Wandertouren

TOUR 105 – VON NOHEN NACH NEUBRÜCKE/NAHE

Der Beginn fühlt sich an wie ein Spaziergang in einer Zeitschleife.
Knapp anderthalb Jahre ist es her, seit ich schon einmal in Nohen zu einer Wanderung aufgebrochen bin.
Damals war Frühling, heute Herbst, aber es würde kaum auffallen, wenn man die Tage einfach vertauschen würde, denn in Bezug auf Helligkeit und Klarheit gibt es keinen Unterschied.

Ich gehe den leeren Bahnsteig entlang, genau wie damals.
Das violett gestrichene Gasthaus ist noch da, die halb hinter einer hohen Linde versteckte Kapelle ist noch da.
Nicht das Geringste scheint sich verändert zu haben.

Während ich die schon fast am Ortsausgang gelegene Nahebrücke überquere, halte ich Ausschau nach den Wegweisern, die meiner Erinnerung nach hier irgendwo am Straßenrand stehen müssen. Kein Augenblinzeln später entdecke ich sie auch schon.
Nahesteig und Nohener Naheschleife sind aufgeführt, genau wie erwartet.
Auf den ersten etwa sechs Kilometern kann ich mich an beiden Wanderwegen orientieren, danach will ich auf dem Nahesteig bis Neubrücke wandern.
So jedenfalls mein Plan.

Hinter der Brücke trotte ich ein paar Meter an der Nahe entlang.
Noch immer gleiche ich meine gegenwärtigen Wahrnehmungen mit den Bildern aus meiner Erinnerung ab.
Bis zu der Stelle, an welcher der Nahesteig abzweigt, weiß ich an nahezu jeder Stelle schon im Voraus, was mich erwartet.

Auch wenn der Gedanke hierher passt wie ein Ghul in einen Dattelpalmenhain, kommt mir plötzlich die Frage in den Sinn, welches Maß an Kompromisslosigkeit wohl die Pioniere des weiten Gehens aufbringen mussten, um ihre Wanderpläne in die Tat umzusetzen.
1000 Meilen durchs Land zu wandern, wie es beispielsweise der amerikanische Naturschützer und Schriftsteller John Muir im Jahr 1867 tat, das ist eine Strecke, die in der Gegenwart gar nicht einmal so wenige in Angriff nehmen, sei es auf langen Pilgerreisen, sei es auf abenteuerlichen Fußmärschen, aber die Zeit, in der Muir zu dieser Wanderung aufbrach, liegt nun einmal 150 Jahre zurück. Was u. a. bedeutet: 150 Jahre weniger technisiert, 150 Jahre wildnishafter, 150 Jahre ursprünglicher.

Muir wanderte von Indianapolis zum Golf von Mexico, durch ein vom gerade erst zu Ende gegangenen Bürgerkrieg verbranntes und verwahrlostes Land, er aß oft den ganzen Tag lang nichts, schlief nachts ohne Decke unter freiem Himmel.
„Mein Plan war einfach, auf dem wildesten, waldreichsten und am wenigsten genutzten Weg nach Süden zu marschieren, den ich finden konnte“, schreibt er in seinen Aufzeichnungen.
Vielleicht könnte Muir heutzutage eine ähnliche Faszination auf viele ausüben, wie es Henry David Thoreau tut, nur ist er im Unterschied zu diesem in seinen Sichtweisen nicht frei von mancherlei rassistischen Untertönen.

Aber um beim Gehen zu bleiben – der gerade erwähnte Thoreau, von dessen Leidenschaft für das Gehen so manches Zitat Zeugnis gibt, machte sich nie zu einer Fußreise auf, die auch nur im Entferntesten an 1000 Meilen herangekommen wäre.
Einmal unternahm er gemeinsam mit fünf Gefährten eine Art kleine Expedition durch die Wildnis von Maine zum Mount Katahdin, aber dabei nutzten sie erst die Eisenbahn und anschließend ein Kanu, um zum Fuß des Berges zu gelangen und kamen dann beim Aufstieg nicht einmal bis zum Gipfel.
Ein Pionier des Gehens war Thoreau dennoch allemal, des freiwilligen, nicht von äußeren Umständen erzwungenen Gehens, versteht sich. Zeit seines Lebens war das mehrstündige Umherstreifen zu Fuß fester Bestandteil seines Tagesablaufes, keineswegs nur während der gut zwei Jahre, die er in einer selbst errichteten Hütte in der Nähe von Concord, Massachussetts verbrachte.

