Wandertouren

TOUR 83 – 20 KILOMETER DURCHS MITTLERE UND NÖRDLICHE SAARLAND

Unterwegssein, das ist zur Zeit eine sehr eingeschränkte Angelegenheit.
An irgendeinen beliebigen Ort fahren und dort herumwandern, so weit die Füße tragen, das gehört fürs Erste der Vergangenheit an.
Spaziergänge von drei oder von fünf Kilometern, die noch vor wenigen Wochen banaler Alltag waren, sind zu etwas Besonderem geworden, eine Wanderung von 20 Kilometern, wie ich sie heute im Sinn habe, hat beinahe schon etwas Epochales.
Nicht nur die Selbstverständlichkeit des Normalen ist dahin, sondern auch die Selbstverständlichkeit des Besonderen, von dem wir oft schon gar nicht mehr gemerkt haben, dass es etwas Besonderes ist.

Meine Wanderung beginnt mit dem allerersten Schritt zur Haustür hinaus.
Es sind die ersten Tage des Frühlings, eines Frühlings, der irgendwie anders ist als in den Jahren zuvor.
Nein, sage ich mir dann, nicht der Frühling ist anders, sondern nur die Art und Weise, wie du ihn wahrnimmst. Nein, am Frühling selbst ist nichts anders.

Seit vielen Tagen hat es nicht mehr geregnet.
Die Wege und Pfade, selbst die verborgensten, sind staubtrocken und an vielen Stellen rissig und verkrustet. Noch zwei Wochen ohne Regen und man wird sich vorkommen, als würde man über den Boden eines ausgetrockneten Salzsees laufen.

Auch heute ist sicher nicht mit Regen zu rechnen.
Der Himmel ist so hoch und weit, wie es fast nur an sonnigen Frühlings- und Sommertagen der Fall ist. Die Wolken sind nicht mehr als ein ganz dünner, weißer Flaum, unter dem helles Lapislazuliblau hervorschimmert.

An einem Baum am Wegrand bemerke ich verschiedene Wandersymbole, unter anderen das Symbol des erst seit wenigen Jahren existierenden Fünf-Kreise-Weges, der über gut 120 Kilometer durch sämtliche Landkreise des Saarlandes führt und auf den ich bei meinen Wanderungen mittlerweile schon ein Dutzend Mal und mehr gestoßen bin.

Heute spielen Wandersymbole jedoch eine eher untergeordnete Rolle, um nicht zu sagen gar keine, denn ich kenne die Wege hier herum wie das Innere meiner Westentasche.

Auf den ersten Kilometern bin ich ganz für mich allein, man könnte beinahe meinen, ich wanderte durch einen von den Bewohnern verlassenen Landstrich.
Die blassen Morgenschatten geben nach und nach immer mehr Areale frei, trotz der Hügel überall wirkt die Landschaft weit und groß, es scheint beinahe, als würde sie sich beständig in alle Richtungen weiter ausdehnen.

Links und rechts gepflügte Äcker, bestellte Felder, gemähte Wiesen und dazwischen überall diese winzigen, fast schon kapillarenartigen Pfade.
Und obgleich da diese Weite ist oder vielleicht auch gerade deswegen, scheint alles zusammenzugehören, Teil ein und desselben Bildes zu sein, der kilometerweit entfernte Horizont ebenso wie das Gras in Griffnähe am Wegrand.

Mein erstes Ziel ist die Kapelle St. Josef unweit des winzigen Dorfes Macherbach.
Wenn ich den direkten Weg einschlagen würde, dann wäre ich in weniger als einer Viertelstunde dort, aber mein Plan sieht vor, erst noch eine große Schleife zu vollziehen, die aus der Viertelstunde fast eine ganze macht.

Ein paar hundert Meter trabe ich am Waldrand entlang.
Von hier aus kann ich die Kapelle als kleinen weißen Fleck im Tal bereits sehen.
Die Landschaft sieht aus wie gemalt.
Sattgrüne Wiesen, die Hügellinien am Horizont wie in eine Leinwand eingeritzt und beinahe so blau wie der Himmel, die Dörfer zwischen den Hügeln sind still und leer.
Weit entfernt, dort, wo der Himmel nur noch ein weißes Rauschen am Horizont ist, eine Armee von Windrädern.

