Wandertouren

TOUR 111 – VON WEINHEIM NACH LAUDENBACH

Es ist eine Wanderung der Langsamkeit und der Beständigkeit, eine Wanderung, bei der sich Veränderungen dem Empfinden nach so gemächlich ergeben, wie Wasser an kalten Wintertagen verdunstet, bis sie irgendwann unübersehbar doch da sind, es ist eine Wanderung der engen, wie im Nachhinein irgendwie in den Wald hineingezwängten Pfade, aber auch der ruhigen Fernblicke und der gläsernen, dunstigen Horizontlinien, eine Wanderung aus dem Lärm in die Stille und wieder zurück in den Lärm.

Jana und ich sind in Weinheim und damit zum dritten Mal innerhalb weniger Wochen an der Bergstraße. Nur dass wir diesmal nicht wie bei unseren Wanderungen von Heppenheim bzw. von Bensheim aus in Hessen unterwegs sind, sondern im Norden oder meinethalben auch Nordwesten von Baden-Württemberg. Könnten wir einfach schnörkellos durch die Luft spazieren, dann wäre unser Zielort Laudenbach nicht mehr als rund 7 Kilometer entfernt, aber der Blütenweg, nach dem wir uns richten wollen, orientiert sich selbstredend nicht einmal ansatzweise an der Luftlinie.

Wir wandern los.
Am Bahnhofsgebäude vorüber in Richtung Weschnitz, dem Fluss, der durch Weinheim fließt.
Von den Hotspots, die man für gewöhnlich aufsucht, wenn man hier zu Besuch ist – Exotenwald, Schlosspark oder Hermannshof zum Beispiel – bekommen wir heute nichts mit, da diese in einer ganz anderen Richtung liegen.
Nur die Ruine von Burg Windeck kriegen wir zu Gesicht, denn die steht schließlich unübersehbar hoch oben über der Stadt.

Der Weg durch die Straßen Weinheims ist auf dieser Tour im Grunde nur eine Randnotiz. Je weiter wir uns von der Innenstadt entfernen, desto mehr verebbt der Stadtlärm. Wir wandern bergan in den Wald hinein. Das heißt, ein richtiger Wald ist es gar nicht, es ist lediglich eine Ansammlung von Bäumen, die durchsetzt ist von verwilderten, überwucherten Kleingärten, von denen die meisten so verlassen wirken wie eine aufgegebene mittelalterliche Siedlung.

Über das Wetter können wir uns nicht beklagen.
Es gibt ein paar dunklere Wolken am Himmel, aber nicht einmal die sehen allzu gefährlich aus. Es ist warm, selbst in den schweren Schatten der Bäume.
Mag sein, dass wir irgendwann mit einem Schauer rechnen müssen, aber im Grunde könnten wir es uns kaum besser wünschen, als es im Augenblick ist.

Auf unseren bisherigen beiden Wanderungen an der Bergstraße waren wir binnen kürzester Zeit irgendwo oben in den Weinbergen oder auf einem Hügel, umgeben von Horizont auf allen Seiten, die Landschaft eingesponnen in frühlingshelles Licht, die Wege wirkten wie frei schwebend in der Luft.
Das ist im Augenblick noch anders.
Nur einmal können wir durch eine Lücke zwischen den Bäumen über die Dächer von Weinheim hinwegblicken. Die Stadt wirkt ganz nah, man könnte beinahe noch die Zahl der Ziegel auf den Dächern zählen. Von ausufernder Weite kann keine Rede sein, denn es fehlt irgendwie der Hintergrund. Jenseits der Häuser gibt es einen schmalen, so gut wie nicht existenten Streifen, der sehr dunkel erscheint und dahinter kaum sichtbar ein paar schemenhafte Hügel.

Immer noch diese Kleingärten.
Manche davon erwecken den Eindruck, als habe seit dem Besuch Honoré de Balzacs in Weinheim im Jahre 1835 kein Mensch mehr einen Fuß hineingesetzt.
Balzac war nicht zum Wandern in Weinheim, er hatte eher Spaziergänge im Schlosspark mit der schillernden Abenteurerin Jane Digby im Sinn, die zu diesem Zeitpunkt mit ihrem gerade aktuellen Ehemann Karl von Venningen im Schloss lebte. Jane Digbys Lebensweg führte in den kommenden Jahren von Weinheim und von deutschem Boden weg nach Griechenland und später dann als Frau eines Beduinenscheichs nach Damaskus.
An Balzacs Aufenthalt in Weinheim erinnert noch ein im Schlosspark aufgestellter Tisch, der die Jahrzehnte überdauert hat und dem jetzt eine nagelneue Gravur verpasst worden ist, welche das Konterfei des Schriftstellers zeigt.

