Wandertouren

TOUR 60: NIEDALTDORF – AMMONITENWEG & HIRN-GALLENBERG-TOUR

Es ist die erste Tour des noch jungen Jahres.
Vielleicht ist das der Grund, warum ich fast so ein wenig das Gefühl habe, zu einer längeren Pilgertour aufzubrechen, obgleich es nicht einmal eine allzu lange Wanderung werden wird und obgleich an diesem Tag kaum etwas zu finden ist, was überhaupt dazu ermuntert, stundenlang durchs Gelände zu marschieren.
Wie bei so vielen Touren zuvor ist das im Grunde jedoch eine ganz unkomplizierte Entweder-oder-Angelegenheit: Entweder ist der innere Antrieb vorhanden oder eben nicht, entweder man richtet sich auf die Umstände ein oder es ist besser, man bricht gar nicht erst auf.

Zum Auftakt gibt es ein paar zaghafte Sonnenstrahlen, die den Bahnsteig mit einem Gespinst aus kaltem, leuchtendem Winterlicht überziehen. Ich würde ja gerne sagen, dass mich dieses Licht auf der gesamten Wanderung begleitet, aber die Wahrheit ist, dass es nur ein Intermezzo bleibt und dass ich nicht einmal eine Stunde später durch ein düsteres, gleichsam versinkendes Regenland wandern werde, in dem es buchstäblich nicht einen einzigen Lichtblick mehr geben wird.

Vor knapp zwei Jahren bin ich schon einmal von diesem Bahnsteig aus gestartet.
Auch damals ein Wintertag.
Auch damals dieses besondere Grenzwegegefühl, das daraus resultiert, dass ich mich hier in unmittelbarer Nähe zu Frankreich befinde und dass so ziemlich jeder Quadratmeter Erdboden ringsumher Teil einer Historie ständig wechselnder politischer und gesellschaftlicher Gegebenheiten ist, nicht zu reden von den vielen vergessenen und den wenigen nicht in Vergessenheit geratenen individuellen Schicksalen.

Die Strecke von heute allerdings ist für höchstens zweihundert Meter identisch mit der von damals, nämlich exakt bis zu der kleinen Brücke über die Nied mitten im Ort. Vor zwei Jahren habe ich die Brücke überquert und bin weiter zum Start des Druidenpfades marschiert, heute lasse ich die Brücke rechts liegen und wandere geradeaus weiter.
Eine erste noch ziemlich flüchtige Ahnung von stumpfem Grau am Himmel. Das heißt, wenn man etwas genauer hinsieht, ist es bereits erheblich mehr als nur eine flüchtige Ahnung.

An einem Straßenschild bemerke ich das Symbol des Ammonitenweges. Ich komme gar nicht erst dazu, darüber nachzudenken, ob ich damit gerechnet habe, es so rasch und problemlos zu entdecken. Die wesentlich größere Überraschung ist jedenfalls der Wegweiser des Grenzblickweges, an dem ich kurz darauf vorüberlaufe. Okay, wenn ich es mir recht überlege, dann ist es eher erstaunlich, dass es so überraschend für mich ist, hier auf den Grenzblickweg zu stoßen, denn dass dieser in einem Nachbarort von Niedaltdorf startet, war mir schließlich bekannt.

Unmittelbar hinter den letzten Häusern ein erster Fernblick, einer von vielen an diesem Tag: Felder, Wiesen, Baumruinen, kleine Hügelwellen, eine hinter der anderen, wie abgesunken die Mulden und Vertiefungen dazwischen, eine völlig entkleidete, nackte Landschaft.
Obwohl der Himmel so etwas wie blau ist, kein Leuchten.

Der Wind wird stärker, aber noch bleibt die Sonne. Im Wald matteres Licht, über den Wipfelästuaren der Bäume strömt dafür ein plötzlich doch intensiv leuchtender Himmel dahin. An manchen Stellen tasten Ausläufer dieses Leuchtens sich die Stämme hinab bis fast zu den Wurzeln vor, Moos schimmert grün zwischen braunem, vermodertem Laub hervor.

