TOUR 11 – MARPINGEN: BIBERPFAD
Irgendwo, so denke ich im Laufe dieser Tour immer wieder, irgendwo in den unzugänglichsten Katakomben der Vorsehung, weit, weit jenseits von allem, was für den menschlichen Geist begreifbar ist, muss ein geheimnisvolles Buch aufbewahrt liegen, verschlossen von 77 Siegeln, in dem die Windungen des Schicksals eines jeden Einzelnen bis ins kleinste Detail aufgezeichnet sind, und in diesem von 77 Siegeln verschlossenen Buch ist auch die Erklärung für alles zu finden, was mit Beginn meiner Wanderungen an erstaunlichen Entwicklungen eingesetzt hat, mit dem vorläufigen Höhepunkt, fast 1000 Kilometer durch Unterfranken wandern zu wollen.
Im Augenblick aber zählt erst einmal das Hier und Jetzt.
Ich starte diese Wanderung zu einer Zeit, als die Morgensonne noch darum kämpft, sich aus dem Griff der Dämmerung zu befreien.
Es ist kühl und windig. Im schwachen Dämmerlicht sieht der Himmel groß und finster aus.
19 Kilometer liegen vor mir, eine recht schwierige Wanderung mit einigen steilen Anstiegen, wie ich gelesen habe.
Nach zwei Kilometern werde ich denken: Es war ein Fehler, nach einer Nacht, in der ich nicht eine einzige Sekunde Schlaf abbekommen habe, so eine Tour in Angriff zu nehmen. Eine leichtere hätte es sicher auch getan.
Aber schon nach fünf Kilometern gibt es Gedanken dieser Art nicht mehr. Ich habe mich bereits so ins Gehen hineingefunden, dass ich nur noch Atem und Bewegung bin und meine Füße den Weg wie von selbst zu finden scheinen.
Wie so oft bin ich anfangs recht gemächlich unterwegs, erhöhe mein Gehtempo erst nach und nach.
Die Strecke ist dafür wie gemacht. Mal gemäßigt ansteigend, mal tischeben verläuft der Pfad durch noch dämmrigen Wald mit im Morgenzwielicht bizarr wirkenden Baumkonturen. Meine Schritte, allerdings gedämpft durch den weichen Waldboden, sind außer den verschiedenen Vogelstimmen das einzige Geräusch.
Knorriges, totes Geäst liegt überall herum.
Ich kann nirgends weit in den Wald hineinblicken, nur ganz allmählich wird es heller.
Ich verlasse den Wald. Dunkellichtes Morgengewölk zieht über den Himmel, von einzelnen Sonnenstrahlen zerschnitten. Über den Wiesen wird es immer heller.
Ein früher Jogger kommt mir entgegen. In der morgendlichen Stille klingen seine Schritte laut wie Hammerschläge.
Kurz darauf erreiche ich den höchsten Punkt der Strecke und gönne mir eine kurze Pause. Die Sonne hat inzwischen die Oberhand gewonnen. Ich atme ein paar Mal tief durch, fülle die Lungen mit der frischen Morgenluft, dann schnappe ich meinen Rucksack und setze die Wanderung auch schon fort.
Ganz in der Nähe befindet sich die Marienverehrungsstätte Härtelwald, wo in den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts drei Mädchen mehrere Marienerscheinungen gehabt haben wollen.
Später sehe ich auch tatsächlich ein Schild, das auf diese Stätte hinweist.
Ich schlage allerdings eine andere Richtung ein, stapfe nun eine ganze Weile bergab, erst durch lichten Wald, dann einen schmalen Saum zwischen einem Weizenfeld und dem Waldrand entlang.
Ich habe das Gefühl, sehr viel Zeit zu haben und sie gar nicht besser nutzen zu können als so, wie ich es gerade tue.
Vom Waldrand aus habe ich freien Blick auf ein Dorf im Sonntagsmorgenschlummer, wahrscheinlich Marpingen.
