar hundert Meter laufe ich noch an immer dürftigeren Überbleibseln der ehemaligen Festung vorüber, dann befinde ich mich auf einem breiten, lichtüberfluteten Waldweg.
Wie von selbst verlangsamen sich meine Schritte. Die Geräusche der Stadt, eben noch ganz nah, entfernen sich wie Quasare.

Die Helligkeit hat den Vorteil, dass ich nicht ohne Unterlass im Voraus mit den Augen den Weg suchen muss, wie es an dunkleren Tagen so oft der Fall ist. Ich kann völlig entspannt vor mich hin wandern und muss nur darauf achten, nicht irgendwo eine Abzweigung zu verpassen.

An einer Kreuzung schlage ich für ein paar Nanosekunden doch mal einen Irrweg ein. Aber selbst wenn ich in der falschen Richtung weiterlaufen würde, irgendein Wanderweg würde mich trotzdem zu irgendeinem Ziel bringen, denn es wimmelt von Wandersymbolen an den Bäumen. Saarland-Rundweg, Saar-Pfalz-Weg, Saar-Main-Weg und so weiter. Aber heute ist kein Tag der Experimente und Umwege. Deshalb kehre ich um und wandere auf der Schlossberg-Tour weiter.

Fünf, vielleicht sechs Kilometer – von der Burgruine an gerechnet – ist es, als wäre dieser Wanderweg so eine Art Manifestation meiner eigenen Wünsche und Vorstellungen, jedenfalls für hier und für jetzt.
Der Wald zeigt jede Menge unterschiedlicher Gesichter.
Manchmal glänzen die Blätter im Mittagslicht beinahe wie Seide, ein paar Augenblicke später sickert irgendwo von den Rändern matteres Licht ins Blickfeld, dann kommt plötzlich eine Lichtung, ein ganz offener Raum voller Licht, ein paar Meter weiter bin ich dann aber schon wieder unter dichten Bäumen, zwischen denen die Schatten hierhin und dorthin springen – Sonne, Schatten, Sonne, Schatten.
Und es gibt auch diesen einen nicht austauschbaren Moment, in dem ich mich mit einem Mal in einer beinahe sphärischen Zwischenwelt wiederfinde, das heißt, eigentlich sind es sogar ein, zwei Minuten, aber hinterher habe ich doch vor allem ein ganz bestimmtes Bild vor Augen, nämlich das von ein paar hölzernen Stufen, die zwischen den Bäumen hindurch ins Licht hineinführen.

Ich genieße es, das alles auf mich wirken zu lassen.
Ich genieße es, das Gefühl zu bekommen, dass nichts gegeneinander arbeitet.
Man schafft sich Räume mit dem Gehen.
Nicht nur geografische Räume.
Sondern auch Erinnerungsräume.
Und im Laufe der Zeit werden es immer mehr.

Anstiege, die diese Bezeichnung verdienen, gibt es so gut wie gar keine. Höchstens mal ein paar Meter, dann ist es schon wieder vorbei damit.
Ich durchwandere eine kleine Schlucht oder besser gesagt eine Kerbe in der Landschaft, mit flachen Hängen und Felsen, die aus der Erde hervorzuwachsen scheinen.
Obwohl ich mich die ganze Zeit ausschließlich im Wald aufhalte, kann ich mich über mangelnde Abwechslung wirklich nicht beklagen.

Ein wenig Wind kommt auf.
Ebbt wieder ab.
Wieder dieses Sonne-Schatten-Spiel.
Dann plötzlich lichte Baumkronen und es ist nur noch Sonne da.
Ich spaziere an einem Weiher vorüber und zum ersten Mal seit der Hohenburg verlasse ich den Wald.
Vor mir sehe ich eine Brücke mit blauem Geländer und eine Landstraße ohne Mittelstreifen.
Irgendwo hier in der Nähe muss die Schlossberg-Tour jetzt auf den Karl-August-Pfad treffen, und dann sollten sich möglichst rasch auch ein paar Wegweiser zeigen, damit ich weiß, welche Richtung ich einschlagen muss. Der Karl-August-Pfad ist ungefähr 15 Kilometer lang und ziemlich genau zwei Drittel davon will ich abwandern, ehe ich wieder auf die Schlossberg-Tour wechsle.

Sollte ich irgendwelche verborgenen Bedenken gehabt haben, diesen zweiten Pfad des Tages zu finden, dann werden sie sofort zerstreut, denn kaum habe ich die Landstraße überquert, sehe ich auch schon einen Parkplatz vor mir, den ich auf den ersten Blick als Wanderparkplatz einordne.
Keine Minute später dann die ersten Wegweiser des Karl-August-Pfades.