Irgendwo im Wald zweigt der Ammonitenweg nach links ab, ich aber laufe noch ein paar hundert Meter auf dem Grenzblickweg weiter.
Was die Intensität des Lichts betrifft, ist das vielleicht der beste Kilometer der gesamten Wanderung. In einer Entfernung, in der nicht einmal eine Stunde später alles hinter einem grauen Vorhang verschwunden sein wird, erkenne ich jetzt noch jedes Detail der Landschaft. Das Grün der Wiesen ist ein richtiges Grün, das Blau des Himmels ein richtiges Blau.

Zurück auf dem Ammonitenweg steige ich einen steilen Pfad hinab, der wahrlich nicht dafür gedacht ist, an einem Tag als Wanderweg zu dienen, an dem man ohnehin schon beinahe auf Schritt und Tritt aufpassen muss, nicht auf irgendeiner tückischen Stelle auszurutschen.
Von einem Augenblinzeln zum nächsten ist die Sonne weg, überall nur noch graues Licht. Die Luft ist feucht und schwer. Es dürfte nur noch eine Frage der Zeit sein, bis es anfangen wird zu regnen.

Ich laufe an einem Weiher vorüber, an dessen Rand sich irgendwie ein paar allerletzte Lichtinseln gehalten haben. Wate dabei über einen Pfad, der sich mit Nässe vollgesogen hat wie ein Handtuch.
Auf dem Weg hinauf zum Sudelfels ist es auch nicht viel besser, aber immerhin bietet der wie mit ganz leichter Hand in die Landschaft hineingezeichnete Pfad eine gewisse optische Ästhetik.

Oben angekommen, stehe ich dann vor den Überresten eines gallo-römischen Quellheiligtums, dessen früheste Ursprünge irgendwo um das 1. Jahrhundert herum vermutet werden. Die am Rande des Areals liegende villa rustica allerdings kam wohl erst 100 bis 150 Jahre später hinzu.
Ein paar Schritte weiter entdecke ich einen von Steinen eingefassten Brunnen, bei dem es sich um ein der keltischen Göttin Sirona geweihtes Nymphäum handelt.

Kurzes Nachdenken über Zeiträume.
1900 Jahre hört sich nach einer enormen Zeitspanne an. Aber es sind letztlich nicht mehr als 25 aneinandergereihte menschliche Lebenswege, 25 mal rund 75 Jahre, was das Ganze nach meinem Empfinden um einiges überschaubarer macht.

Dann beginnt der Regen.
Ein kalter, unaufhörlicher Regen, der im Handumdrehen alles in eine verschwommene, zerfließende, konturenlose Wasserwelt verwandelt.
Die Landschaft wirkt düster und einsam, die Bäume sind fast schwarz und es sieht aus, als würden sie jeden Moment im Regen davontreiben.
Eigentlich fehlen jetzt nur noch ein englisches Hochmoor und der Hund von Baskerville.

Der Regen lässt keine Sekunde lang nach und er wird begleitet von Böen, die in immer kürzeren Abständen auftreten.
Jedes Mal, wenn ich einen kurzen Blick in die Runde werfe, ist das dunstige Gespinst über den Wiesen noch eine Spur grauer geworden. Es dauert keine Viertelstunde, da gibt es nur noch mich und den Regen und den Wind. Und vielleicht noch den Gedanken, warum es sich gerade trotz allem so anfühlt, als würde ich genau das Richtige am richtigen Ort tun.

Einerseits ist der stete Regen natürlich lästig, und dass ich die kalten Windböen zu schätzen wüsste, kann ich auch nicht gerade behaupten. Aber da gibt es auch noch eine andere Sicht auf die Dinge, und die besagt, dass eine Wanderung durch den Regen durchaus einen gewissen Reiz haben und vielleicht sogar so etwas wie inspirierend sein kann.

Obwohl ich mich auf einer dem Wind preisgegebenen, nach allen Seiten hin schutzlosen Anhöhe befinde, bewege ich mich fast wie in einem umschlossenen gläsernen Raum, das Prasseln des Regens übertönt jedes andere Geräusch. Falls in dieser einsamen Wasserwelt überhaupt andere Geräusche vorhanden sein sollten.
Wie üblich bei Regenwanderungen wird der Ausschnitt der Umgebung, den ich noch wahrnehme, kleiner und kleiner, die Blicke in die Weite werden seltener, ich setze einfach einen Schritt vor den nächsten.