Ich wandere über einen leicht abschüssigen Asphaltweg auf Macherbach zu.
Am Wegrand ein Holzkreuz, daneben eine Bank, auf der eine leere Bierflasche liegt.
Leere Bierflaschen werde ich heute noch häufiger zu sehen bekommen, und zwar auch an Orten, an die es normalerweise höchstens mal einen einsamen Wanderer verschlägt.
Ich deute das so, dass einige Leute sich in die Einöde verziehen, um die im Moment geltenden Ausgangsbeschränkungen zu umgehen.

Ich laufe noch ein Stück auf dem Asphaltweg weiter.
Die ersten Häuser von Macherbach tauchen vor mir auf. Ich habe aber nicht vor, den Ort zu durchwandern, sondern biege auf einen breiten Kiesweg ab, auf dem ich binnen Sekunden in ein schattiges Halbdunkel gelange.
Von einem Augenblick zum nächsten stechend helles Grün, abgemildert durch die Schatten und das ruhige Blau des Himmels, das über reglose Baumwipfel hinwegströmt.

Immer noch kein einziger Spaziergänger.
Auch bei der St.-Josef-Kapelle, die ich ein paar Minuten später erreiche, ist es einsam wie in einem Bergdorf in den Abruzzen.
Mir soll es recht sein.

Von der Kapelle führt der Weg ein Stück bergauf.
Die Nadelbäume am Wegrand lassen so gut wie kein Licht durch.
Aber schon nach hundert Metern ist es mit der Dunkelheit wieder vorbei, nur noch ein paar kaum mehr als armdicke Bäume säumen den Pfad.
Ich laufe um eine Biegung herum und stoße auf den nächsten Asphaltweg.
Es geht über eine kleine Kuppe hinweg und dahinter habe ich fünfhundert Meter freie Sicht bis zum Waldrand.

Wenn ich etwas mag beim Gehen, dann diese in der Ferne sich verlierenden Wege, auf denen man im Voraus schon sieht, wo man in fünf oder zehn Minuten sein wird. Vorausgesetzt, solche Wege nehmen nicht überhand und die ganze Wanderung besteht aus nichts anderem mehr, dann verkehrt sich das Ganze irgendwann ins Gegenteil und wird nach und nach zermürbend. Siehe die Wanderung vor zweieinhalb Jahren durch den Ochsenfurter Gau, als ich nach mehreren Stunden Gehen über diese endlosen, in den Horizont mündenden Asphalttrassen nahe daran war, so eine Art wandelnder Stein zu werden und nahezu jeder Gedanke, den ich noch dachte, schon im Entstehen wieder zerfiel.

Im Grunde ist die Wanderung heute eine Aneinanderreihung von geplanten Umwegen. Eine Schleife folgt der nächsten.
Am Ende werden dadurch ungefähr 20 Kilometer herauskommen, die alles andere als eintönig sind.

Es gibt Wald – und zwar sowohl dunklen Nadelwald als auch hellschattigen Mischwald -, es gibt Fernblicke und Aussichtspunkte, es gibt sogar eine Schlucht.
Es gibt diese von leuchtenden Wiesen gesäumten Asphaltwege, die im hellen Morgenlicht beinahe wie silberne Adern aussehen, und im Kontrast dazu gibt es Pfade, die gerade breit genug sind, um darauf einen Fuß vor den anderen setzen zu können und die manchmal beinahe übergangslos aus dem Wald auf eine Wiese münden.

Der Mittag rückt näher.
Der Wald ist kein einheitlicher Block aus Helligkeit, meistens überwiegen sogar die Schatten, aber es sind nicht mehr die schweren, undurchdringlichen Winterschatten wie noch ein paar Wochen zuvor, sondern es sind schwerelose Frühlingsschatten.
Oft ist da dieses milde Licht in den Baumkronen, das so wirkt, als sei der Himmel sehr weit entfernt und sehr klein, während er über den Wegen außerhalb des Waldes groß und leer erscheint.

Ein kurzes Stück wandere ich an der Autobahn vorüber.
Der Weg ist tischeben.
Ein Windstoß wirbelt ein paar Blätter auf.
Sie tanzen eine Weile in der Luft wie Funken eines Lagerfeuers.
Danach wieder völlige Windstille.
Ich biege auf einen Schotterweg ab und entferne mich damit auch von der Autobahn.
Die Landschaft liegt still in der Mittagssonne.
In hundert Metern Entfernung ein paar Windräder, am Rande einer Wiese ein zerfallender Hochsitz.
Irgendwo nicht weit weg erkenne ich die Silhouette eines Spaziergängers. Drei Sekunden später ist er hinter einer Biegung verschwunden.

