Wandertouren

TOUR 85 – VON WIEBELSKIRCHEN NACH SCHIFFWEILER

Es hat schon Tage gegeben, an denen es weitaus verlockender war, kilometerweit draußen herumzulaufen.
Es ist trübe und kühl, von Sommer keine Spur. Dichte Wolkencluster nehmen beinahe den ganzen Himmel ein. Sie bringen ein seltsames, wächsernes Licht hervor, fast wie an einem nebligen Wintermorgen. Je länger man den Himmel betrachtet, desto schwerer fällt es zu glauben, dass irgendwann in den nächsten ein, zwei Stunden sommerliche Helligkeit Einzug halten wird, und sei es nur für ein paar Minuten.

Ich habe es kaum erwarten können, wieder aufzubrechen.
Ob es hell oder stockfinster ist, ob warm oder lausig kalt, das spielt heute eine untergeordnete Rolle.
Aufbrechen, das war in den letzten Wochen und Monaten so etwas wie ein Synonym für Weltreise. Städte und Landschaften, die im Grunde um die Ecke liegen, waren mir nichts, dir nichts wegen der Ausgangsbeschränkungen unerreichbar, und selbst der kleinste Spaziergang hatte etwas von einem Abenteuer. Das Besondere fand sich plötzlich im Kleinen, im Nahen, in dem, was sich buchstäblich vor der eigenen Haustür erkunden ließ.
Neben vielen anderen Selbstverständlichkeiten erodierte in diesen Wochen auch die Selbstverständlichkeit des Unterwegsseins, doch ganz allmählich ändert sich das nun wieder. Ob dauerhaft oder nur vorübergehend, das muss man abwarten.

Manchmal denke ich, es kann kaum eine größere Freiheit geben als die Freiheit, unterwegs zu sein. Für mich jedenfalls. Und wenn ich vom Unterwegssein spreche, dann meine ich natürlich, zu Fuß unterwegs zu sein: zu laufen, zu gehen, zu wandern.
Denn für diese Art des Unterwegsseins brauche ich fast nichts.
Ich brauche Kleidung, ein paar Wanderstiefel und eine Himmelsrichtung, mehr erst einmal nicht. Wenn ich sehr weit gehe oder mehrere Tage lang, dann kommen noch ein paar Dinge hinzu, aber gar nicht einmal so viele.
Mit irgendeiner Art von wirklichem Zwang hat das nicht einmal im Entferntesten etwas zu tun.

Ich stelle heute keine großen Ansprüche an die Wanderroute.
In erster Linie will ich gehen, irgendwohin.
Natürlich wähle ich mir ein Ziel und auch einen Weg, auf dem ich dieses Ziel zu erreichen gedenke.

Im Großen und Ganzen habe ich vor, mich auf den zwölf Kilometern meiner Wanderung an einem Pfad mit der Bezeichnung Hartfüßlerweg zu orientieren.
Ob der Weg gut ausgeschildert ist, weiß ich gar nicht so genau, aber der Anfang lässt hoffen, denn ich entdecke das zum Pfad gehörige Wandersymbol, kaum dass ich den Bahnsteig in Wiebelskirchen verlassen habe.

Es muss innerhalb der letzten Stunden geregnet haben.
Die Bürgersteige und Straßen sind nass und auch an manchen Häuserfassaden sieht man noch Spuren von Feuchtigkeit.
Ein wenig mehr Helligkeit könnte ich durchaus gebrauchen, aber es ist auch kein Weltuntergang, wenn es so bleibt wie jetzt.

In einer Straße, die nur ein paar hundert Meter Luftlinie von hier entfernt ist, hat Erich Honecker, letzter Generalsekretär der DDR, den größten Teil seiner Kinder- und Jugendzeit verbracht.
Es ist die Zeit der Weimarer Republik, die Zeit zwischen den beiden Weltkriegen, und Honecker gehört wie Zehntausende andere Saarländer einer Bergarbeiterfamilie an.

Im Saarland gibt es um 1925 herum ein gutes Dutzend fördernde Gruben, die Bergbauhistorie der Region reicht jedoch sehr viel weiter zurück.
Im Laufe des 19. Jahrhunderts, als der Kohleabbau zunehmend effizienter und industrialisierter vonstatten geht, nimmt die Zahl der Bergleute, die zwanzig und mehr Kilometer von ihrem Wohnort zur Arbeit laufen müssen, immer weiter zu.
Auf den Pflasterstraßen hört man ihre schweren, genagelten Bergmannsstiefel oft schon aus weiter Entfernung, und das ist es, was ihnen den Namen „Hartfüßler“ einbringt.