Gehen kann uns zu unseren Wurzeln führen, in eine Innenwelt besonders stiller oder besonders klarsichtiger Gedanken, es kann uns herausführen aus dem Treibsand von Erinnerungen und Ahnungen und Oberflächlichkeiten des Alltags, kann Türen zu Kammern in unserem Denken öffnen, die wir sonst nur selten betreten.
Und an Tagen, an denen es Regen und Wind gibt anstatt eine die Umgebung bis ins winzigste Detail offenbarende Sonne, da ist das vielleicht sogar eher möglich.
Vorausgesetzt, man hat nicht so sehr mit den widrigen Umständen zu kämpfen, dass man ohnehin gar nicht mehr richtig nachdenkt, sondern es nur noch ums Durchhalten und Überstehen geht.

Es regnet ohne die kleinste Unterbrechung.
Die Zeit scheint langsamer zu vergehen.
Minute um Minute wandere ich über einen grauen Asphaltweg. Das Grün der Wiesen ist zwar erstaunlich intensiv, aber nur in unmittelbarer Nähe. Schon in hundert Metern Entfernung verschwimmt alles im Regendunst und wirkt dadurch so fern wie der Mond über Island in einer Nebelnacht.

Irgendwann – deutlich früher als erwartet – stoße ich auf den ersten Wegweiser der Hirn-Gallenberg-Tour.
Ich biege auf eine glitschige Wiese ab, die aber im Vergleich zu dem schlammigen, von nassem Laub bedeckten Waldpfad, auf dem ich mich wenig später voranarbeite, fast komfortabel erscheint.
Im Wald existiert auch nichts Grünes mehr. Dominant ist jetzt ein fast bräunliches, ziemlich schäbiges Rot.

Ich halte trotzdem immer wieder mal im Gehen inne.
Manchmal nur für ein paar Atemzüge, manchmal für einen ausgedehnten Rundumblick. Natürlich kann man nicht einmal ansatzweise so weit in die Ferne schauen wie an einem hellen Sommertag, aber dieser dunstige, sich im Ungewissen verlierende Horizont ist auch nicht schlecht.

Um die Mittagszeit herum befinde ich mich auf dem Hirnberg.
Schon wieder so eine vom Wind in Besitz genommene Anhöhe.
Ich steige den hölzernen Aussichtsturm hinauf, der weithin sichtbar dort aufgestellt worden ist.
Pi mal Daumen ist die Grenze zu Frankreich nicht mehr als 500 Meter entfernt. Der Regen hat aufgehört, aber dennoch gibt es keine weiten Horizonte. Alles wirkt ein wenig, als würde ich es durch eine beschlagene Brille betrachten.

Allmählich kriecht die Kälte in jede Kuhle, in jeden Graben.
Vom Hirnberg aus schlittere ich mehr als ich gehe in eine Senke hinab.
Trotzdem ist das ein sehr schöner Abschnitt, vorüber an ehemaligen Weinbergen und dann über schmale Stufen zwischen efeuumrankten Bäumen hindurch.

Kaum bin ich unten, darf ich sofort wieder bergauf marschieren.
Es gibt jetzt nichts Helles mehr, nur noch Grau, und mittlerweile rechne ich auch nicht mehr damit, dass sich das noch einmal ändert.
Aber so kann man sich täuschen.
Nicht einmal eine Viertelstunde später stiehlt sich ganz allmählich und behutsam die Sonne ins Grau. Wärme bringt sie zwar nicht mit sich, aber dafür ein wunderbares, goldgelbes Licht, das einen die Januarkälte vergessen lässt.

Der Himmel ist nicht länger ein dunkler See, die Horizonte rücken wieder weiter weg.
Auch der Wald ruht still und hell in dem neu entfachten Licht. Es ist ein leerer Wald, er sieht aus wie aus vielen Einzelteilen zusammengesetzt. Nichts scheint sich zu berühren, überall Lücken und Schneisen, überall freie Korridore.

Die Hirn-Gallenberg-Tour ist weniger als acht Kilometer lang und ich gehe sie nicht einmal bis ganz zu Ende, sondern biege ein paar hundert Meter vor dem Ziel wieder ab in Richtung Niedaltdorf.
Ich wandere nun auf einem irgendwo in der Ferne mit dem Horizont verschmelzenden Weg dahin, rechts und links Wiesen wie ausgerollte Teppiche, sanft glänzend in der Sonne, weit draußen bläulich schimmernde Hügel.

