TOUR 22 – VON SAARBURG NACH SAARHÖLZBACH
Man kann wahrlich nicht behaupten, dass ich es mir leichtmache.
Als wäre es nicht schon genug, dass ich mir eine knapp 20 Kilometer lange Strecke über Stock und Stein aussuche, nein, es muss unbedingt auch noch eine sein, bei der bereits abzusehen ist, dass sie unzulänglich ausgeschildert ist. Was ich zur Hand habe, ist lediglich eine uralte Wegbeschreibung, bei der ich bereits beim Lesen das Nichts vor Augen habe, in das sie mich führen wird.
Ich beginne Tour 22 dort, wo vor ein paar Wochen Tour 18 endete, in Saarburg.
Meine erste Anlaufstation – damals der Abschluss – ist der Wasserfall mitten in der Stadt.
Vom Bahnhof aus über die Saar hinüber und durch ein paar schmale Gassen, und schon bin ich dort.
17 Meter sollen es sein, die der Wasserfall hinabstürzt. Ich hätte weniger geschätzt, aber ein beeindruckendes Schauspiel ist es allemal.
Im Gegensatz zum letzten Mal begebe ich mich diesmal auch zur Burg hinauf und wandere dort einen kleinen Rundweg ab.
Eine Steintreppe hinabsteigend gelange ich von dort aus dann zum Saarufer.
Ich habe die eigentliche Wanderung also noch gar nicht begonnen und schon habe ich zwei bis drei Kilometer in den Beinen.
Das aber ist nicht das Problem.
Das Problem ist, dass ich überhaupt nicht weiß, welche Richtung ich einschlagen soll. Ich habe nicht einmal verschiedene Möglichkeiten zur Auswahl, ich habe … NICHTS.
Nun ja, nicht ganz,
In der Beschreibung steht etwas von einem X, nach dem ich mich richten soll.
Von einem X ist jedoch weit und breit nichts zu sehen.
Dann steht da noch etwas von einer „Luisenstraße“ und einem „Kunohof“. Und von einer Jugendherberge.
Ich erkundige mich bei einem Passanten nach dem Weg zu dieser Luisenstraße.
„Luisenberg, nicht Luisenstraße“, lautet seine Antwort.
Wie auch immer, er beschreibt mir den Weg dahin recht anschaulich.
Ich frage noch nach dem Kunohof und der Jugendherberge.
„Die Jugendherberge gibt es nicht mehr.“
Den Kunohof schon, aber was ich dort denn wolle. Dort sei ja nichts.
Ich erkläre ihm, dass ich nach Taben will.
„Nach Taben?“, fragt er, „da können Sie doch an der Landstraße entlanggehen.“
Ich versuche, ihm klarzumachen, dass ich ja zum Wandern hier bin und mein Ziel keineswegs unbedingt auf dem kürzesten Weg erreichen möchte.
In dem daraus sich entwickelnden Dialog reden wir so sehr aneinander vorbei, dass es ist, als würden wir unterschiedliche Sprachen sprechen.
Er begreift einfach nicht, dass es mir nicht darum geht, möglichst schnell nach Taben zu kommen. Wenn das meine Absicht wäre, dann würde ich überhaupt nicht zu Fuß gehen, sondern in den Zug steigen. Dann wäre ich nämlich in zehn Minuten dort.
Am Ende des Gespräches meint er schließlich: „Wie Sie wollen!“
Aber Missverständnisse hin oder her, die Wegbeschreibung, die der Mann mir gegeben hat, stimmt bis ins Kleinste.
Durch einen Torbogen hindurch aufwärts trottend, verlasse ich die Fußgängerzone und nachdem ich längere Zeit bergauf durch ein Wohngebiet gegangen bin, lasse ich Saarburg schließlich hinter mir.
Ein schmaler Pfad zwischen hohen Sträuchern hindurch, dann eine Wiese.
Blick hinab auf die Saar und auf die Burg. In der entgegengesetzten Richtung Hügel und ein verloren wirkendes Dorf.
Niemandslandatmosphäre unter einem blassblauen Herbsthimmel.
Dann Wald.
Ein milder Wind streicht durch die Kronen der Bäume.