Aus der Entfernung könnte man beinahe meinen, das Dorf sei unbewohnt. Nichts, buchstäblich nichts, rührt sich. Es könnte sich genauso gut um eine riesige Postkarte handeln, die irgendjemand hier platziert hat.
Ich trotte schräg über eine Wiese, danach ein kurzes Stück an einer Landstraße entlang und biege dann auf einen asphaltierten Feldweg ab.
Von Müdigkeit kann keine Rede mehr sein.
Ich wandere einen Wiesenpfad hinauf und nicht lange danach gibt es einen besonderen Moment, als ich auf ein vollkommen freies Feld gelange und mit einem Mal nach allen Seiten völlig freie Sicht habe.
Von weitem sehe ich vier Windräder. Bei dreien davon drehen sich die Flügel so langsam, dass man schon sehr genau hinsehen muss, um überhaupt eine Bewegung auszumachen.
Kurz darauf mühe ich mich einen steilen, unwegsamen Pfad hinab zu einem fast vollkommen ausgetrockneten Bachbett, laut Hinweisschild das „Reich des Bibers“.
Biber gibt es hier allerdings so viele wie Rentiere in Marokko. Viel schlimmer ist jedoch der faulige Geruch, der plötzlich in der Luft liegt. Grundsätzlich wäre das eine ganz nette Passage, so aber verbringe ich hier nicht mehr Zeit als unbedingt notwendig.
Wenig später stapfe ich den nächsten Wiesenpfad hinauf, überquere einen schmalen Feldweg, der sich einsam irgendwo in der Ferne verliert, und dann befinde ich mich plötzlich nur wenige Schritte von den Windrädern entfernt, die ich vorhin von weitem gesehen habe. Mittlerweile bewegen sich ihre Flügel definitiv überhaupt nicht mehr, keiner von ihnen.
Ich schaue mich um.
Auch die Bäume stehen ruhig wie aus Beton gegossen.
Die ganze Zeit warte ich darauf, dass das stete Auf und Ab mich irgendwie zermürbt. Dass meine Schritte schwerer werden, mich eine jähe Erschöpfung heimsucht, mir irgendetwas auf irgendeine Art und Weise signalisiert, dass ich langsamer machen, mit meinen Kräften vorsichtiger umgehen muss, aber in mir wächst ganz im Gegenteil das Gefühl, dass ich heute unangreifbar und gegen Erschöpfung gefeit bin.
In diesen knapp drei Monaten des Wanderns haben sich Entfernungen – und einiges andere – relativiert.
Vor meiner ersten Tour wären 19 Kilometer mit vielen Höhenmetern für mich noch so etwas gewesen wie eine Herausforderung des Schicksals, ein hybrischer, gedankenloser Akt der Selbstvernichtung. Und nun: Eine Etappe auf dem Weg zu einem größeren Ziel, mehr nicht.
Jetzt folgt der spektakulärste Teil der Strecke, eine Schlucht im Wald, schmal, aber tief eingeschnitten, mit steilen Böschungen zu beiden Seiten.
Ein paar Minuten lang verharre ich am tiefsten Punkt der Schlucht. Um mich herum ein Tohuwabohu von Steinen und Geäst. Über mir Bäume, die sich dem Licht entgegenstrecken.
Vorsichtig die Füße aufsetzend, gehe ich von Stein zu Stein und steige dann wieder empor an die Sonne.
Mittlerweile ist es richtig warm geworden. Die Sonne macht ernst und knallt mit fast südländischer Intensität vom Himmel herab.
An einem Weiher stürmt plötzlich ein Hund auf mich zu.
Keine Ahnung, wo der herkommt. Ich bleibe stehen, er auch. Ich gehe langsam weiter, er folgt mir.
Jetzt erst taucht sein Besitzer auf und ruft ihn zurück.
Ich könnte ein paar Worte dazu sagen, aber ich will vorwärtskommen und keine absehbar sinnlosen Dispute führen.