Zum Finkenrech, meinem nächsten Zwischenziel, führt der direkte Weg von hier aus am Waldrand entlang.
Mir steht der Sinn jedoch mehr danach, noch einen großen Bogen durch den Wald zu schlagen.
Es gibt hier herum mehr Schleichwege als Schmugglerpfade vor Gründung des Deutschen Zollvereins im Jahre 1834.
Der kaum erkennbare Pfad mitten durchs Gebüsch – eigentlich mehr eine Art Riss im Boden –, den ich als Verbindungsstück von dem Schotterweg zur nächsten breiteren Waldschneise wähle, ist einer davon.

Endlich der erste Spaziergänger, abgesehen von dem, den ich vorhin aus der Ferne gesehen habe.
Bis zum Finkenrech folgt nun einer auf den anderen.
Fast alle sind allein unterwegs und fast alle machen den Eindruck, als würden sie Waldspaziergänge normalerweise nur vom Hörensagen kennen. Das bringt diese merkwürdige Zeit nun mal so mit sich.

Der Finkenrech ist ein Freizeitzentrum und Naherholungsgebiet mit verschiedenen Gartenanlagen und einem Landhotel.
Es ist gar nicht sehr viel weniger los als an Werktagen in Vor-Corona-Zeiten.
Auf den Parkplätzen steht ein gutes Dutzend Autos.
Wo deren Besitzer sich aufhalten, lässt sich aber nicht erkennen, denn bis auf eine Gruppe von drei Leuten in Joggeroutfit und zwei Arbeitern in den Gartenanlagen sehe ich niemanden.

An einem Verkehrsschild entdecke ich das Wandersymbol des Warken-Eckstein-Weges, auf dem ich ja auch bei der letzten Tour für ein paar Kilometer unterwegs war.
Dass die mich in große Begeisterung versetzt hätten, kann ich nicht gerade behaupten.
Heute sieht die Sache jedoch sehr viel besser aus.

Ich wandere eine einsame, helle Straße entlang.
Überall blühende Bäume, stille Mulden, der Horizont ist ganz glatt, er sieht aus wie eine polierte Fensterscheibe, da ist kein Geflimmer wie an Hochsommertagen, aber auch kein Gewaber wie an nebligen Herbstmorgen, die einzige Bewegung, die es überhaupt gibt, ist das vom Wind bewegte Gras, aber auch da muss man genau hinsehen.
In der Ferne Wege wie der, über den ich auch gerade gehe, Wege, die über flache Hügel hinweg irgendwohin führen, wo es andere Wege gibt, die wieder irgendwohin führen.

Ich biege von der Straße auf einen Feldweg ab.
Auch hier diese staubtrockene Erde.
Der Weg führt um eine Kurve herum und steigt dann zu der Landstraße hin an, die von Dirmingen am Finkenrech vorüber nach Tholey verläuft.
Zwei Autos fahren vorüber, eines kommt von unten, eines von oben.
Ich überquere die Landstraße und nähere mich nun schon dem Punkt, bei dem ich den Warken-Eckstein-Weg verlassen werde, um zum benachbarten Biberpfad zu gelangen.

Hier hat man vor einigen Jahren Windräder hochgezogen, wodurch sich nicht nur die Optik stark verändert hat, sondern das gesamte Flair. Ein Teil der stillen Abgeschiedenheit ist verlorengegangen, aber zum Glück ist noch genug davon übrig, um sich für Augenblicke wie auf der Schwelle zu einer eigenen, besonderen Welt fühlen zu können.

Auf dem Breckert, einem 365 Meter hohen Hügel, bin ich von nichts als von Weite und noch mal Weite umgeben.
Da ist dieses Grün, das so ziemlich überall ist, wohin man schaut.
In der Nähe ist es ein sehr helles Grün, dicht wie Stück für Stück mit einem Pinsel aufgetragen, weiter entfernt aber splittert es auf in immer dunkleres Grün, einige Hügellinien wirken beinahe schwarz unter dem durchsichtig blauen Himmel.
Die Geräuschkulisse besteht aus nichts als ein paar zwitschernden Vögeln und aus einem unbestimmbaren Summen von irgendetwas weit Entferntem.

Obwohl die Stille die ganze Zeit über da war, habe ich den Eindruck, dass sie sich allmählich ausbreitet und immer mehr zu einem Teil der Landschaft wird. Dass nirgends auch nur die kleinste Bewegung erkennbar ist, trägt dazu natürlich eine Menge bei. Ich kann schauen, wohin ich will, da ist nicht das kleinste Element von Unruhe, nicht mal ein langsam sich bewegender Spaziergänger irgendwo.