Der Anfang ist nicht schlecht.
Ein stiller, dunkler Wald, mit dem ich mich anfreunden könnte.
Schon nach wenigen hundert Metern jedoch finde ich mich auf einer asphaltierten Straße wieder, die ich mit Autos, Mopeds, Fahrradfahrern und Joggern teilen muss. Wenn das eine einsame Straße irgendwo in Unterfranken oder dem Bayerischen Wald wäre, dann wäre das sogar eine willkommene Abwechslung, nicht aber, wenn ich alle paar Meter Halbkreise und andere geometrische Figuren ablaufen muss, um irgendeinem Gefährt auszuweichen.
Okay, ich bin schließlich nicht allein auf der Welt, und immerhin ist der Himmel noch immer so makellos blau, als gäbe es keine andere Farbe mehr.

Wenig später führt der Pfad an ein paar Wiesen vorüber und dann in einen Wald hinein, der von der Mittagssonne angefüllt ist wie ein Haus, von dem man das Dach abgedeckt hat.
Auf den freien Flächen ziehen die Schatten sich immer mehr zurück.
Ab und zu bewegt der Wind einen Ast oder Zweig, sonst scheint der Wald, scheint die Landschaft zu schlafen.

Auf einer Bank nicht weit von einem Dorf mit einer schönen kleinen Kirche lege ich eine kurze Rast ein.
Aus der Entfernung wirken die Häuser wie Spielzeuggebäude. Im Verhältnis dazu erscheinen die Windräder auf den Hügeln ringsum riesengroß.

Eine Viertelstunde lang tue ich einfach gar nichts, außer Minute um Minute die Zeit verstreichen zu lassen.
Meine Gedanken zerstreuen sich für eine Weile. Mein Denken arbeitet weiter, aber im Hintergrund, unauffällig, dezent.
Die Gegend ist nicht abgeschieden und nicht einsam genug für eine wirklich erhabene, gleichsam in der Landschaft verwurzelten Stille, die sich anfühlt wie ein Erwachen an einem Wintermorgen in einer Blockhütte am Rande eines norwegischen Fjords.
Aber es ist trotzdem eine spürbare Stille. Es gibt kleine, ferne Geräusche, die jedoch den Eindruck von Stille eher sogar vertiefen, als ihn zu zerstören.

Nachdem ich wieder aufgebrochen bin, wird mir irgendwann bewusst, dass ich eine Weile gar nicht so sehr auf den Weg geachtet habe, sondern nur so vor mich hingewandert bin.
Man hat schließlich immer die Wahl: Man muss nichts entdecken, wenn man gerade keine Lust dazu hat, oder wenn es sich eben so ergibt.

Hinter dem Dorf führt der Pfad in einen schmalen Hohlweg hinein.
Licht flutet mir entgegen.
Für eine halbe Stunde wird es jetzt wirklich idyllisch.
Der Pfad verläuft meistens durch einen schönen, offenen Frühlingswald, manchmal aber auch an kleinen Weiden vorüber, die den Eindruck erwecken, als wären sie irgendwann einmal von irgendjemandem eingezäunt und dann vergessen worden. Mitunter verengt sich der Weg zu etwas, das aussieht wie das ausgetrocknete Bett eines unbegradigten Flusses, und genau das sind im Grunde die schönsten Passagen.
Blau und Grün, sonst gibt es eigentlich keine Farben, aber eine passendere Kombination könnte es für hier und heute nicht geben.

Beschwingt laufe ich einen kleinen Abhang hinunter.
Wieder eine Landstraße.
Wieder eine von diesen wenig befahrenen, bei denen man aber jeden Moment damit rechnen muss, dass wie aus dem Nichts ein Fahrzeug heranrast.
Kurz darauf muss ich einen Acker überqueren, auf dem der Bauer gerade dabei ist, die Szenerie in eine Staubhölle zu verwandeln.
Und kaum kann ich wieder einigermaßen frei atmen, folgt die nächste Landstraße.

Ich würde mich wirklich sehr gern auf die Frühlingsatmosphäre und noch ein paar andere Dinge konzentrieren, aber irgendwie lassen die Umstände es nicht mehr zu.
Gerade habe ich den Entschluss gefasst, es mir auf einer Bank unmittelbar neben dem Pfad bequem zu machen, da dringt aus irgendeiner unbestimmbaren Richtung ein lauter Knall an mein Ohr.
Ich bin noch nicht mal dazu gekommen, mir klarzumachen, dass es sich um Gewehrschüsse – wahrscheinlich von irgendeiner Schießsportanlage – handelt, da folgt schon der nächste Knall.
Fünf Sekunden später nicht nur ein einzelner Knall, sondern drei innerhalb eines Augenblinzelns.
Ich beschließe, von der Rast abzusehen und weiterzuwandern.

Als ich eine Stunde später bei der Orangerie des Schlosses Karlsberg ankomme, wo ich wieder auf die Schlossberg-Tour wechsle, hat der Lärm immer noch kein Ende gefunden. Fast im Sekundenabstand dröhnen Gewehrschüsse durch den Wald.
Die Spaziergänger, denen ich begegne, scheinen daran gewöhnt zu sein, denn keiner von ihnen nimmt Notiz davon.

