Wandertouren

TOUR 68 – HEIDELBERG: KÖNIGSTUHL – KOHLHOF – SCHLOSS

Selten hatte ich zu Beginn einer Tour eine weniger konkrete Vorstellung davon, was mich erwarten könnte als diesmal. Das gilt zumindest für den größten Teil der Wanderung, nämlich so ziemlich für jeden einzelnen Schritt von dem Moment an, als wir uns von der Bergbahnstation Königstuhl aus auf den Weg machen bis zu jenem Augenblick, als wir ein paar Stunden später nach einem planlosen, aber großartigen Erkundungsmarsch durch den Heidelberger Stadtwald fast exakt an unseren Ausgangspunkt zurückkehren und uns dann über die Himmelsleiter auf den Weg zum Schloss hinunter machen.

Wie bei allen meinen Neckartouren bin ich auch heute mit Jana unterwegs. Am Aussichtspunkt auf dem Königstuhl suchen wir uns erst einmal einen Platz im Schatten, wobei wir den erstbesten nehmen müssen, der gerade frei wird, denn hier oben drängen sich die Leute, als gäbe es was umsonst.
Gibt es ja auch – nämlich den Fernblick über die Stadt weit übers Land.

Der Königstuhl ist die höchste Erhebung des Kleinen Odenwaldes und besser als exakt an dieser geografischen Position könnte er gar nicht platziert sein. Man hat fast den Eindruck, sehen zu können, was jenseits des Horizontes liegt.
Das Zentrum, das, was den Blick auf sich zieht und zu dem er immer wieder zurückkehrt, ist der Neckar. Alles andere verschmilzt nach und nach miteinander zu einem Bild aus weißem, schimmerndem Dunst und ein paar Farben. Der Fluss aber bleibt stets als eigenständiges Detail erkennbar, so deutlich wie Löwenzahn auf einer Veilchenwiese.
Diesseits des Flusses noch gut voneinander unterscheidbare Häuser, unmittelbar unter uns ein Saum von Hecken und Bäumen und ein fast machhieähnliches Gebüsch.
Jenseits des Flusses wieder Häuser und dahinter übergangslos Landschaft und Horizont.

Bevor wir überhaupt losgehen, ist noch die Frage zu klären, welchen Weg wir einschlagen.
Wir wandern erst einmal in Richtung eines Parkplatzes, weg von dem ununterbrochenen Strom von Menschen, die sich Heidelberg von oben ansehen wollen und dann sofort wieder in die Bergbahn oder ins Auto steigen, um sich aus dem Staub zu machen.
Wir sind unfreiwillig auf mindestens einem halben Dutzend Fotos verewigt, mehr müssen es jetzt wirklich nicht mehr werden.

Bei dem Parkplatz angekommen, entdecken wir einen Stein mit Richtungspfeilen und Ortsangaben, die aber nicht hilfreicher sind, als wenn wir hier auf Inschriften in sumerischer Keilschrift gestoßen wären.
Die Infotafel am Rande des Parkplatzes bringt uns da schon weiter.
Es gibt eine blaue, eine rote und eine braune Nordic-Walking-Strecke, die sich an verschiedenen Punkten berühren, so dass man immer wieder von der einen auf eine andere wechseln kann.
Wir beschließen, zunächst zum Kohlhof zu wandern, von da zum Aussichtsturm Posseltslust und anschließend wieder zurück zum Königstuhl.
Die Wege sehen zwar so verschlungen aus wie ein Palstek-Knoten, aber weite Entfernungen haben wir sicher nicht zu bewältigen.

Wir traben leichten Fußes in den Wald hinein.
Wie eine leuchtende Fackel hängt die Sonne zwischen den Baumspitzen. In den Schatten blasses, mildes Grün.
Es ist warm. Warm und sehr hell. Nicht mal irgendwo am Rand ein paar Eintrübungen. Der Weg ist exakt so, wie man sich einen Spazierweg in einem Stadtwald vorstellt – breit und flach und belebt wie ein Stück Laubwaldboden unter dem Mikroskop.

