TOUR 113/2. TAG – VON VEITSHÖCHHEIM NACH KARLSTADT
Zweiter Tag.
Es beginnt, wo es am Abend zuvor geendet hat, am Bahnhof von Veitshöchheim.
Mit einem wolkenlosen, aber noch beinahe kühlen Himmel, mit dem Duft nach Sommer und mit der Ahnung einer irgendwann in den nächsten zwei, drei Stunden einsetzenden Hitze. Einer Hitze, die sich über den Tag hinweg immer mehr aufstauen wird, so dass wir schließlich froh um jede noch so winzige Schatteninsel sein werden.
Jana sprüht vor Erwartung und Vorfreude auf diese Wanderung.
Mir geht es nicht viel anders, obwohl oder eher gerade weil ich die Gegend gut kenne.
Karlstadt, unser Zielort für heute, liegt schon eine ganze Ecke von Würzburg entfernt, jedenfalls mit den Augen eines Fußgängers gesehen. Der kühle Atem des einsamen nördlichen Spessarts ist hier schon zu spüren, eines Landstrichs, der eine ganz eigene Atmosphäre von Abgeschiedenheit vermittelt.
Wir haben Zeit.
Wir haben Zeit und wir lassen uns Zeit.
Die Tour ist 18 Kilometer lang, vielleicht 19, und sie verläuft stets nahezu vollkommen eben am Main entlang. Es ist jetzt neun Uhr morgens, wir können also jeden Schritt der Wanderung genießen, ohne einen Gedanken daran verschwenden zu müssen, ob wir irgendwas irgendwie noch rechtzeitig erreichen.
Der kürzeste Weg vom Bahnhof in Veitshöchheim zum Mainufer führt durch den Rokokogarten.
Ein paar frühe Spaziergänger flanieren durch die von hohen Hecken begrenzten Wege.
Im Schloss sind bereits ein paar Fenster geöffnet, vor einer Tür steht ein altersschwaches Fahrrad.
Der helle Sommermorgen passt bestens zu dieser Atmosphäre von Beschaulichkeit und entspannter Ereignislosigkeit.
Auch am Mainufer treffen wir nur einige wenige Menschen.
Jana kann problemlos ein paar Fotos von der Promenade machen, auf denen es aussieht, als wäre Veitshöchheim vollkommen von allem Lebendigen verlassen.
Blick übers Wasser.
Ein stiller Blick, aber auf andere Weise still als am Abend zuvor.
Das Licht nimmt zu und schwächt sich nicht allmählich ab, und die Uferschatten weichen nach und nach zurück, anstatt immer mehr den Fluss einzunehmen.
Es ist natürlich auch der Unterschied zwischen Aufbruch und Ankunft.
Der Tag liegt noch vor uns.
Das klingt beinahe wie Das ganze Leben liegt noch vor uns, nur dass wir nicht ewig darauf warten müssen, ob auch wirklich alles so wunderbar wird, wie wir uns das vorstellen.
Am Margetshöchheimer Ufer dann die ersten Radfahrer, ein winziger Vorgeschmack auf die Horden, die ab dem späten Vormittag unterwegs sein werden.
Damit muss man sich natürlich bei einer Flusswanderung arrangieren. Gerade an den größeren Flüssen wie eben dem Main kann man wunderbar entlangwandern, aber all diese Wege, die vor noch nicht allzu langer Zeit einfach nur Wege entlang von Flüssen oder alte Leinpfade waren, sind mittlerweile zu Fernradwegen aufgestiegen. Wenn man da zu Fuß unterwegs ist, tut man gut daran, von Zeit zu Zeit einen Blick hinter sich zu werfen, um nicht ständig als störendes Hindernis wahrgenommen zu werden.
Im Moment jedoch können Jana und ich meistens noch ganz entspannt nebeneinanderher gehen.
Ich weiß nicht, wie es kommt, aber mit einem Mal ist es, als hätten wir für einen kurzen Moment die Augen geschlossen und uns anschließend in einer völlig anderen Gegend wiedergefunden.
Oder als seien wir wie Alice im Wunderland in ein Loch gestürzt und in einer Parallelwelt gelandet.
Aber dann wird mir klar, dass das nicht die Sache eines einzigen Moments gewesen ist, sondern dass die Veränderung sich über eine halbe Stunde oder noch länger immer mehr in mein Bewusstsein gearbeitet hat.
Es ist stiller geworden, stiller und ländlicher.