Um noch einmal kurz John Muir ins Spiel zu bringen – mit der Wildnis des Yosemite Valley, das er seinerzeit ausgiebig durchstreifte, hat die Gegend, durch die ich im Moment wandere, natürlich nichts gemein, aber ähnlich wie damals vermutlich Muir bin ich im Augenblick genau da, wo ich sein möchte, und viel mehr kann man von einem Tag nicht verlangen.

Die Naheschleife beginnt mit einer Treppe.
Danach kommt Wald.
Es war zuvor schon alles andere als laut, aber mit dem ersten Schritt im Wald setzt eine ganz eigene Stille ein.
Für Sekunden ist jegliche Art von Geräusch erloschen.
Es ist beinahe, als wäre die Stille sichtbar wie ein Vorhang zwischen den Bäumen aufgespannt, so gegenwärtig ist sie. Sie ist untermalt von einem herbstlichen Halbdunkel, das von den dicht an dicht stehenden Bäumen hervorgerufen wird. Das Laub auf der Erde wirkt erstaunlich alt, beinahe schon wie im Dezember, es ist kein geschlossener Teppich, sondern sieht eher wie ein Mosaik aus, ein Mosaik aus vielen einzelnen, verschiedenfarbigen Blättern.

Der herbstliche Eindruck bleibt erst einmal bestehen, aber schon nach kurzer Zeit strömt wieder mehr Sonnenlicht in den Wald und es wird heller.
Weiter oben zweigt der Pfad zu einem Mahnmal für gefallene Soldaten des 2. Weltkrieges ab, das ich damals nicht zu Gesicht bekommen habe, weil ich einfach geradeaus gewandert bin.
Bei diesem Mahnmal gibt es einen ersten Aussichtspunkt, von dem aus ich den ganzen Ort im Blick habe.
Wenn ich es nicht ohnehin schon gewusst hätte, dann würde ich spätestens jetzt merken, dass ich mir einen fantastischen Tag zum Wandern ausgesucht habe. Es ist sommerlich hell und selbst die Dinge am entferntesten Rand des Blickfeldes sehe ich so gestochen scharf, als hätte ich sie ganz nahe vor meinen Augen.

Direkt unterhalb von mir die Nahe, grünlich schimmernd.
Sie ist hier ihrer Quelle unweit von Selbach im Saarland noch erheblich näher als ihrer Mündung in den Rhein auf dem Stadtgebiet von Bingen.
Von hier oben wirkt der Fluss ruhig und idyllisch, was aber nicht an ihm allein liegt, sondern auch an dem leuchtenden Herbsthimmel und den wie überdimensionierte Maulwurfshügel im Gelände verstreuten Hügelkuppen.
Bei den noch folgenden Aussichtspunkten nach dem ersten langen Anstieg wird dann bereits ein wenig von den schroffen, steilen Felswänden zu erkennen sein, die ein paar Kilometer flussabwärts zwischen Idar-Oberstein und Kirn in beträchtlicher Zahl auftreten. Nicht umsonst heißt einer dieser Aussichtspunkte „Felsklipp“.

Ich trabe zurück auf den breiten Waldpfad.
Die Erde ist an vielen Stellen feucht wie von einem mehrere Tage zurückliegenden Regen. Von dem anfänglichen, fast dämmrigen Halblicht ist nichts mehr übriggeblieben. Beinahe von Atemzug zu Atemzug wird es heller. Es geht stetig bergan, aber wirklich schwieriges Terrain ist es keinesfalls.

Der letzte Teil des Anstiegs führt am Waldrand vorüber auf eine Art Plateau.
Hier oben hat der Wind die Herrschaft inne.
Die Luft ist so klar, dass man jedes Detail der Hügelwellen am Horizont mit dem Finger nachzeichnen könnte.
Von mir aus darf es bis zum Ende der Wanderung gerne so bleiben.