Die Wanderung entfaltet sich ganz langsam und verliert nach und nach den Charakter eines gemütlichen Sonntagsspaziergangs.
Meist ist der Weg handtellerflach und rollt sanft wie eine auslaufende Welle vor uns her. Ab und zu neigt er sich leicht abwärts, ab und zu geht er urplötzlich für ein paar Meter in einen verschnörkelten schmalen Pfad über.
Natürlich befinden wir uns hier nicht in einer weltabgeschiedenen Landschaft, in der meditative Stille praktisch zum Inventar gehört. Das ist der Heidelberger Stadtwald! Mit anderen Worten ein Naherholungsgebiet am Rande einer Großstadt, das auf allen Seiten von mehr oder weniger stark befahrenen Verkehrsadern eingeschlossen ist. Trotzdem durchströmt uns schon nach kurzer Zeit vollkommene Gelassenheit.

Am Rande einer Straße entdecke ich schräg gegenüber ein Schild mit der Aufschrift „Kohlhof“.
Neben dem Posseltsturm und dem Schloss ist der Kohlhof ja eines unserer Etappenziele bei dieser Wanderung.
Schön wäre es, wenn wir dort eine Gaststätte finden würden, in der wir einen Schluck trinken könnten, aber Jana meint, so etwas habe es dort zwar früher tatsächlich mal gegeben, mittlerweile aber schon seit vielen Jahren nicht mehr.

Fürs Erste bleiben wir aber ohnehin noch im Wald.
Hellgrünes Licht, manchmal auch grelle Lichtgarben irgendwo über unseren Köpfen.
Eine Art zerbrechlicher Stille, sekundenlang, immer wieder von neuem.
Dann stehen mit einem Mal die Bäume so dicht nebeneinander, dass man den Kopf in den Nacken legen muss, um überhaupt noch Licht zu sehen, das nicht von Schatten verdunkelt ist.

Doch heute wechseln die Szenerien rascher als im Zeitraffer. Keine drei Atemzüge später laufen wir schon wieder durch einen lichten Buchenforst und weitere drei Atemzüge später hört der Wald auf und wir stehen oberhalb des Kohlhofs an einer Landstraße. Neben uns ein Wartehäuschen, am Wegrand wieder einer dieser Wegweisersteine – und wieder einer, der uns nicht weiterhilft -, in gerader Richtung vor uns eine Straße ohne Mittelstreifen, bei der rechts und links so gut wie kein Platz zum Gehen vorhanden ist. Wenn wir zum Kohlhof wollen, bleibt uns allerdings nichts anderes übrig, als uns mit dieser Straße abzufinden.

So schlimm ist es dann aber gar nicht.
Bis zum Kohlhof haben wir nur etwa 300 Meter zu gehen und währenddessen kommen uns gerade einmal zwei Autos entgegen, die zudem auch noch kaum schneller fahren als ein Ochsenfuhrwerk.

Irgendwie hatte ich doch gehofft, dass es auf dem Kohlhof noch eine Gaststätte gäbe.
Dem ist aber nicht so.
Zehn Wohnhäuser, drei Scheunen und ein paar zu Stierweiden umfunktionierte Obstwiesen, alles sehr beschaulich und gefällig, aber im Grunde kommt man sich hier vor wie ein Störenfried.
Verwaltungstechnisch gehört der Kohlhof zwar zu Heidelberg, aber es ist ganz offensichtlich ein eigener dörflicher Mikrokosmos.

Wir wandern an den ersten Häusern vorüber und kehren dann wieder um.
Wahrscheinlich hätten wir zum Aussichtsturm Poseltslust, unserem nächsten Etappenziel, einfach nur geradeaus weitergehen müssen, aber stattdessen wählen wir genau die entgegengesetzte Richtung.
Trotten zehn Minuten oder länger einen stetig, aber nicht steil ansteigenden Weg hinauf, der wie geschaffen für ein ganz gleichmäßiges Gehen ist.
Schlagen dann, auf einer Kreuzung mit Schutzhütte, einen Haken und laufen auf irgendwelchen Wegen in irgendeine Richtung.