Man merkt immer deutlicher, dass wir uns von Würzburg und dem direkten Umland der Stadt entfernen. Veitshöchheim liegt noch im Bannkreis von Würzburg, aber schon der Nachbarort Erlabrunn wirkt mit seinen Kleingärten und der einsamen Kapelle weit oben auf dem Hügel so abgeschieden wie eine Insel, die vom Festland abgetrennt wurde und in die Weiten des Ozeans abdriftet.
In Erlabrunn stoßen wir auch auf eine schöne, kleine Gartenanlage mit Pavillon, mit ein paar Bänken und mit Pflanzen, die ausschließlich aus der mainfränkischen Region stammen, genauer gesagt aus den Trockenstandorten des sogenannten mainfränkischen Muschelkalks.
Über Zeiträume hinweg, die jenseits der menschlichen Vorstellungskraft liegen, haben sich im Bereich des Muschelkalks Steilhänge und Felsen herausgebildet, auf denen sich etliche, auf solcherlei Standorte spezialisierte Pflanzen entwickelt haben.
Was die Steilhänge und die Felsen betrifft, so sind sie nördlich von Veitshöchheim – also in der Richtung, in die wir wandern – gar nicht zu übersehen. Sie sind, ebenso wie der Main, landschaftsprägend.
Es geht auf die Mittagszeit zu.
Mittlerweile hat eine stechende Hitze Einzug gehalten.
Eine ganze Weile haben wir die eben erwähnte Kapelle im Blick.
Eine blasse Erinnerung streift den Rand meines Bewusstseins – an die schmalen, versteckten Pfade dort oben, die an vielen Stellen von der breiten Hauptschneise abzweigen, an den Blick hinunter auf den in der Sonne glitzernden Fluss, an eine Stille, die sich sozusagen aus einer Talstille und einer Hügelstille zusammensetzte, aber die Hügelstille war tiefer, und zwar deshalb, weil wirklich nichts zu hören war, wenn man vom Baumrauschen absah, während das Tal einfach zu weit entfernt war, als dass ich die Dorfgeräusche hätte hören können.
Jedenfalls ist das da oben bei dieser Kapelle ein sehr schönes Fleckchen Erde.
Eines finden wir beide ziemlich auffällig, nämlich, dass außer uns so gut wie keine Fußgänger auf dem Weg zu sehen sind. Keine Ahnung, ob das zufällig und nur heute so ist oder ob tatsächlich die große Zahl an Radfahrern die Spaziergänger vertreibt.
Egal.
Jana und mich stören die Radfahrer nicht. Wir haben inzwischen so viele Flusswanderungen gemacht, dass wir uns an die besonderen Umstände auf solch schmalen Wegen gewöhnt haben.
Es ist ein herrlicher Vormittag.
Der Main wirkt an manchen Stellen wie ein kleiner See.
Immer wieder öffnet sich der Blick, von Ufer zu Ufer, aber auch in die Weite, und diese Weite besteht wieder aus dem Fluss und sie besteht aus dem Himmel und dem Punkt, an dem beides sich zu begegnen scheint.
Eine Armee dicht belaubter Bäume belagert vielerorts die Ufer, deren Spiegelbild bis in die Mitte des Flusses vordringt.
Alles ist in der Balance.
Nichts fehlt, nichts ist zu viel.
Ich glaube, etwas Besseres kann man von einer Wanderung kaum sagen.
Jana erzählt mir, dass wir ein paar Kilometer weiter in Himmelstadt an einem der nicht mal zehn deutschen Weihnachtspostämter vorbeikommen.
Zwischen Erlabrunn und Himmelstadt liegt aber noch Retzbach-Zellingen, wo sich zwei weitere Wallfahrtsstätten des Fränkischen Marienweges befinden, zum einen die Kapelle „Maria Hilf“, zum anderen die große Wallfahrtskirche „Maria im grünen Tal“ ganz am Rande von Retzbach.
Im Grunde könnten Jana und ich hier überall kleinere oder größere Abstecher zu sehenswerten Dingen etwas abseits des Weges machen, aber heute besteht unser hauptsächliches Interesse nun einmal darin, am Main entlangzuwandern.
Mittag.
Die Hitze liegt über der Landschaft wie ein riesiges, unsichtbares Tuch. Das Sonnenlicht webt schimmernde Kerben in die Schatten auf dem Weg und auf dem Wasser. Kleine Seeroseninseln treiben in der Strömung.
Es ist beinahe, als würden Farben Töne hervorbringen.
Und Töne zu Bildern werden.
