Wandertouren

TOUR 115 – VON SAARBRÜCKEN NACH SAARGEMÜND

Aus der Sicht eines durch die Landschaft sich bewegenden oder meinetwegen auch durch die Straßen einer Stadt streifenden Gehers ist die Welt riesengroß.
Es ist die Langsamkeit des Gehens, die das bewirkt. Schon Wanderungen von wenigen Kilometern können Stunden in Anspruch nehmen. Der innerhalb eines Tages erreichbare Teil der Welt schrumpft also auf einen sehr kleinen, um nicht zu sagen winzigen Ausschnitt zusammen.
Wenn man wandert, braucht man Zeit, aber das allein reicht nicht, zumindest nicht, wenn man längere Strecken wandert. Ich rede jetzt nicht von der notwendigen körperlichen Fitness, von der richtigen Wahl der Schuhe usw. Was ich meine, ist, dass man durch die Langsamkeit des Gehens auf eine elementare Form von Geduld zurückfällt, auf einen kargen, genügsamen Daseinszustand sozusagen, bei dem man über viele Stunden hinweg damit auskommen muss, einen Schritt vor den anderen zu setzen.

Bei langen Wanderungen denke ich manchmal in Etappen, vorausgesetzt, ich habe die Route vorher so genau festgelegt, dass ich überhaupt weiß, wo ich langgehe.
Mitunter, so wie heute, ergeben sich derlei Etappen wie von selbst, da die Tour aus zwei oder mehr landschaftlich völlig unterschiedlichen Abschnitten besteht.
Da ist zunächst der Weg an der Saar entlang, der auch wirklich die ganze Zeit unmittelbar neben dem Fluss verläuft. Ein Weg, wie geschaffen für Flaneure und Spaziergänger, aber eben auch für Leute wie mich, die im Sinn haben, viele Kilometer weit durchs Gelände zu streifen.
Der zweite Teil der Route führt dann weg von der Saar, durch lichte Wälder und über Hochflächen mit ganz fein in die Landschaft hineingezeichneten Hügellinien am Horizont.

Es ist ein sonniger Tag.
Die Helligkeit lässt die Stadt lebendig wirken, lebendiger als an den grauen, kalten Tagen des Winters. Der Himmel ist glatt wie ein straff gespanntes Tuch. Es gibt so gut wie keine Wolkeneinkerbungen. Aber es sieht eher nach Frühling aus, als dass es sich danach anfühlt. Denn die Temperaturen liegen nur knapp über null Grad, im Moment jedenfalls noch. Kein Wunder deshalb, dass die Bänke an der Berliner Promenade und unterhalb davon am Willi-Graf-Ufer fast alle unbesetzt sind.

Ich bleibe zunächst auf dieser Seite des Flusses.
Erstens ist der Weg hier etwas breiter als am gegenüberliegenden Ufer und zweitens entgehe ich dem Getöse der Stadtautobahn, an der ich ansonsten ein paar hundert Meter weit entlanglaufen müsste.
Obgleich ich nicht allzu schnell gehe, schlage ich doch erkennbar ein ganz anderes Tempo an, als all die Leute um mich herum, die offenkundig lediglich einen kurzen Spaziergang unternehmen. Dafür halte ich aber ab und zu inne, entweder um ein Augenblinzeln lang die Umgebung mit einem Blick zu erfassen oder um ein Foto zu machen.

Durch das Gehen kann man ein gutes Gespür für die Orte bekommen, an denen man sich aufhält, vorausgesetzt man eilt nicht ununterbrochen wie von Untoten verfolgt durch die Gegend. Selbst wenn man an einem Ort bereits sehr oft gewesen ist, bietet sich nicht selten die Gelegenheit, im Detail etwas Neues zu entdecken. Man muss selbstverständlich gar nicht immer etwas Neues entdecken, sondern kann auch einfach die Dinge auf sich wirken lassen, so wie man sie bereits kennt. Viel zu Fuß unterwegs zu sein bedeutet in dieser Hinsicht, beides miteinander zu verknüpfen, das Neue und das Altbekannte.