Von wegen, hier oben ist nichts.
Hier ist alles, was ich für jetzt brauche.
Mittlerweile stoße ich wenigstens auch auf Wegweiser.
Sie führen zwar allesamt zu Orten, die mir nicht das Geringste sagen, aber immerhin. Ich denke mir einfach, dass irgendwann sicherlich auch der Name „Taben“ auftauchen wird.
Und es kommt noch besser.
An einer Schutzhütte orientiere ich mich links und plötzlich springt mir das X in die Augen, jene Markierung, nach der ich mich laut Beschreibung richten soll.
Wenn das keine Überraschung ist!
Euphorie in hochdosierter Form beseelt mich.
Das X zeigt sich nun immer wieder mal hier, mal da an einem Baum.
Lange Zeit habe ich einen breiten Waldweg unter den Füßen. Durch die lichten Bäume fällt sogar ein wenig Sonnenlicht. Ich gehe in gleichmäßigem Tempo. Spüre, wie ich ganz bei mir selbst bin und wie das Räderwerk meiner Gedanken sich allmählich langsamer dreht. Mitunter verharre ich für ein paar Augenblicke, beobachte die sich verändernden Schattenmuster auf dem Weg und zwischen den Bäumen.
Nach einer Weile biege ich auf einen unscheinbaren Pfad ab – das X ist tatsächlich immer noch da! – und kurz darauf erreiche ich einen asphaltierten Weg, der in Mäandern nach Kastel führt, wo laut Beschreibung ein „Felsenpfad der Extraklasse“ vorzufinden sein soll.
Ich wandere durch den Ort.
Er ist größer, als ich zunächst angenommen habe. An einer Kreuzung wende ich mich nach rechts und ehe ich mich versehe, bin ich einen schmalen Pfad zwischen Häusern und Sträuchern hinabgestiefelt und befinde ich auf besagtem Felsenpfad.
Felsenpfad.
Wenn eine Bezeichnung ihre Berechtigung hat, dann diese. Es gibt hier so viele Felsen, dass man eine Stadt davon errichten könnte. Und es gibt sie in allen möglichen Größen, von klein bis riesig.
Wer eine Felsenphobie hat, der kann sie hier bekämpfen. Und wer Felsen großartig findet, der wird von diesem Ort vermutlich kaum noch wegzubringen sein.
Ich selbst bin zwar kein Felsenmaniac, aber hier könnte ich zu einem werden.
Und dabei habe ich das optisch eindrucksvollste Felsgebilde – den Altfels – noch gar nicht gesehen.
Zunächst jedoch geht es in Windungen einen steilen und stetig immer noch steiler werdenden Pfad hinauf.
Oben dann auf breiten Wegen an baumbestandenen Abgründen vorüber.
Mittlerweile dreht sich mein Gedankenräderwerk wieder schneller.
Ins Grübeln bringt mich, dass der Felsenpfad ein Rundweg ist. Auf keinen Fall jedoch will ich zum Ausgangspunkt des Pfades in Kastel zurückkehren. Im Augenblick habe ich noch keinen Schimmer, was ich tun soll.
Wenn ich aber eines auf meinen Touren gelernt habe, dann, dass man der Ungewissheit ihren Platz einräumen muss.
Darin liegt ja auch durchaus ein Reiz.
Dann der Altfels.
Hohe, zerklüftete Steinriesen, ein Massiv aneinandergeschmiegter Felsleiber.
Für ein paar Augenblicke komme ich mir vor, als sei ich in irgendein lange zurückliegendes Erdzeitalter versetzt worden.
Es ist eine phänomenale Szenerie.
Von ganz oben muss sich ein grandioser Blick in die Ferne bieten, aber meine Schwindelfreiheit genügt nur für den Hausgebrauch.
Ich wandere weiter.
Vom Altfels aus windet sich der Pfad in Kurven und Serpentinen bergab.
Unten angekommen habe ich nun genau das befürchtete Problem.
Der Felsenpfad führt nach links und damit zurück nach Kastel. Wohin ich käme, wenn ich nach rechts gehen würde, das ist eben die Frage. Wenn ich Pech habe, verschlägt es mich irgendwohin, wo ich dann wirklich nur noch die Möglichkeit habe, an der Landstraße entlangzugehen, um irgendwann überhaupt mal wieder in einen bewohnten Ort zu kommen.