Es ist warm, die Luft steht still wie über einem Weizenfeld im Hochsommer.
Ab und zu ein rasch wieder verebbendes, nicht zuzuordnendes Geräusch.
Es fühlt sich fast an wie in einem richtig großen Wald weit weg von jeder menschlichen Behausung. Dabei sind wir gerade einmal zwei Kilometer vom Aussichtspunkt auf dem Königstuhl entfernt.

Aus einer Minute werden zwei, aus zwei Minuten drei, bis der Weg nach einer Viertelstunde um ein paar Kurven driftet und wir wieder einmal am Rande einer Landstraße landen.
„Oberer Haberschlagweg“ steht als einzige Ortsangabe auf einem von Moos bedeckten Wegweiserstein. Von einem Hinweis auf den Aussichtsturm Posseltslust keine Spur. Weit kann es bis dahin trotzdem nicht mehr sein.
Und kaum haben wir die Landstraße überquert, entdecken wir ihn auch schon zwischen den Bäumen.

Von der Seite sieht der Turm ein wenig aus wie ein Abbild des Rapunzelturms aus dem Märchen der Gebrüder Grimm. In der Frontalansicht stellt sich bei mir dann allerdings eher die Assoziation einer kleinen Tempelanlage ein.
Wir steigen eine dunkle, enge Wendeltreppe hinauf und oben stehen wir gefühlt fast unmittelbar in den Wolken.
Der Turm ist nicht mehr als 15 Meter hoch, aber über die Baumwipfel hinweg haben wir einen Fernblick wie aus einem Adlerhorst.

Es ist ein geräuschvoller Ort – ein paar Meter entfernt eine Straße, unmittelbar unterhalb des Turms ein Parkplatz -, aber diese Geräusche treten immer mehr in den Hintergrund, je länger wir da oben stehen und auf die weite Landschaft schauen. Eine optische Stille stellt sich ein, welche die Geräusche ganz allmählich überlagert.

Es gibt Augenblicke, die bleiben.
Nicht unbedingt für immer, aber für so lange, bis man sich von selbst von ihnen verabschiedet.
Gut möglich, dass das jetzt ein solcher Augenblick ist.

Auf dem Rückweg von Posseltslust zum Aussichtspunkt Königstuhl überlegen wir uns, auf welchem Weg wir am besten von da hinunter zum Schloss gelangen sollen.
Natürlich wäre die sogenannte Himmelsleiter, die eine Art Direttissima vom Königstuhl zum Schloss darstellt, die naheliegende Lösung. Wenn man mal davon absieht, dass es sich um mehr als 1200 Stufen handelt und jede einzelne davon so eine Art Eigenleben zu führen scheint. Man kann da nicht einfach hinuntersteigen wie irgendeine x-beliebige Treppe, sondern muss buchstäblich auf Schritt und Tritt aufpassen, wohin man seine Füße setzt.
Die Alternative allerdings wäre, uns über breite Waldschneisen in riesigen Schleifen nur nach und nach dem Schloss anzunähern, und deshalb entscheiden wir uns nach kurzem Überlegen doch für die Himmelsleiter.

Jana und ich kennen die Himmelsleiter schon, das ist ein gewisser Vorteil. Wir erwarten nämlich nicht jedesmal, wenn wir einen der breiten Waldwege kreuzen, dass wir endlich unten angekommen seien. Wir wissen, dass diese komische Treppe oder Leiter schier kein Ende nimmt.
Von oben betrachtet sehen manche Abschnitte aus wie Kaskaden aus mehr oder weniger zufällig verstreuten Steintrümmern.
Wir bewegen uns so rasch wie irgendwie möglich, denn langsam kippt das Wetter.