Irgendwann ist dann endlich Ruhe.
Ich wandere durch einen Wald, in den die Stille zurückgekehrt ist.
Für ein paar Minuten trübt es sich ein und zwischen den breiten, schwarzen Stämmen der Bäume wird es dunkel wie in einer Abstellkammer. Der Blick verfängt sich in einem Gespinst aus dunstigem Grau.

Dann aber wieder gleißendes Licht.
Genau zum richtigen Zeitpunkt, um dafür zu sorgen, dass die Wanderung mit positiven Eindrücken abgeschlossen wird: In den Pfad hineinragende Felsen, schimmernde Lichtadern, manchmal kaum breiter als ein Finger, dunkles Moos, das aus den lichtarmen Bereichen zwischen den Wurzeln hervorleuchtet, fadendünne Schatten irgendwo, mitunter das weiße Leuchten schlanker Birkenstämme, überhängende Äste, unter denen ich wie unter einem Torbogen hindurchlaufen kann, und dann auch noch ein Weg, bei dem ich kaum Energie aufwenden muss, um voranzukommen.

Zum Ende hin wandere ich irgendwo unterhalb der Burgruine und irgendwo oberhalb von Homburg durch die Nachmittagssonne. Ich gelange wieder zu der Treppe, die ich am späten Vormittag zur Burgruine hinaufgestiegen bin.
Einen Moment lang bleibe ich stehen.
Am Himmel treiben ein paar Schönwetterwolken dahin.
Aus der nahen Stadt dringen Stimmen und Gelächter zu mir herauf.

Ich mache mich auf den Weg zum Bahnhof.

 

Noch eine Tour mit Start in Homburg:

Tour 29 Von Homburg nach Lautzkirchen

Manchmal ist es gut, dass man nicht vorher weiß, was

einen erwartet, denn wenn man es wüsste, würden viel-

leicht die Zweifel einsetzen, und Gedanken, schwer wie

Steine, würden im Kopf zu rotieren beginnen, mehr und

immer mehr, und irgendwann hätte man diesen Zweifeln

und diesen Gedanken vielleicht nichts mehr entgegen-

zusetzen und…    weiterlesen      Bildergalerie

 

4 Comments

  • Sylban

    Ich selbst bin auch fast ausschließlich mit GPS unterwegs, aber es stimmt schon, spannender und interessanter zu lesen ist es, wenn der Wanderer spontan agiert bzw. ohne vorher große Festlegungen vorzunehmen. Das sieht man ja auch an deinen Texten sehr gut. Kommt aber alles sicher auch darauf an, wo man unterwegs ist bzw. wie viel Zeit man hat.
    Welcher der beiden Pfade dieser Tour hat dir besser gefallen?

    Gruß, Sylban

    • gorm

      Vielen Dank für den Kommentar.
      Beide Pfade hatten ihren Reiz, allerdings hatte die Schlossbergtour einfach mehr Passagen zu bieten, die mir persönlich besser gefallen haben. Insgesamt war die gesamte Tour sehr „waldlastig“, und man muss ehrlicherweise sagen, dass da auch Abschnitte dabei waren, die einen nicht gerade vom Hocker gehauen haben. Insgesamt aber eine nette Tour, die ich schon lange machen mal wollte.

      Beste Grüße
      Torsten

  • Jana

    „Man schafft sich Räume mit dem Gehen.“ Ja, das ist in der Tat so – und das ist u. a. auch das Schöne am Gehen. Mir scheint, dass diesmal ein bisschen viel Landstraße mit dabei war, die diese herrliche Waldstille unterbrach, oder? Von den Gewehrschüssen mal ganz abgesehen. Bringt dich so was eigentlich schnell aus dem Konzept? Nichtsdestotrotz warst du wieder in einem sehr schönen Wald unterwegs, wie man an den Bildern sehen kann. Und wenn dann noch so ein schönes Wetter herrscht, ist das Gehen auch optisch reiner Genuss.

    Liebe Grüße
    Jana

    • gorm

      Hallo, liebe Jana.:-)
      Nein, aus dem Konzept bringen mich solche Dinge nicht. Natürlich ist es angenehmer zu wandern, wenn man nicht alle paar Sekunden das Knallen von Gewehrschüssen hört.:-)
      Die Wanderung führte in erster Linie durch Wald, was an einem Tag, an dem so toll die Sonne scheint, sehr angenehm ist. Bei Premiumwanderwegen ist es im Prinzip auch nicht anders zu erwarten. Ich gehe mal davon aus, dass bei solchen Wanderpfaden die Wegbetreiber darauf achten, eine möglichst attraktive Streckenführung – eben auch mit viel Wald – hinzukriegen.
      Einzelne Premiumwege wandere ich ja fast überhaupt nicht mehr, ich nutze sie im Allgemeinen nur noch als Teilstück einer Wanderung oder als Bindeglied zwischen verschiedenen Wanderabschnitten. Für Leute, die ausschließlich einen schönen Waldpfad zum Genusswandern suchen, ist die Schlossberg-Tour wirklich zu empfehlen, allerdings war zumindest an diesem Tag der Lärmpegel durch die Schüsse relativ hoch.

      Liebe Grüße für dich
      Torsten

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