Eigentlich wäre mir im Moment danach zumute, weiter durch dieses offene Gelände zu laufen und mir den Wind um die Nase wehen zu lassen, aber der Weg führt schon nach kurzer Zeit wieder in den Wald hinein.
Was ebenfalls alles andere als schlecht ist.
Der Wald ist hell wie eine lichtdurchflutete Halle mit Glaskuppel.

Auf dem Weg ins Nahetal hinab bieten sich ein ums andere Mal Fernblicke, die dem oben auf dem Plateau in nichts nachstehen.
Einer davon ist die vorhin erwähnte Felsklipp.
Ich sehe Wald, so weit das Auge reicht, nur unterbrochen von einzelnen Wiesen.
In der Ferne riesige Windräder.
Irgendwo unterhalb von mir die Nahe, die man aber eigentlich kaum wahrnimmt. Erstens ist sie von hier oben nicht mehr als ein schmaler, dunkler Streifen, und zweitens verdecken Bäume und überhängende Felsen den Blick.
Exakt an dieser von meinem Standpunkt aus schlecht einsehbaren Stelle da unten im Tal werde ich in circa einer Stunde vorbeikommen, wenn mich nicht alles täuscht.

Jetzt aber überlasse ich mich erst noch eine ganze Weile der Faszination des Augenblicks.
Ich richte meine Aufmerksamkeit meistens nicht auf einen bestimmten Punkt, sondern lasse meinen Blick einfach in die Ferne treiben.
Es ist immer noch erstaunlich still.
Man hält sich normalerweise an so vielen geräuschvollen Orten auf, dass eine Stille, wie sie hier vorzufinden ist, beinahe paradiesisch erscheint.
Durch die Weite und die Helligkeit vervielfältigt sich ihre Wirkung sogar noch.

Gerade in solchen Augenblicken habe ich die Gewissheit, dass ich mit dem Gehen genau das Richtige für mich gefunden habe.
Es gibt eine Million Dinge, die Menschen im Laufe der Zeit unternommen haben, um Erfahrungen zu machen, die ihr Leben verändern, und bei einigen von diesen Dingen stellt man sich durchaus die Frage, wie der Plan dahinter aussah und zu welchem Ziel sie überhaupt führen sollten.
Für mich selbst war das weite Gehen an sich bereits eine große Veränderung. Fast alles, was sich daraus ergab, kam von selbst, ich folgte keinem äußeren oder inneren Zwang.
Im Grunde war das Einzige, was ich tat, irgendwann damit zu beginnen. Ich bohrte gleichsam ein Loch in eine Mauer – und entdeckte dahinter eine neue Welt.

Es dauert eine Weile, bis ich im Tal angelangt bin, in erster Linie deshalb, weil ich immer wieder innehalte, um mir die fantastische frühherbstliche Optik zu Gemüte zu führen.
Auf dem nächsten Kilometer ist der Weg vollkommen flach.
Minutenlang laufe ich über einen unscheinbaren Kiespfad. Rechts und links dichtes Gesträuch, das die Sonnenstrahlen fernhält. Später trabe ich über einen Wiesensaum, der sich immer mehr dem Fluss annähert und schließlich ganz nahe ans Ufer heranführt. Da ich weiß, dass ich nur noch ein paar hundert Meter von der Naheinsel entfernt bin, halte ich mich nicht länger als vielleicht zwei Minuten auf, ehe ich weiterwandere.

Danach folgt schöner Herbstwald.
Das flache Terrain kommt mir gerade recht, es ist ein völlig müheloses Gehen, beinahe wie Schweben im Raum.
Ich habe den Eindruck, ununterbrochen durch einen leichten Windhauch zu wandern, aber die Spitzen der Äste bewegen sich überhaupt nicht.
Es ist jetzt weder ein Kies- noch ein Wiesenpfad, sondern einfach weicher, die Schritte dämpfender Waldboden.