Wenngleich Balzac kein Wanderer war, so beschäftigte er sich doch mit dem Gehen.
Seine detaillierten Beobachtungen von Spaziergängern und Flaneuren in den Straßen von Paris und von deren spezifischen Gangarten fanden schließlich sogar Niederschlag in einem Essay über die Theorie des Gehens.
„Der Gang ist die Physiognomik des Körpers“, lautete Balzacs Grundthese. Sie sei es, durch die menschliche Tugenden und auch Krankheiten unbarmherzig offenbart würden.

Wäre Balzac ein, zwei Jahre früher dagewesen, dann hätte er seine Beobachtungen zum Gehen vielleicht an einem nicht ganz unbekannten Zeitgenossen erproben können, der etwas weiter nördlich die Täler und Hügel der Bergstraße durchwanderte, ehe er als Aufrührer steckbrieflich gesucht wurde und ins Exil nach Straßburg flüchten musste.
Die Rede ist von Georg Büchner, dessen Erzählung „Lenz“ durchaus als eine Art Urknall der literarischen Moderne betrachtet werden kann.
Büchner, um beim Wandern zu bleiben, marschierte im Jahre 1833 nahezu die gesamte hessische Bergstraße entlang bis ins Badische, von Darmstadt aus nach Zwingenberg, dann über den Melibokus und weiter nach Heidelberg.

Jana und ich haben uns derweil zu einer Rast entschlossen.
Wir hocken mitten im Wald auf einer Schattenbank neben einem Brunnen, aus dem unentwegt Wasser sprudelt.
Es ist schön kühl und von der rauen Dunkelheit auf den Wegen zwischen den Kleingärten hindurch ist hier auch nichts mehr zu spüren.
Auf die weiten Fernblicke, wie wir sie auf unseren letzten beiden Wanderungen an der Bergstraße erlebt haben, müssen wir allerdings wohl noch eine Weile warten.

Die Pfade werden jetzt etwas heller, aber dafür müssen wir uns an einigen Stellen über umgestürzte Bäume hinweglavieren. Passend dazu breiten sich zwischen den Baumwipfeln wieder dunklere Schatten aus, so dass die Umgebung eher wirkt wie an einem mittelhellen Herbsttag.
Wir laufen um eine Haarnadelkurve herum und dann scheint es, als würde der Weg mitten über ein Privatgrundstück hinwegführen bzw. es in zwei Teile zerschneiden. Wahrscheinlich ist dem gar nicht so und es ist einfach nur ein normaler Waldweg mit angrenzendem Grundstück, aber irgendwie passt es in die Reihe eher seltsam anmutender Eindrücke, die wir bisher auf dieser Wanderung gesammelt haben.

Eine Bank, wie mitten in der Luft abgestellt, nach allen Seiten freie Sicht, das wäre es jetzt.
Die Hälfte der Wanderung liegt immerhin bereits hinter uns und im Moment glaube ich eher daran, dass wir hier ein Wurmloch finden, das uns ans andere Ende der Milchstraße bringt, als dass wir noch einen richtig schönen Fernblick genießen können.
Es ist aber auch eine Frage der Maßstäbe und der eigenen Erwartungen. Der Weg ist alles andere als unschön, und er kann nichts dafür, dass er anders ist, als wir ihn uns vorher vorgestellt haben.
Doch dann, als wir schon nicht mehr damit rechnen, vollzieht sich ein verblüffender Wandel und beinahe von einer Sekunde auf die nächste kommt dieser Anflug des Außergewöhnlichen hinzu, der eine ganz nette Tour zu einem Wandererlebnis werden lässt.

Ich glaube, es beginnt an einer Stelle, an der wir, zumindest gefühlt, zum ersten Mal seit Weinheim den Himmel sehen.
Einen von kaum bemerkbaren weißen Wolkeninseln übersäten Himmel, die je näher, desto dunkler und zerklüfteter erscheinen.

Und plötzlich folgen die Fernblicke dicht aufeinander.
Zunächst grünes, handtellerflaches Land mit einzelnen Baumgeschwadern mittendrin, der Horizont wie eine gewellte Küstenlinie, die Sonne irgendwo hinter den Wolkenbänken verborgen.
Später lichtüberflutetes Land, im Vordergrund meterhohes Gras, eine Armee in der Sonne leuchtender Halme, der Himmel wirkt riesig und scheint zum Horizont hin abzukippen wie ein schiefes Dach.