Am Himmel gibt es zwar mehr Wolken als Irrtümer in der Geschichte der Wissenschaften, aber ungeachtet dessen behält die Sonne jetzt die Oberhand. Endlich kann ich den Blick richtig weit vorauseilen lassen. Zum allerersten Mal für heute ist da dieses Gefühl, dass der Pfad mich mit sich trägt, ich fühle mich beinahe als Teil des Weges und der Landschaft.

Ich passiere – allerdings aus der entgegengesetzten Richtung kommend – die Stelle, an der ich am Vormittag auf die Hirn-Gallenberg-Tour abgebogen bin, und wenig später trabe ich an der Abzweigung zum Sudelfels vorüber.

Lange bevor ich Niedaltdorf erreiche, sehe ich es schon in einer Senke vor mir liegen.
Irgendwie erwarte ich immer noch, dass die Sonne wieder hinter dichten, schwarzen Wolken verschwindet oder dass es aus heiterem Himmel zu regnen beginnt, aber nichts davon geschieht.
Es fühlt sich beinahe an wie Frühling in Paris.
 

Noch eine Wanderung von Niedaltdorf aus:

Tour 28 Von Niedaltdorf nach Siersburg

Ich wusste, dass es das Ende war. Der Schmerz zerfetzte

meine Lunge, schnürte mir die Luft ab, tötete mich. Mein

Herz zersprang, meine Muskeln lösten sich auf. Ich keuchte,

schnappte nach Luft.

Mein flackernder Blick irrte die Anhöhe hinauf, die mir nun

viel länger und steiler erschien als von ganz unten. Das

einzig Gute war,…    weiterlesen      Bildergalerie

5 Comments

  • Mata

    Ich finde es immer wieder erstaunlich, was du aus den Wanderungen herausholst und wie du eine Atmosphäre herstellst, die es einem erlaubt, sich hineinzudenken und hineinzufühlen. Das geht mir wirklich schon seit der allerersten Wanderung so, so sehr sich der Blog im Laufe der Zeit auch verändert hat.

    Grüße, Mata

    • gorm

      Vielen Dank für den Kommentar.:-)
      Ja, der Wanderblog hat sich ganz sicher verändert. Die Texte sind immer länger geworden – analog zu den Touren selbst -, die Schreibintensität ist ebenfalls nicht mehr vergleichbar, und ein paar andere Dinge ließen sich auch noch aufzählen. Mal sehen, wohin sich die Sache noch bewegt. Letztlich hängt natürlich einiges davon ab, wie die Entwicklung der Leserzahl ist.

      Beste Grüße
      Torsten

  • T.S.F.

    Die ersten Sätze der jeweiligen Touren auf der Startseite haben mich neugierig gemacht. Ich habe einige Texte angelesen, bin bei einigen hängen geblieben. Hat Spaß gemacht. Ich komme gerne wieder.

  • Jana

    Und wieder eine so wunderbar beschriebene Wanderung, dass man sie beim Lesen direkt mitgehen kann! Aber das wundert nicht, denn schließlich zeichnet genau das – dieses äußerst bildliche Beschreiben, bestückt mit der ein oder anderen Metapher – deinen Blog aus.
    Die erste Tour des Jahres war also wieder mal größtenteils eine Regentour. Die nächsten Wanderungen sind auch schon terminiert – du scheinst nach Ausheilen der Knieverletzung nun wieder zu regelmäßigen Wanderungen überzugehen. Und eine gemeinsame Wanderung steht auch bevor, darauf freue ich mich schon sehr, lieber Torsten!

    Liebe Grüße ins Saarland
    Jana

    • gorm

      Vielen Dank für deinen Kommentar, liebe Jana.:-)
      Ähnlich wie letztes Jahr in Neustadt war das einfach so eine Art Prolog. Damals Regen von der ersten bis zur letzten Sekunde, dazu Nebel, was der Sache mimitunter einen etwas mystischen Anstrich gab. Diesmal war es eher etwas melancholisch, aber letztlich macht mir Gehen bei nahezu jedem Wetter Spaß, wirkliche Extreme natürlich ausgenommen.
      Ich hoffe sehr, dass sich jetzt doch zügig die Vorboten des Frühlings zeigen werden, dann können wir loslegen mit den gemeinsamen Touren.:-)

      Liebe Grüße für dich
      Torsten

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