Wieder eine Wiese. Wieder ein Anstieg. Wieder ein Windrad in der Ferne.
An einer Weggabelung gehe ich nach links. Nach ein paar Metern stoße ich auf eine Sinnenbank und einen Wegweiser mit diversen Entfernungsangaben: Saarbrücken 21,5 Kilometer, ein Ort mit dem Namen Humes dafür nur 4 Kilometer.
Auch Straßburg ist aufgelistet.
Es soll genau 108,3 Kilometer von hier entfernt liegen.
Ich habe das Gefühl, dass in nicht allzu ferner Zukunft auch solche Distanzen kein Problem mehr für mich sein werden.
Der Weg führt nun, für mich etwas überraschend, nach Berschweiler hinein und sogar ein paar hundert Meter an der Hauptstraße entlang.
Wie schon einige Male an anderen Punkten der Tour werde ich der Versuchung ausgesetzt, den Weg abzukürzen, indem ich eine ausgeschilderte Alternativstrecke wähle.
Aber ich beschäftige mich nicht einen Lidschlag lang damit, die Abkürzung zu nehmen. Ich nehme zur Kenntnis, dass sie vorhanden ist, aber sie ist für mich nicht präsenter als ein Schloss in den Wolken.
Nachdem ich das Dorf hinter mir gelassen habe, biege ich recht bald von neuem in den Wald ab.
Die letzten Kilometer verlaufen auf meist schmalen Pfaden. Immer mal wieder muss ich quer im Weg liegende Baumstämme übersteigen oder einem Schlammloch ausweichen, das sich an lichtgeschützter Stelle irgendwie erhalten hat.
Schließlich noch eine breite Schneise hinab, ein kurzes Stück an der Landstraße entlang und ich bin wieder zurück an meinem Ausgangspunkt.
4 Comments
Ursula Dahinden-Florinett
Ich beginne gleich mit einer Frage. Ist das Holzhäuschen, Bild 4, für Bienen oder einfach nur schön anzuschauen? Holzskulpturen (Bild 6 + 7) haben wir auch im Sirnacherwald. Neben dem Bahnhoftic habe ich eine Schwäche für Skulpturen.
Du bringst in den Wanderungen immer deine Gedankengänge so gut ein. Mit deiner so begabten Sprache bringst du die Stimmungen der Natur so gut rüber.
Marienverehrungsstätte Härtewald war auch oft ein Thema als ich in eine „Psychiapotheke“ arbeitete. Etliche Patienten gingen einmal im Jahr nach Lourdes, mit der Hoffnung auf Heilung.
Wieder eine Wanderung, so schön zu Lesen und ein MUSS sich dabei Zeit zu lassen!
gorm
Vielen Dank, liebe Ursula, für Deinen interessanten Kommentar. Das Holzhäuschen war wohl tatsächlich für Bienen. Man hat insgesamt so ein wenig versucht, zumindest den Beginn der Strecke auf „Tiere in Wald und Flur“ abzustimmen. Ich hatte mir überlegt, den Abstecher zum Härtelwald zu machen, aber letztendlich wäre das ein zu großer Umweg gewesen…
Ursula Dahinden-Florinett
Biberpfad
Im Kanton Thurgau dürften es ca. 500 Biber sein, der höchste Biberbestand in der Schweiz. Er ist auch bei uns in der Murg anzutreffen. Er baut und baut, sowie auch Höhlen unter dem Wanderweg. Er fällt die Bäume entlang der Murg. Er ist ein emsiges Tier, macht den Landwirten auch Sorge, denn im Sommer frisst er regellmässig den Mais. An einem Sommerabend konnte ich ihn bei der Arbeit bewundern.
gorm
Ich habe schon ewig keinen Biber mehr gesehen. Auf diesem Wanderweg gab es jedenfalls keinen einzigen. Vielen Dank für den interessanten Kommentar.:-)