Das ist genau das, was dieser Wanderung bisher gefehlt hat. Und es war höchste Zeit dafür, denn mit einem Mal wird der Himmel staubgrau und Sekunden später setzt Regen ein.
Für Minuten ist alles, was weiter als 100 Schritte entfernt ist, wie ausgelöscht.
An Fernblicken hätten wir unter diesen Umständen nicht viel Freude.
Aber dann ist es auch schon wieder vorbei und die Sonne kehrt zurück.

Wir befinden uns mittlerweile am Stadtrand von Hemsbach.
„Laudenbach 3,0 Kilometer“, lesen wir auf einem Wegweiser.
Mit anderen Worten – ab sofort beginnt so etwas wie die Zielgerade der heutigen Tour.
Der Regen ist schon wieder vergessen. Nicht mal eine Spur von Feuchtigkeit hat sich gehalten, nicht an Blättern oder Sträuchern, nicht auf den Wegen.
Es ist warm, eher schon heiß, jedenfalls nach mitteleuropäischen Maßstäben.
Die Landschaft ist sommerstill.
Der Horizont ist glatt und ohne irgendeine Spur von Eintrübung.

Endlich sind wir auch in den vor allem von Jana schon lange erwarteten Weinbergen.
Hemsbach, Laudenbach, das sind natürlich Weinorte, so wie viele andere Gemeinden an der Bergstraße auch.
Es sind elementar schöne Eindrücke, die wir jetzt sammeln.
Die Wege, die Ausblicke, selbst vermeintlich unscheinbare Dinge am Rand, alles passt harmonisch zusammen. Wir beide tun eigentlich nichts dazu, außer dass wir eben anwesend sind. Es ist so eine Art erlebnisreiches Nicht-Geschehen, wie so oft bei Wanderungen.

Kurz vor Laudenbach.
Aus den umliegenden Weinbergen haben wir einen wunderbaren Blick auf das wenige Kilometer entfernte Heppenheim, das bereits in Hessen liegt.
Letzter Blick in die Landschaft: Im Vordergrund schattige Weinberge, weiter weg eine Ebene aus grünen Feldern, und zwischen Weinbergen und Ebene ein paar Häuser von Laudenbach samt der Dorfkirche.

Drei Frühlingswanderungen haben wir in den letzten Wochen an der Bergstraße gemacht.
Ein besseres Ziel hätten wir uns nicht aussuchen können.
Für Jana und mich gibt es keine schönere Zeit im Jahr als die Tage des Frühlings.
Diese Tage der scheinbar unbegrenzten Blickfelder bis in den späten Abend hinein.
Diese Tage, an denen irgendwie immer alles im Leben noch vor uns zu liegen scheint.
Diese langen, hellen, stillen Tage des Frühlings.

 

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4 Comments

  • Sylban

    Wie immer ein klasse Text über eine Wanderung. In Weinheim war ich vor vielen Jahren mal, aber dass sich Balzac mal dort rumgetrieben hat, war mir nicht bekannt. Beim nächsten Besuch dort werde ich nach dem Tisch im Schlosspark Ausschau halten.

    Gruß, Sylban

    • gorm

      Ich kann mich an den Tisch auch nicht so recht erinnern, ehrlich gesagt. Muss mal die Augen offenhalten, wenn wir mal wieder in Weinheim sein sollten. Danke für den Kommentar.:-)

      Beste Grüße
      Torsten

  • Jana

    Dass sich diese Wanderung noch als richtig schön erweisen sollte, hätten wir zu Beginn nicht gedacht. Was für eine Überraschung! Wunderbare Ausblicke konnten wir genießen, uns an sattem Frühlingsgrün erfreuen, tolle Pfade entlanglaufen. Und dein Text dazu ist wie immer ein literarischer Genuss, lieber Torsten.

    Liebe Grüße
    Jana

    • gorm

      Ab etwa der Häfte der Wanderung wurde es so richtig großartig, liebe Jana.:-) Das heißt nicht, dass der erste Teil schlecht war, im Gegenteil. Aber der Hauch des Besonderen fehlte so ein bisschen. Wir waren natürlich auch verwöhnt von den beiden anderen Wanderungen an der Bergstraße, die schlicht fantastisch waren. Jedenfalls grasen wir im Rhein-Neckar-Kreis nach und nach alles ab.:-)

      Liebe Grüße
      Torsten

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