Irgendwo führt eine Treppe nach rechts zur Naheinsel.
Was heißt Treppe, es sind nur ein paar Stufen, dann ist man schon auf dem zerfurchten, unwegsamen Felsplateau, das halbinselförmig bis in die Mitte des Flusses hineinragt. Wenn man sich bis ganz an den Rand begibt, kann man einen Zentimeter vom Wasser entfernt stehen und so tun, als sei man ein Teil der Strömung.

Flussaufwärts bietet sich dem Blick das Bild eines ruhigen, fast stehenden Gewässers. Steine ragen wie breite Biberschädel hier und da über die Wasseroberfläche hinaus. Sie liegen aber viel zu weit auseinander, als dass man sie als Pfad benutzen und gleichsam übers Wasser wandeln könnte.
Nicht weit entfernt eine malerische Holzbrücke.
Nur das Geräusch des Wassers ist zu hören, sonst ist es still.
Eine einzelne Wolke treibt am Himmel.
Links ragen steile, bewaldete Felsen auf.

Flussabwärts sieht es ganz anders aus.
Der Fluss ist wilder, man sieht einzelne kleine Stromschnellen, in Ufernähe scheint das Wasser nicht mehr als knöcheltief zu sein.
Zwischen den Bäumen am Rande des Flussbettes leuchtet es, wie es nur im Herbst, in der Jahreszeit der vielen Farben, leuchten kann.

Im Weitergehen erinnere ich mich an eine andere Herbstwanderung an der Nahe. Sie liegt viele Jahre zurück, aber doch nicht so lange, dass in meinem Gedächtnis nur noch schemenhafte Bilder davon vorhanden wären.
Von bestens ausgeschilderten Premiumwegen mit Wegweisern an fast jeder Kreuzung war damals noch keine Rede. Von Zeit zu Zeit stieß ich auf ein zerfallendes Holzschild, auf dem kaum leserlich irgendein Ortsname eingeritzt war, aber im Großen und Ganzen ging ich einfach immer der Nase nach.

Wo die Tour genau begann und wo sie endete, weiß ich nicht mehr, aber irgendwann stand ich am Flussufer, und zwar an einem ziemlich wilden und dunklen Abschnitt.
Es regnete Bindfäden, am Ufer gegenüber graue Felsen, flussaufwärts und flussabwärts konnte man bereits in 200 Metern Entfernung kaum noch unterscheiden, ob man auf den Fluss, den Regenschleier oder den Himmel blickte.

Ich suchte Schutz unter einem Baum, dessen dicht belaubte Krone die Nässe so gut abhielt wie ein Steindach.
Der Regen wollte kein Ende nehmen.
Minute um Minute verging, und ich tat nichts anderes, als aufs Wasser und auf die Felsen zu schauen und das Spiel der Regentropfen zu beobachten.
Durch den Regen und das eintönige Grau überall wirkte die Gegend einsam wie die Ufer des Susquehanna zu Lederstrumpfs Zeiten.

Aber so plötzlich, dass es schon geschehen war, ehe es in mein Bewusstsein trat, riss der Schleier auf und gleißendes Sonnenlicht durchflutete das Flusstal.
Ich stand inmitten explodierender Farben und es sah aus, als befände ich mich an einem völlig anderen Ort als noch Minuten zuvor.
Obwohl dieser überraschende Wetterumschwung im Grunde nichts Ungewöhnliches war, empfand ich ihn als großartig. Bei jeder anderen Gelegenheit im normalen Alltag hätte ich ihn zur Kenntnis genommen und als nichts Besonderes angesehen. Aber die Situation des Unterwegsseins und das unmittelbare Erleben machten das Ganze zu etwas, das sich der Alltagsbewertung entzog.
Wir sind beim Wandern gewissermaßen näher an den Dingen, wir sind empfänglicher für Wahrnehmungen aller Art, für die unser Gehirn ansonsten oft schon zu abgestumpft ist oder für die wir schlicht die Zeit nicht aufbringen können.
Das ist ein Teil der Erklärung dafür, warum mich das Gehen bzw. das Unterwegssein zu Fuß so in seinen Bann gezogen hat.