Ungefähr eine halbe Stunde lang werde ich zum Spielball meiner widersprüchlichen Überlegungen. Ich gehe mehrmals hin und her, bin sogar schon drauf und dran, doch wieder nach Kastel und von dort aus dann nach Saarburg zurückzukehren, aber irgendetwas in mir lehnt sich dagegen auf, will sich damit nicht abfinden.
Ich verlasse also den Felsenpfad und damit die Sicherheit eines bekannten Weges und marschiere nach rechts.
Ich mache vielleicht 200 Schritte.
In mir rotieren Zweifel und Unsicherheit.
Ich richte mich darauf ein, wirklich an der Landstraße entlang zurück nach Saarburg gehen zu müssen.
Schließlich wird es auch recht bald schon dunkel und dann sollte ich auf keinen Fall mehr im Wald sein.
Und dann entdecke ich es, das Schild.
Es sieht aus wie die anderen Hinweisschilder auch, aber auf diesem hier steht: Bahnhof Taben-Rodt 4,4 Kilometer.
Ich kann es kaum glauben.
Ich befinde mich tatsächlich auf dem richtigen Weg. Und nur noch 4 Kilometer! Ich habe damit gerechnet, dass es noch mindestens 7 oder 8 sind. So ungefähr muss sich ein Schiffbrüchiger fühlen, der endlich festen Boden unter seine Füße bekommt.
Es dauert auch gar nicht so lange, bis ich aus dem Wald heraus bin.
Jetzt, da die Unsicherheit sich in Nichts aufgelöst hat, ist es mit einem Mal ein völlig entspanntes Gehen geworden.
Ich überquere eine Landstraße und trotte einen einsamen Asphaltweg auf ein kleines Dorf zu.
Am Wegrand ein Spalier von Obstbäumen.
In einiger Entfernung Weinberge und Wald.
Ein Traktor fährt an mir vorüber.
Ländliche Abendidylle.
Ich erreiche das Dorf und gehe langsam die Straße entlang. Es gibt eigentlich nur diese eine, wenn man von ein paar winzigen Wegen absieht, die hier und da abzweigen.
Einem dieser Wege folge ich bergauf.
Ein kurzes Stück an der Landstraße entlang, dann, an einer Kapelle vorüber, wieder in den Wald hinein.
Zwischen den Bäumen hindurch erhasche ich einen Blick auf die Saar.
Als ich den Wald hinter mir habe, sind es nur noch ein paar hundert Meter bis zum Bahnhof von Taben.
Aber ich bin alles, nur nicht müde. Und irgendwie habe ich noch gar keine Lust, mit dem Gehen aufzuhören.
Mein Blick fällt auf ein Schild mit dem Hinweis „Radweg nach Saarhölzbach“. Ich zögere höchstens ein paar Sekunden. Dann lasse ich Taben Taben sein und stiefele, dem Radweg folgend, an der Saar entlang.
Es sind sechs Kilometer, auf einem Weg, der so eben ist, dass jeder Kieselstein schon eine Erhebung darstellt.
Ich gehe in die wachsenden Schatten der Dämmerung hinein.
Als ich schließlich in Saarhölzbach ankomme, ist längst die Dunkelheit hereingebrochen.
3 Comments
Sylban70
Eigentlich ist das doch gar nicht so schwer zu verstehen, dass man wandern will, oder?
gorm
Der grundlegende Irrtum bestand wohl darin, dass er mich für einen Fernwanderer hielt. Deshalb ging er davon aus, dass ich möglichst rasch an mein Ziel kommen wolle.
Ursula Dahinden-Florinett
Nach anfänglichen Missverständnisse über deine Wandervorstellungen mit einem Herrn, beschreibst du deine Tour mit eindrucksvollen, schönen Worte.
Eindruck haben mir auch die bizarren Felsformationen gemacht – eine richtige Erlebnisvielfalt.
Im Anhang die 35 Fotos der Landschaft, und im Hinterkopf deine Wandererzählung, geben ein Gefühl von dabei gewesen zu sein.