Wandertouren

TOUR 102 – LADENBURGER WEGE

Erstes Bild: Eine späte Vormittagssonne über dem Fluss, eine Sommersonne, die alles weit und hell erscheinen lässt, nur im hohen Gras unmittelbar am Ufer und im Schatten der dichten, beinahe das Wasser berührenden Weidenkronen hat sich noch ein Rest von Nässe aus den vergangenen kalten, grauen Regentagen gehalten.
Alles ist weiß.
Der Horizont ist weiß, dunkelweiß allerdings wie ein Wasserfall im Nebel.
Am Himmel weiße Wolkeninseln, die sich im Fluss spiegeln, so dass es auch dort weißlich schimmert.
Vom gegenüberliegenden Neckarufer leuchten weiße Häuserfassaden herüber, die im Mittagslicht aussehen wie in die Luft hineingeschnittene Torbögen.

Unser Ausgangspunkt ist Ladenburg, ein paar Kilometer östlich von Mannheim.
Es ist gerade einmal sechs Wochen her, seit Jana und ich zuletzt hier gewesen sind. Damals war Ladenburg nur eine Zwischenstation auf unserer Wanderung nach Heidelberg-Handschuhsheim, heute entfernen wir uns zu keinem Zeitpunkt mehr als vielleicht zwei Kilometer von der Stadt.

Es ist mittlerweile Sommer, wenngleich man davon an manchen Tagen nicht allzu viel gemerkt hat.
Aber heute ist das anders.
Man spürt den Sommer mit geschlossenen Augen.
Die Geräusche haben diesen besonderen, dem Sommer eigenen Anflug von Ferne und Weite, manchmal hängen Stimmen und Gelächter sekundenlang in der Luft, ohne dass man sie exakt orten kann, sie könnten zehn Zentimeter vom Himmel weg sein oder auch über dem Fluss schweben.
Es gibt nur einen ganz dezenten, so gut wie nicht vorhandenen Luftzug, aber zum Glück auch keine Hitze, die abgemildert werden müsste. Es ist ein beinahe sanfter Vormittag, der Himmel wirkt nicht so hart und fast steinern, die Sonne nicht so grell wie an heißen Hochsommertagen. Die Leute schleichen auch nicht wie betäubt von der Hitze durch die Straßen, wie es bei 35 oder 40 Grad der Fall ist, es herrscht eine leichte, unbeschwerte Atmosphäre.

Die Strecke, die Jana und ich für heute ausgewählt haben, ist sehr kurz und sehr leicht.
Insgesamt sind es zehn Kilometer, wenn überhaupt, und der einzige Anstieg ist die Treppe hinauf zum Bahnsteig am Ende der Tour.
Das bedeutet, dass wir nicht durch die Gegend rennen müssen, als wäre eine Horde von Hollows uns auf den Fersen, sondern dass wir uns jede Menge Zeit lassen können und dass die Wanderung teilweise wohl eher einem ausgedehnten Spaziergang ähneln wird.

Die rund anderthalb Kilometer am Neckar entlang kennen wir ja bereits von der anfangs erwähnten Wanderung nach Handschuhsheim.
Es herrscht heute ungefähr das gleiche Wetter, nur der Himmel ist etwas heller, so dass mehr Einzelheiten zu erkennen sind.
Es ist weniger los als Anfang Mai, und zwar so viel weniger, dass es auffällig ist. Das gilt sowohl für den Uferbereich in Ladenburg als auch für den Asphaltweg am Neckar entlang. Vor einigen Wochen kamen wir uns vor wie mitten in einer Ameisenkolonie, heute treffen wir nur ab und zu auf ein paar Spaziergänger und einige Radfahrer.
Irgendwie ist diesmal alles eine Nummer beschaulicher und damit auch übersichtlicher.

Schon unmittelbar hinter Ladenburg verläuft der Weg nicht mehr hart am Ufer entlang. Der Fluss verbirgt sich hinter Röhricht und einem immer breiteren Gürtel aus Bäumen und Gesträuch.
Wir passieren eine Stelle, an der wir vor sechs Wochen lange auf einer Bank gesessen haben. Diesmal aber ist die Bank besetzt.
Daran, dass wir nach ein paar wenigen Schritten bereits an eine Pause denken, erkennt man jedoch, dass das heute eine Wanderung ist, bei der wir so tun können, als wären wir die Beherrscher der Zeit.

Nicht lange und wir verlassen den uns bekannten Asphaltweg und damit entfernen wir uns fürs Erste auch vom Neckar.
Wenn wir einfach geradeaus weitermarschieren würden, wären wir innerhalb einer halben Stunde in Schriesheim.
Über den Feldern diese beständige, unauflösbar erscheinende Sommerstille, die keine vollkommene Stille ist, aber als solche empfunden wird, weil die winzigen Geräusche, aus denen sie besteht, meistens nicht einmal wahrgenommen werden.
Zwei, drei Herzschläge lang fühlt es sich so an, als schöpfe der Tag für ein paar zeitlose Augenblicke Atem.

Plötzlich stehen wir vor einem Wäldchen aus seltsam aussehenden, hohen Bäumen. Man sieht auf den ersten Blick, dass sie normalerweise nicht in Mitteleuropa beheimatet sind.
Es sind Kiri-Bäume, auch Blauglockenbäume genannt, eine aus Ostasien stammende, rasch wachsende und offenbar gegen Trockenheit und Hitze ziemlich resistente Baumart.
Jana und ich sehen eine solche Plantage zum ersten Mal, obwohl Kiribäume mittlerweile in Deutschland gar nicht mehr so selten zu sein scheinen. In Wäldern dürfen sie allerdings nicht angepflanzt werden, da sie als invasive Art gelten und die Gefahr bestünde, dass einheimische Gehölze verdrängt werden.