Der Gedanke, auf einem kultur- und industriehistorisch so interessanten Pfad unterwegs zu sein, gefällt mir.
Man muss nicht einmal ganze Jahrhunderte weit zurückdenken, um in eine völlig fremdartige Welt zu gelangen, es genügen ein paar Jahrzehnte. Schon die Zeit unserer Großväter und Großmütter ist uns in vielen Dingen so fremd, als läsen wir Berichte über das Leben auf einem anderen Stern.

Zu Wochenbeginn viele Kilometer weit in schweren Stiefeln zur Arbeit laufen, während der Woche dann unter Tage schuften und am Wochenende wieder viele Kilometer nach Hause laufen, um dort dann auf den Feldern oder im Stall weiterzuarbeiten – das klingt nicht nach einem Leben, das in Mitteleuropa heute noch jemand auf sich nehmen würde.

Ich trotte so vor mich hin.
Das trübe Wetter lässt nur sehr dezente Farben zu.
Das Grün der Büsche wirkt matt und wie abgeblättert, manchmal zeigt sich ein stumpfes Blütenweiß an irgendeinem Baum, der Himmel lastet wie eine schwere, graue Betonplatte auf den Wipfeln, alles ist beengt und irgendwie wartet man jede Sekunde darauf, dass es zu regnen beginnt.

Ein paar hundert Meter wandere ich durch eine Grünanlage, überquere eine gähnend leere Straße und damit habe ich die Stadt auch schon hinter mir.
Der Weg ist schlammig und von Furchen durchzogen, die das Regenwasser in die weiche Erde modelliert hat. Aber wirklich beeinträchtigt ist das Vorankommen dadurch nicht.

Ich laufe einen kleinen Hügel hinauf, eigentlich nicht mehr als eine Kuppe – und selbst das ist beinahe noch zu viel gesagt -, und werfe einen Blick zurück.
Von Wiebelskirchen sehe ich nicht viel – nur ein paar rote Hausdächer, der Rest des Ortes wird von Bäumen verdeckt.
Es scheint ein wenig heller geworden zu sein, aber vielleicht habe ich mich auch nur an das Grau gewöhnt.

Nach einem kurzen Stück an dem gerodeten Haldengelände einer ehemaligen Grube vorüber gibt es den ersten richtigen Fernblick.
Ich stehe hart am Rande einer steil abfallenden Flanke – vermutlich ebenjener gerade erwähnten Halde – und schaue über ein Heer hoher Bäume hinweg. Im Vordergrund Birken und andere Laubbäume, weiter entfernt dunkle Nadelbäume.

Nach einigen Augenblicken wird mir erst bewusst, wie großartig die Aussicht ist.
Die Landschaft ist zwar kein weiter Raum, aber irgendwie passt jedes Element zum andern – der wie ein Schutzgürtel wirkende Wald, die raue Hügelline am Horizont, die tiefen, dichten Wolken.
Wäre es ein richtig sonniger Tag, dann würde man die Einzelheiten natürlich deutlicher wahrnehmen, aber das Gesamtbild wäre deshalb trotzdem nicht zwingend eindrucksvoller als jetzt.

Am Rande des Weges ist ein Infoschild aufgestellt, auf dem ein kurzer Abriss über die Geschichte der Grube Kohlwald zu lesen ist, in der noch bis 1966 Steinkohle gefördert wurde.
Ein Foto von Grubenarbeitern aus dem Jahr 1890 ist abgebildet, schwarzweiß natürlich.
Und ich denke plötzlich, dass dieser eine im Bild festgehaltene Moment einerseits für sich selbst steht, dass er zudem aber auch Teil eines viel größeren Schwarzweiß-Universums ist, das lange vor 1890 entstanden ist – nämlich in den Tagen der ersten Fotografien – und das noch lange danach Bestand hatte.
Auch ich selbst habe meine Schwarzweiß-Erinnerungen: Fotografien von dunklen Straßen unter einem kaum helleren Himmel, von grauen Bahngleisen, die in ein lichtloses Nichts hineinführen, von leeren, grauen Innenstädten an Samstagnachmittagen.
Aber das ist eine andere Geschichte.

Ich wandere in den Wald hinein, wo ich auf einen uralten, rissigen, von Grasbüscheln überwucherten Asphaltweg stoße. Am Wegrand dichte, das Sonnenlicht fast völlig fernhaltende Vegetation.
Später sogar ein ganz schmaler, gewundener Pfad, in den dicht belaubte Äste hineinragen.
Aber selbst da, wo mir die Optik eine Art von Naturidylle oder Waldabgeschiedenheit vorgaukelt, sieht die Wirklichkeit ganz anders aus. Ich höre ohne Unterlass Verkehrslärm und oft ist die Landstraße nicht mehr als eine Armlänge vom Pfad entfernt.