Der Biberpfad ist mittlerweile so etwas wie meine Hausstrecke.
Ende Januar, als die Corona-Pandemie noch kaum mehr war als ein fernes Gewitter, bin ich die gesamten rund 19 Kilometer abgewandert, heute sind lediglich die etwa vier Kilometer vom Breckert bis zur Lochwiesschlucht vorgesehen.
Damals bin ich auf der gesamten Wegstrecke nur einem einzigen Menschen begegnet, und das, obwohl der Tag zum Wandern wie geschaffen war.

Drei Viertel der Wegstrecke sieht es auch heute danach aus, als würden nur sehr wenige Leute meinen Weg kreuzen.
Ich laufe über Wiesenpfade mit freier Sicht in alle Richtungen und sehe niemanden.
Der Weiher zwei Kilometer vom Breckert entfernt liegt so verlassen da wie ein See in Alaska im tiefsten Winter.
Außer mir selbst scheint weit und breit niemand zu existieren.

Einen Kilometer vor der Lochwiesschlucht ändert sich das plötzlich.
Vielleicht gibt es in der Nähe einen mir unbekannten Schleichweg zu einem der Dörfer ringsum, vielleicht zieht die Schlucht gerade heute viele Leute aus der Umgebung an, vielleicht auch beides – jedenfalls ist der Pfad von einem zum anderen Augenblick bevölkert von Spaziergängern. Alles, wirklich alles, was Beine hat, scheint unterwegs zu sein.
Um genügend Abstand halten zu können, schlage ich Haken, kraxele einen Abhang hinunter, überspringe einen Bachlauf, und wo es gar nicht anders geht, breche ich eben durchs Unterholz am Rande des Pfades.

An der Lochwiesschlucht selbst habe ich dann immerhin ein paar Minuten für mich.
Alles ist perfekt.
Das Licht, die Farben, das Zusammenspiel von beidem und noch einiges mehr.
Ich steige bis zum tiefsten Punkt hinunter und auf der gegenüberliegenden Seite wieder nach oben, dann trete ich den Heimweg an.

Diesmal nehme ich den direkten Weg, ohne Schnörkel und Umwege.
Es ist immer noch ein blauer Tag oder wie auch immer man ihn bezeichnen möchte.
Man sieht so weit wie seit vielen Wochen nicht mehr.

Eines hat sich auch heute wieder einmal bestätigt, nämlich dass man die Welt mit anderen Augen betrachtet, wenn man geht.
Sie hat etwas von der Größe vergangener Epochen, in welchen man für Reisen, für die man heute keine Stunde benötigt, einen vollen Tag und länger gebraucht hat und in welchen so ziemlich niemand aufgebrochen ist, ohne ein konkretes Ziel vor Augen zu haben.
Für mich jedoch bestand gerade im Unterwegssein an sich das Wesentliche der heutigen Wanderung.
Wohin und auf welchem Weg, das war nicht so bedeutsam.

Es werden auch wieder andere Zeiten kommen, Nach-Corona-Zeiten.
Und dann wird mir auch das Ziel einer Wanderung wieder wichtig sein.

3 Comments

  • Roxanne

    Nach längerer Zeit wieder auf deinem Blog. Du verstehst es wunderbar, den Leser mitzunehmen, die Schilderung ist oft sehr dicht und präsent. Ich wünsche dir viele Leser.

    Roxanne

  • Jana

    Wie schön, wenn man solche wunderbaren Wege vor der Haustür hat und jeden Schleichweg kennt! Auch hier wieder eine so plastische Beschreibung auf hohem Niveau, dass ich meine, die Gegend gut zu kennen. Du lässt die Leserinnen und Leser deines Blogs nun bereits seit vier Jahren in ganz eigener Art und Weise an deinen Wanderungen teilhaben. Es freut mich sehr, dass es diesen wunderbaren Blog gibt – vielen Dank dafür!

    Liebe Grüße
    Jana

    • gorm

      Vielen Dank für den schönen Kommentar, liebe Jana.:-) Den Biberpfad – zumindest zum Teil – werden wir ja bald auch mal gemeinsam gehen, und zwar wahrscheinlich exakt den im Text beschriebenen Abschnitt. Das hier war eine Wanderung, bei der es gar nicht so erheblich war, wohin sie mich führte, in erster Linie war wichtig, dass ich überhaupt unterwegs sein konnte. Aber ich sage mal so – an Wanderwegen gibt es hier in der Gegend keinen Mangel.:-)

      Ganz liebe Grüße
      Torsten

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