Am Staatstheater vorüber laufe ich gemächlich bis zur Bismarckbrücke.
Bereits innerhalb der kurzen Zeit, die das in Anspruch nimmt, wird es spürbar wärmer, aber noch wird es eine Weile dauern, bis der letzte Überrest morgendlicher Kälte sich verflüchtigt hat.
Die Saar ist hier ein ziemlich schmaler, behäbig wirkender Fluss, was sich aber bei Hochwasser sehr rasch ändern kann. Die Stadtautobahn ist im Laufe ihrer rund sechzigjährigen Historie schon etliche Male überspült worden, und wenn der Regen überhaupt kein Ende nehmen will, dann kann es auch passieren, dass der zweihundert Meter entfernte St. Johanner Markt unter Wasser steht.

Ich bleibe ein paar Sekunden am Ufer stehen.
Die Bismarckbrücke hat zwar durchaus schon einige Jahre auf dem Buckel, aber so besonders alt ist sie eigentlich noch gar nicht. Nur etwas mehr als 100 Jahre, und dabei reden wir bereits von dem ursprünglichen, irgendwann während des 2. Weltkriegs zerstörten Bau. Die an gleicher Stelle errichtete Nachfolgebrücke ist sogar noch ein paar Jahrzehnte jünger.

An einem Pfeiler der Brücke findet sich eine Gedenktafel mit einem Zitat aus dem fünften Flugblatt der „Weißen Rose“: „Zerreißt den Mantel der Gleichgültigkeit, den ihr um Euer Herz gelegt! Entscheidet Euch, eh es zu spät ist.“

Irgendwo am Saarbrücker Saarufer – aber mit hoher Wahrscheinlichkeit zwei, drei Kilometer flussabwärts – ließ im Januar 1943 Wilhelm Bollinger, der Ende 1942 in Kontakt mit der „Weißen Rose“ gekommen war, einen Koffer mit Abzügen dieses fünften Flugblattes verschwinden, nachdem er von der Verhaftung Willi Grafs und Sophie Scholls in München gehört hatte.
Willi Graf, in Saarbrücken aufgewachsen und zur Schule gegangen, hatte Bollinger das Flugblatt erst wenige Tage zuvor samt einem Vervielfältigungsgerät ausgehändigt.

Die nächste Brücke flussabwärts ist die Daarler Brücke. Auch sie hat ihre Historie. Während der Nazizeit hieß sie Schlageter-Brücke. Zum Zeitpunkt des Brückenbaus im Jahre 1937 war der Mann, nach dem die Brücke damals benannt wurde – Albert Schlageter – bereits 14 Jahre tot, hingerichtet von einem französischen Militärgericht wegen Sabotage. Vielleicht wäre er einer der vielen vergessenen Toten aus der Zeit des 1. Weltkriegs und dessen Folgejahren geblieben, wenn er nicht in dem 1933 uraufgeführten Drama „Schlageter“ zum „ersten Soldaten des Dritten Reichs“ glorifiziert worden wäre.
Aber Zeiten und damit einhergehend oft auch Namen und Bezeichnungen ändern sich. Nach dem Ende des 2. Weltkriegs wurde aus der Schlageter-Brücke deshalb die Daarler Brücke.

Die Daarler Brücke ist der Ort, wo ich die Flussseite wechsle.
Das Erste, was mir drüben ins Auge springt, ist ein Wegweiser: „Sarreguemines 14,9 Kilometer“.
Das gilt aber nur, wenn man die ganze Zeit am Saarufer bleibt, für mich werden es ein paar Kilometer mehr werden.
Der größte Lärm der Stadt liegt hier bereits hinter mir, und der Weg wird mit beinahe jedem Meter stiller, im Rahmen dessen, was man in urbanen Randbezirken erwarten kann. Von Zeit zu Zeit überholen mich Radfahrer, aber insgesamt erheblich weniger, als ich vorher erwartet hatte.
Es ist warm geworden, man merkt, dass die Sonne schon viel Kraft hat. Im Gegenlicht wirkt der Weg wie an den Enden der Schatten aufgehängt. Auf dem Fluss tanzen kleine Lichtpunkte. Das Wasser ist tiefblau, am Rand ein Saum sich spiegelnder Bäume, der Himmel zeigt ein wesentlich helleres Blau als der Fluss, ein perfekter Kontrast.