Ein plötzlicher Wetterwechsel ist heute weniger zu erwarten als Monsunregen auf Spitzbergen.
Zum Glück, denn es gibt fast nichts Schöneres für eine Wanderung, als dieses ruhige, milde Herbstwetter.
An der vorhin erwähnten Holzbrücke zweigt die Naheschleife nach rechts ab, während der Nahesteig in gerader Richtung weiterführt.
Ich wandere zunächst wie geplant auf dem Nahesteig weiter.
Der Pfad ist ziemlich schmal und behagt mir aus irgendeinem Grund nicht sonderlich, vielleicht, weil es im Unterschied zur bisherigen Wanderung dunkel ist wie in einer Grabkammer, vielleicht auch, weil die Erde nass und rutschig ist und ich gleichzeitig eine abschüssige Böschung unmittelbar neben mir habe.
Wahrscheinlich ist es beides.

Ich stapfe eine Weile bergan und werfe nur ab und zu einen kurzen Blick auf das zwischen den Bäumen hindurchschimmernde Wasser der Nahe.
Bald schon nimmt der Pfad meine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch, und zwar deshalb, weil er keinen Millimeter breiter wird, aber die ganze Zeit an dieser steil abfallenden Böschung entlangläuft.
An einer Stelle, an der es immerhin rund 20 oder 30 Meter in die Tiefe geht, ist der Pfad kaum noch als solcher vorhanden, sondern im Grunde eins mit der Böschung.

An diesem Punkt wird mein Unbehagen so stark, dass ich mich dazu entschließe umzukehren und die Wanderung auf einem anderen Weg fortzusetzen.
Es ist wieder einmal eine jener Situationen, in denen ich spontan die Route ändere und mich darauf verlasse, dass sich irgendetwas halbwegs Brauchbares ergeben wird. Ich könnte natürlich einfach die Naheschleife zu Ende gehen, aber die kenne ich ja schließlich schon.

Erst einmal wandere ich bis dahin zurück, wo ich von der Naheschleife abgewichen bin.
Ich überquere die Holzbrücke, die ich vorhin links liegengelassen habe und gelange auf einen breiten Forstweg.
Der Wald ist sehr still, von einzelnen entfernten Geräuschen abgesehen.
Ich befinde mich jetzt natürlich wieder auf der Naheschleife, ging ja nicht anders.
Was ich brauche, das ist eine Wegkreuzung, auf der ich in westlicher Richtung und damit in Richtung Neubrücke abbiegen kann.

Es dauert eine Weile, aber schließlich kommt die erhoffte Wegkreuzung in Sicht.
Noch besser, ich finde gleich auch noch einen Wegweiser mit einer Entfernungsangabe vor: „Hoppstädten-Weiersbach 4,0 Kilometer“.
Das bedeutet, dass der Bahnsteig von Neubrücke, das ja zur Gemeinde Hoppstädten-Weiersbach gehört, auch nicht mehr besonders weit entfernt sein kann. Sechs Kilometer vielleicht noch, im Höchstfall sieben.
Besser konnte es nicht laufen.

Der Waldanteil auf der Naheschleife ist sehr hoch, aber auf der Naheschleife befinde ich mich ab sofort ja nicht mehr.
In der Richtung, in die ich wandere, endet der Wald nach einem kurzen Stück Weg, und das war es für heute damit.
Eine Viertelstunde und länger marschiere ich nun über eine Hochfläche, an Feldern und Wiesen vorüber. Die Landschaft ist wunderbar hell und offen, ein milder Herbstwind ist aufgekommen, ein stiller Wind, so gut wie unhörbar.
Der schnurgerade Asphaltweg unter der hellen, diamantenen Herbstsonne, auf dem ich dahinwandere, gefällt mir um einiges besser als der rutschige Waldpfad von vorhin. Ich habe das Gefühl, vom Wind und vom Licht getragen zu werden.
Ich bereue es keine Sekunde, umgekehrt zu sein.