Überraschenderweise kommt allmählich die Sonne heraus.
Kein gleißender, alles vereinnahmender Sonnenschein, eher ein verhaltenes, diffuses Leuchten.
Nach einer Weile wird mir allerdings bewusst, dass es beinahe unmerklich immer heller geworden ist.
Die Frage ist nur, wie lange das anhält.

Auf einem breiten Forstweg laufe ich mehrere hundert Meter ununterbrochen bergab.
Der Boden ist längst nicht mehr so matschig wie zu Beginn.
Vom Himmel sehe ich nur einen schmalen, hellen Streifen, um mich herum wuchert oft fast dickichtartiges Gebüsch, hier und da gibt es eine Kreuzung oder Abzweigung, aber ich bleibe einfach unbeirrt auf dem Hauptpfad.
Ganz unten in der Senke mündet der Weg in einen in die Jahre gekommenen Tunnel, ein schwarzes, gähnendes Loch, das mich unter einer Bahnlinie hindurchführt.

Am anderen Ende sieht es dann schon wieder freundlicher aus, was zum einen an dem kleinen Weiher unmittelbar neben dem Pfad liegt, zum anderen aber auch an dem mittlerweile sommerhellen, nur von ein paar malerischen Wolken bestreuten Himmel.

Damit ist der Wald für heute endgültig Vergangenheit.
Auf den letzten paar Kilometern wandere ich nur noch durch die Straßen unmittelbar aneinandergrenzender Ortschaften – erst Sinnerthal, dann Landsweiler-Reden und Schiffweiler.
Wenn ich geahnt hätte, dass mehr als die Hälfte der heutigen Tour über Dorfstraßen führen würde, dann hätte ich statt der Südroute des Hartfüßlerweges vielleicht die Nordroute gewählt.

Allzu lange halte ich mich bei diesem Gedanken aber nicht auf.
Überall hier bin ich von Dingen umgeben, die längst aufgehört haben, für den Alltag von Bedeutung zu sein, die aber dennoch irgendwie noch existent sind. Ich bewege mich wie durch einen dunklen Raum, in dem hier und da ein grelles Licht ein paar Dinge erhellt, die ansonsten für immer verschwunden und vergessen wären.
Es muss bei einer Wanderung nicht immer die Abgeschiedenheit eines fast menschenleeren Landstrichs sein, die mich anzieht.

Noch scheint die Sonne warm und hell vom Himmel, aber es herrscht so eine merkwürdige Atmosphäre, als ob ein nahes Unwetter in der Luft liege.
Mit beinahe jeder Sekunde, die vergeht, werden die Wolken dunkler.
Wind kommt auf.
Nicht lange und die Sonne ist nur noch ein verhalten leuchtender weißer Fleck hinter einer grauen Wolkenschicht.

Eigentlich hatte ich die Absicht, mir das Gelände der 1995 geschlossenen Grube Reden anzuschauen, das mittlerweile ein denkmalgeschütztes Areal ist, aber auf dem Weg dorthin setzt von einem Moment zum nächsten der erwartete Regen ein und binnen Sekunden verwandelt sich die Umgebung in ein kaltes, graues, nasses Wasserreich. Im Handumdrehen sind die Straßen menschenleer.

Unter diesen Umständen ziehe ich es dann doch vor, die Wanderung etwas abzukürzen und gleich zum Bahnsteig in Schiffweiler zu marschieren.
Der Regen lässt nicht nach.
Zwanzig Minuten lang schüttet es wie aus Eimern.

Erst als ich nur noch ein paar Schritte vom Bahnsteig entfernt bin, hört es auf, so plötzlich, wie es begonnen hat.
Kein Nachtröpfeln mehr, kein Wind mehr, die Wolken wie wegradiert.
Es ist wieder ein strahlender Sommertag.

2 Comments

  • Roxanne

    Sehr schöner und interessanter Text in einer ganz eigenen Sprache, wie im Grunde immer. Von Hartfüßlern hatte ich vorher noch nie gehört. Im Bergbau zu arbeiten muss wirklich eine schwere und harte „Maloche“ gewesen sein.

    Roxanne

  • Stemmler

    Wandern und Bergbau – das Neue und das Alte, könnte man sagen. Es ist gut, das Erbe zu bewahren, so wie es zum Beispiel in Reden auf dem dortigen Grubengelände oder um die Ecke bei den Industrierelikten der Itzenplitzer Grube der Fall ist.
    Danke für den Bericht.

    F. Stemmler

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