Plötzlich entdecke ich zwischen diesen beiden Ebenen von Blau noch einen weiteren Blauton, nämlich das geisterhaft schön schimmernde Metallgestänge einer Brücke, die scheinbar mitten im Nichts von einem Saarufer zum anderen führt. Da Brücken selten gebaut werden, nur um vorhanden zu sein, ist es nicht verwunderlich, dass auch diese Brücke irgendwann einmal einen Zweck erfüllen sollte. Tat sie auch. Es handelt sich um eine Eisenbahnbrücke, über die ab 1974 der Autokonzern Peugeot Fahrzeuge in seine Deutschland-Zentrale lieferte, die damals in Saarbrücken ihren Sitz hatte. Vor mittlerweile 20 Jahren allerdings wurde der Transport der Fahrzeuge auf die Straße verlagert, die Brücke hatte ihren Zweck erfüllt und seitdem ist sie im Grunde eine Art Industriedenkmal.

Hinter Güdingen erreiche ich französischen Boden.
Am jenseitigen Saarufer dagegen ist noch für ein paar Kilometer Deutschland.
Der Weg ist jetzt beinahe vollkommen leer, nur alle paar Minuten taucht ein Spaziergänger oder eine Spaziergängerin auf.
Wohin ich auch schaue, stille Bilder.
Weg, Himmel, Fluss, das sind die Elemente, aus denen sie sich zusammensetzen. Jedes einzelne Bild ist von einer gewissen Trägheit bestimmt, die nur durchbrochen wird, wenn ein aufgestörter Reiher sich in die Luft erhebt. Oder wenn Radfahrer im Trainingstempo an mir vorbeirauschen.
Aber ich bin jetzt so im Gehen drin, dass sich manches wie von selbst ausblendet oder es gerade eben noch bis an die Peripherie meines Bewusstseins schafft. Alles hat einen wohltuenden Grad von Stetigkeit erreicht – meine bewussten Wahrnehmungen ebenso wie das Gehen selbst.

Eine Zeit lang wandere ich an einem kanalisierten Saararm entlang, der nur durch einen so gut wie nicht vorhandenen Grassaum vom Weg getrennt ist.
Die markante Kirche von Grosbliederstroff kommt in Sicht, und damit der Punkt, an dem ich den Weg an der Saar entlang verlasse.
Grosbliederstroff und Kleinblittersdorf waren früher ein einziges, zusammengehöriges Dorf. Aber das liegt Jahrhunderte zurück. In der Gegenwart gehört das eine Dorf zu Frankreich, das andere zu Deutschland, durch die Saar getrennt. Eine Brücke über den Fluss hinweg verbindet die beiden Dörfer, die Freundschaftsbrücke.

Ich überquere die Brücke und bin zurück in Deutschland.
Bisher habe ich kaum mehr Höhenmeter bewältigt, als wenn ich einfach in meiner Küche hin und her gelaufen wäre, aber jetzt ändert sich das. Zunächst noch kaum merklich, denn die Straße, die sich unmittelbar an die Brücke anschließt und über die Gleise der Saarbahn hinüberführt, ist fast tischeben. Erst ein paar hundert Meter weiter wird der Weg steiler. Aber es ist immer noch Asphalt und es ist auch immer noch eine Dorfstraße.

Erst ganz am Ende von Kleinblittersdorf, als ich damit rechnen muss, dass ich wieder ans Saarufer zurückgelange, wenn ich dem Weg weiter folge, biege ich in den Wald ab. Es hätte vorher andere und bessere Möglichkeiten dazu gegeben, jetzt aber bleibt mir nichts anderes übrig, als mich einen unwegsamen, von Geröll bedeckten und von Gestrüpp überwucherten Pfad hinaufzuarbeiten, der im Grunde kaum mehr ist als ein Riss im Wald.
Ich bin nicht wenig überrascht, als mir von oben eine Frau in Straßenschuhen entgegenkommt, die so gar nicht nach einer Wanderin aussieht.
Ich vermute, dass es sich um eine Anwohnerin handelt, die diesen Weg als Abkürzung benutzt.