Ungefähr auf halber Höhe beginnt der Wind.
Und es ist kein warmer Frühlingswind mehr wie noch eine Viertelstunde zuvor, es ist ein kühler Luftstrom, der Regen ankündigt.
Als wir das Schloss erreichen, sieht der Himmel über Heidelberg aber immer noch einigermaßen freundlich aus.
Für ein paar Minuten setzen wir uns auf eine Bank und können zusehen, wie schwarze Wolken immer mehr Bereiche des Himmels erobern.

Dann ein Blitz, und von einem Augenblinzeln zum nächsten stürzt der Regen herab wie ein Wasserfall.
Die eine Hälfte des Himmels ist schwarz wie Asche. Über dem Fluss jedoch ein helles, dunstiges Schimmern.

Wir laufen durch den Regen.
Die meisten Spaziergänger haben sich unter die Bäume geflüchtet.
Keine Blitze mehr, immerhin.
Stattdessen wird es binnen Minuten dunkel wie in einem Tunnel unter der Erde.
Wir sind beide so nass, als hätten wir gerade den Neckar durchschwommen.
Wir verlassen das Schlossgelände und steigen in die Stadt hinunter.
Unten angekommen, lässt der Regen auch schon nach und kurz darauf nieselt es nur noch ganz leicht.
Aber die Sonne wird heute nicht mehr zurückkommen.

 

Noch eine Tour am Neckar:

Tour 62 Von Hirschhorn nach Eberbach

Es ist Mitte Februar, aber allzu viel erinnert nicht

mehr an den Winter.

Der Himmel wirkt unendlich weit und so hoch, als

würde man an einem warmen Sommertag irgendwo

im Gras liegen und den träge dahintreibenden Wolken

nachschauen.

Es ist wie in einem…    weiterlesen      Bildergalerie

4 Comments

  • Mata

    Wieder eine Schilderung in der dir eigenen, besonderen Sprache, mit vielen Sprachbildern und so, dass man mittendrin ist im Wandergeschehen aus deiner Sicht. Es macht immer wieder Spaß.

    Grüße, Mata

  • Wemertz

    Das gesamte „Ensemble“ Altstadt – Schloss – Stadtwald stellt eine gute Kombination dar. Ist manchmal natürlich etwas überlaufen, das liegt aber in der Natur der Sache. Richtung Posseltslust wird es dann immer weniger. Es stimmt, dass der Blick vom Turm Richtung Kraichgau fantastisch ist bei klarem Wetter, aber es ist auch etwas eng da oben. Danke für den schönen Text.

  • Jana

    Für mich ist es immer besonders spannend, lieber Torsten, wie du im Nachhinein unsere gemeinsamen Wanderungen in Worte kleidest. Ganz toll ist dir das hier wieder gelungen! Beim Lesen habe ich mich sofort an jede Einzelheit erinnert – an unser anfängliches Suchen eines bestimmten Wandersymbols, an die wunderschönen breiten Waldwege, die fantastischen Aussichten und den Regenguss zum Schluss. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass der Stadtwald so dermaßen weitläufig ist. Dort können wir sicher irgendwann noch weitere schöne Wege erkunden. Nur der Abstieg über die Himmelsleiter muss kein drittes Mal sein, haha.

    Liebe Grüße
    Jana

    • gorm

      Es war mal eine Tour der etwas anderen Art. Stadtnah, im Grunde ein Naherholungsgebiet für gestresste Großstädter, aber es hatte dann nach einer gewissen Zeit doch das Flair einer richtigen Wanderung. Wir sind ziemlich spontan vorgegangen, was dort aber ohne Probleme möglich war, und letztlich haben wir alles gefunden, was wir gesucht haben.:-) Highlight dann natürlich der Blick vom Schloss hinunter auf die Stadt, wegen des strömenden Regens mit einer Atmosphäre wie im London des 19. Jahrhunderts, aber das hatte was.:-) Unter dem Strich eine schöne und lohnenswerte Wanderung.

      Liebe Grüße
      Torsten

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