Die hoch am Himmel stehende Sonne schafft ein anderes Licht als am Morgen. Alles tritt deutlicher hervor und das, was am Rand ist, scheint dadurch näher heranzurücken.
Still ist es in gewisser Weise auch, nur dass die Stille eher über den Hügeln jenseits des Mains zu finden ist.
Auf dem Weg sind inzwischen Legionen von Radfahrern unterwegs. Selbst an der Mosel sind wir nicht so vielen begegnet wie hier am Main. Die meisten davon dürften Urlauber oder Tagesausflügler von irgendwoher sein.
Es ist unübersehbar, dass wir an einem Abschnitt des Mains unterwegs sind, der relativ dünn besiedelt ist.
Kein Vergleich zu den Wanderungen um Hanau und Frankfurt herum. Aber selbst gegenüber dem Landkreis Würzburg ist die Bevölkerungsdichte des Main-Spessart-Kreises erheblich niedriger, von der Stadt Würzburg natürlich ganz zu schweigen. Weiter nördlich, hinter Gemünden, wird es dann – für deutsche Verhältnisse – so richtig einsam. Nur noch winzige Dörfer, irgendwo verstreut, ansonsten Wälder und Wiesen.
In Himmelstadt legen wir die längste Pause des Tages ein, eine Kurve entfernt von dem vorhin erwähnten Weihnachtspostamt. Wir können entweder auf Apfelbäume schauen oder auf den Fluss. Oder einfach die Leute beobachten. Eine Radfahrerin hält an, pflückt seelenruhig eine Viertelstunde lang Äpfel und stopft sie in offenbar eigens dafür mitgebrachte Taschen. Dann setzt sie sich auf ihr Rad und verschwindet mit ihrer Beute.
Wir setzen unseren Weg fort.
Was uns jetzt gefallen würde, das wäre so eine Kombination aus offener Landschaft und verschiedenen Flussansichten. Und ziemlich genau das kommt auch tatsächlich.
Wir wandern an Maisfeldern vorüber, an Wiesen, an Koppeln und Weiden. Ab und zu ein Dorf irgendwo auf halbem Weg zwischen uns und dem Horizont.
Die Sonne brennt immer gnadenloser. Die leichteren der Schatten lösen sich auf, nur die dichteren, wie Vorhänge über dem Weg ausgebreiteten Schatten massiger Bäume halten stand. Auf den letzten zwei, drei Kilometern bis Karlstadt könnten wir alle fünf Minuten anhalten, um etwas zu trinken.
Der Main, obwohl ganz nahe, verbirgt sich jetzt meistens hinter einem zumindest für unsere Augen undurchdringlichen Riegel aus Bäumen.
Erst als wir in Karlstadt vom Stadtteil Mühlbach über die Brücke in den Kernort hinüberlaufen, tritt er wieder in Erscheinung.
Selbst wenn die Wanderung bislang eine Aneinanderreihung finsterster Erlebnisse gewesen wäre, ein Abgrund an Schaurigkeit, dann wäre mit dieser Aussicht von der Brücke über den Fluss und die kleinen Türmchen von Karlstadt alles vergessen gewesen.
Es ist ein wunderbar heller Sommertag.
Sogar ein bisschen Wind ist aufgekommen, kühler Wind zudem, so dass wir die Hitze gar nicht mehr so sehr spüren.
Von der Promenade am Ufer her und sogar vom Fluss herauf, wo ein paar Paddler sich tummeln, Lachen und Wortfetzen.
Eine Minute, die wie ein einziger Moment von der Dauer eines Augenblinzelns ist, halten wir inne und schauen.
Dann wandern wir bis zum Ende der Brücke und von da über eine Treppe, die schon bessere Tage gesehen hat, zum Mainufer hinunter.
Der Blick auf die Karlsburg auf einer Anhöhe unmittelbar oberhalb der Stadt ist der Abschluss für heute.
Von dort oben hätten wir einen herrlichen Blick über den Fluss und weit ins Land hinein.
Aber das heben wir uns für ein anderes Mal auf.
3 Comments
Nath.
Beide Teile wunderbar geschrieben und die Freude an den Wanderungen schön vermittelt. Für manchen vielleicht ein Grund, die Region mal zu besuchen.
Nath.
Stern des Nordens
Ein schöner Text mit schönen Fotos als Beigabe. Leider gibt es wohl nicht viele Flüsse, bei denen man solche Wanderungen machen kann.
Stern des Nordens
Mary Bou...
Wunderbares Kopfkino.