Für eine ganz Weile bewege ich mich nun weg vom Fluss.
Alles an diesem Tag ist jetzt Frühling, Vorfrühling zumindest.
Die Schatten auf dem Weg zersplittern, und selbst unter den Bäumen weichen sie immer mehr zurück. Das Blau des Himmels könnte auch von einem der monochrom blauen Bilder Yves Kleins stammen, so lückenlos ist es.

Es ist jetzt ein völlig anderes Gehen als am Fluss.
Weder besser noch schlechter, nur anders.
Der Pfad ist schmal, kaum mehr als ein Anhängsel der Böschung links von mir. Ich wandere oberhalb einer nicht allzu tiefen Schlucht entlang. An einer Stelle ist die Hangkante mit einem Holzgeländer vom Weg abgetrennt, an einem Baum sind unmissverständliche Warnschilder angebracht. Mal sehen, wie lange der Pfad hier überhaupt noch entlangführen kann.

Ich richte mich jetzt übrigens nach einer Wegmarkierung, nämlich der des Blies-Grenz-Weges. Ein paar Kilometer weit werde ich ihr folgen, bis zum Rande des Saargemünder Stadtgebiets und von da dann in die Saargemünder Innenstadt laufen.
Bis dahin wird die schöne Landschaft des Bliesgaus die Kulisse für meine Wanderung bilden.

Den Wald lasse ich nun fürs Erste hinter mir.
Stattdessen wandere ich über eine Hochfläche mit niedrigen Hügeln am Horizont. Wege wie die Landschaft durchziehende Adern verlaufen überall. Hier und da sichte ich einen Einzelkämpfer von Baum. Das Frühlingslicht lässt alles leer und weit erscheinen, und die Wiesen, welche die Wege einfassen, sind flach wie Miniaturausgaben der amerikanischen Great Plains.
Ähnlich wie vorhin entlang der Saar wird das Gehen zu einer leichten, fast schon beschwingten Angelegenheit. Eine halbe Stunde lang lebe und denke ich im gegenwärtigen Augenblick, bin nichts anderes als Wanderer und Betrachter. Auf die Wegweiser achte ich so gut wie gar nicht, ich vertraue mich einfach dem Verlauf der Wege an.

Die Dörfer hier herum haben Namen wie Bliesmengen-Bolchen, Bliesransbach, Bliesgersweiler. Letzteres liegt in Frankreich, in einer Art nach Norden gerichteten Ausbuchtung des französischen Staatsgebiets.
Der Blies-Grenz-Weg folgt über mehrere Kilometer hinweg mehr oder weniger exakt der Grenze, die hier, wie sollte es anders sein, von der Blies gebildet wird.

Dann wieder Wald.
Ich trabe ein paar schiefe Stufen hinunter und gelange wenig später auf einen breiten Pfad, der schon zu einem beträchtlichen Teil im Schatten liegt. Es ist merklich kühler als außerhalb des Waldes. Und plötzlich ist der Weg für hundert Meter und mehr so matschig wie die Main Street eines amerikanischen Goldgräberkaffs Mitte des 19. Jahrhunderts.
Kurz darauf dann aber wieder staubtrockene Wege und zwischen den Stämmen helles, kräftiges Sonnenlicht.

Meter um Meter nähere ich mich nun wieder der Grenze zu Frankreich. Die Wege beleben sich immer mehr. Es wimmelt von Spaziergängern und Mountainbikern.
Ich trabe ganz gemächlich vor mich hin, bis an einer Abzweigung die Brücke in mein Blickfeld kommt, über die ich die Blies überqueren und nach Saargemünd hineinspazieren kann.

Abschluss.
Ich stehe am Saargemünder Saarufer.
Das Wasser zeigt fast keine Bewegung.
Leute flanieren am Ufer entlang.
Aus allen Richtungen vernehme ich Lachen und Stimmen.
Der Frühling ist nicht mehr fern.

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