Kurz vor Hoppstädten entdecke ich etwas Überraschendes am Straßenrand, nämlich den Hinweis auf einen Jüdischen Friedhof, der etwas abseits von der Straße zu liegen scheint.
Ich nehme den kleinen Umweg gerne auf mich, muss vor Ort aber leider feststellen, dass man den Friedhof nicht betreten darf.
Ich sehe aber im Grunde alles, was ich sehen muss.
Die Grabsteine stehen in mehreren Reihen hintereinander auf einer Wiese, manche von ihnen sind von dicht belaubten Bäumen beschattet.

Der Friedhof ist wohl irgendwann im 18. Jahrhundert angelegt worden, zu einer Zeit, als sich im nahen und erheblich größeren Birkenfeld Juden nicht einmal niederlassen durften. Die Viehmärkte in Birkenfeld aufzusuchen, war ihnen, sofern sie Handel trieben, gleichwohl erlaubt, sie mussten dafür jedoch Schutzgeld bezahlen.
In Hoppstädten siedelten sich nach und nach immer mehr jüdische Familien an, bis ab etwa 1870 ihre Zahl allmählich wieder zurückging.
168 Grabsteine stehen auf dem Friedhof, die letzte Beerdigung liegt allerdings schon mehr als sechs Jahrzehnte zurück.

Das frühherbstliche Licht begleitet mich auch auf dem Rest meiner Wanderung.
In Weiersbach stoße ich wieder auf den Nahesteig, an dem ich mich für die letzten zwei, drei Kilometer der Wanderung orientieren kann.
Von einem spektakulären Steinpfad durchs Flussbett der Nahe abgesehen ist es ein ruhiger und ereignisloser Ausklang.
Es ist warm wie im Spätsommer.
Aber nicht mehr lange und die Tage werden dunkel und kurz und die Herbstsonne vorerst nicht mehr als eine schöne Erinnerung sein.

6 Comments

  • Salmo

    Klasse und interessant geschrieben, auch wenn man ein bisschen Zeit mitbringen muss. Aber so ist das beim Lesen ja immer. Man kann schön Schritt für Schritt die gesamte Wanderung verfolgen. Danke.

    R. Salmo

  • Sylban

    Grundsätzlich würde mich die Nahe als Wandergebiet schon reizen. Wie lang ist dieser Nahesteig denn? Und ist er aus deiner Sicht empfehlenswert?

    Gruß,
    Sylban

    • gorm

      Der Nahesteig beginnt in Neubrücke (Nahe) und führt über rund 35 Kilometer nach Idar-Oberstein. Man kann den Weg natürlich auch in umgekehrter Richtung wandern. Offiziell ist er in zwei Etappen unterteilt. Ich kenne im Grunde lediglich die rund sechs Kilometer, die mit der Nohener Naheschleife identisch sind, und dann noch die letzten ca. 3 Kilometer bis Neubrücke. Der Teil, der mit der Naheschleife identisch ist, hat mir sehr gut gefallen, die letzten Kilometer weisen immerhin das Highlight des im Text erwähnten Steinpfades durch die Nahe auf. Außerdem gab es da einen Gewässer-Erlebnispark und zudem einige Infos über die Renaturierung der Oberen Nahe. Probiere es einfach aus, eine Enttäuschung wird der Nahesteig vermutlich nicht.:-)

      Beste Grüße
      Torsten

  • Jana

    So muss eine Herbstwanderung sein: blauer Himmel, bunte Farben, tolle Aussichten! Und wieder wunderbar von dir in Szene gesetzt und mit schönen Fotos kombiniert, lieber Torsten. An dieser Wanderung hätte ich mit Sicherheit auch meine Freude gehabt. Vielleicht gehen wir ja auch diese Tour mal irgendwann gemeinsam, es würde mich freuen.

    Liebe Grüße
    Jana

    • gorm

      Danke, liebe Jana.:-) Durch die Fernblicke und die teilweise offene Landschaft kam der grandiose Herbsttag so richtig zur Geltung. Gerade der Abschnitt zwischen Naheschleife und Hoppstädten-Weiersbach hätte dir auch sehr gut gefallen. Wäre natürlich toll, wenn auch die Nahe bald auf der Karte unserer gemeinsamen Wanderungen erscheinen würde.:-)

      Liebe Grüße
      Torsten

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