Danach wieder einmal diese kleinen Wegrand-Welten.
Der Gesang des Windes in den Maisfeldern, die vom Mohn eingenommenen Ackerränder, das manchmal in den Weg hineinwachsende Gras, das struppig wie Wüstengras aussieht, dahinter oft fast übergangslos strohgelbe Weizenfelder.
Beinahe Schritt für Schritt, Blick für Blick kann man etwas Neues entdecken.

Einmal erspäht Jana eine Kolonie phänomenal leuchtender Sonnenblumen.
Es ist eines der schönsten Bilder des Tages – dieses Feld voll hoher, weithin sichtbarer Blumen unter dem hellen Himmel, die Bäume jenseits des Feldes bilden einen dunklen Ring aus Schatten, der das Leuchten noch mehr hervorhebt, und der Blick konzentriert sich nur darauf, alles ringsum ist wie abgedunkelt, das Feld sieht dadurch beinahe aus wie eine Insel.

Eines zeigt diese Wanderung exemplarisch – wie viel Schönes oder einfach irgendwie Interessantes man wahrnehmen kann, wenn man sich die Zeit nimmt, die Dinge im Detail zu betrachten.
Manches davon fällt früher oder später einem unauflösbaren Vergessen anheim, aber vieles bleibt auch im Gedächtnis.
Bilder, Momentaufnahmen, kurze Eindrücke, Namen und Orte mit historischen Bezügen und so weiter.

Nicht selten stößt man auch auf kleine Geheimnisse, die man buchstäblich im Vorbeigehen zur Kenntnis nimmt. Nicht gerade solche, bei denen jede Faser des Körpers vor Anspannung vibriert und bei denen man kein Auge mehr zumacht, ehe man sie endlich gelöst hat, aber ein paar davon sind doch interessant genug, sie in Erinnerung zu behalten und später darüber nachzulesen.
Da kann wie diesmal schon ein merkwürdig anmutendes Straßenschild am Geländer einer winzigen Brücke über einen zwischen den Äckern kaum zu erkennenden Bach genügen.
Irgendjemand hat das Schild einfach da befestigt und es mit dem Namen eines in Ladenburg offenbar ziemlich bekannten Landwirtes versehen.
Auch die Kiribaum-Plantage war ja bereits ein kleines Geheimnis.
Wenn die Ansprüche sich im Rahmen halten und man nicht so etwas erwartet wie zwei Millionen Jahre alte Fußabdrücke oder im Sand vergrabene antike Gefäße, dann kann man, was Rätsel angeht oder meinetwegen auch Denkanstöße, eigentlich bei jeder Wanderung fündig werden.

Bei langen Tageswanderungen ist eine solche detaillierte Aufmerksamkeit für die Umgebung natürlich höchstens punktuell möglich. Man kann nicht 40 oder 50 Kilometer unterwegs sein und sich dann noch mit sämtlichen kleineren und größeren Rätseln beschäftigen, die sich dabei auftun. Es ist trotzdem noch mehr als genug, was man aufschnappt oder sogar ganz bewusst wahrnimmt, nur ist das Raster zwangsläufig wesentlich gröber als bei Touren, die so kurz sind, dass man keinen Gedanken daran verschwenden muss, wie weit man noch vom Tagesziel entfernt ist.

Wir spazieren zwischen Feldern und Wiesen hindurch.
Obwohl wir nicht weit von der Landstraße entfernt sind und ringsumher überall asphaltierte Wege verlaufen, wirken die Felder ruhig wie Lagunen in der Abendsonne.
Es ist ein Tag, der fürs Wandern wie geschaffen ist.
Ein Tag, an dem man sich vorstellen könnte, sehr weit zu gehen, weiter als weit, einfach in irgendeine Richtung zu laufen, ohne ein festes Ziel im Sinn zu haben, mit dem Gefühl, dass einem alles wie von selbst zufällt und eine Formel zu kennen, die einem Macht über die Zeit verleiht.

Die Wiesen und Äcker bleiben, aber der Asphaltweg wird zu einem Feldweg, der schön verborgen zwischen hohen Maisstauden und dickichthaftem Gesträuch verläuft, außerdem ist da auch noch ein gar nicht mal so schmaler Bach, dessen Wasser sumpfgrün schillert und bei dem man den Eindruck hat, dass er jeden Moment über die niedrigen Ufer treten könnte. Wenn er dreimal so breit wäre, wie er ist, dann würde man sich wahrscheinlich wie in einer Miniaturausgabe der Everglades vorkommen.

Stichwort Wasser.
Vom Neckarufer sind wir zwar seit längerer Zeit einige Ackerbreiten weit entfernt, aber das bedeutet nicht, dass wir uns die ganze Zeit durch eine wasserlose Steppe schleppen würden.
Es gibt Wasser, und zwar gar nicht so wenig.
Im Grunde zieht sich ein Netz von Bächen und Gräben durchs Gelände, die letzten Endes alle in den Neckar münden.
Es dauert nur eine kleine Weile, bis wir uns dessen bewusst geworden sind.

Interessanterweise hat sich analog zu den großen Flüssen auch bei vielen dieser kleinen Gewässer der Wasserlauf über die Jahrzehnte und Jahrhunderte hinweg stark verändert.
Der Kanzelbach beispielsweise – einer der Bäche, die auf unserem Weg liegen – mündete bis zum 1918 beginnenden Bau des Neckar-Kanals nicht wie heutzutage in Ladenburg, sondern ein paar Kilometer entfernt bei Ilvesheim in den Neckar.

Es ist mittlerweile sehr warm geworden.
Aber es ist keine glühende Sommerhitze, bei der ein Flimmern über dem Asphalt liegt und bei der das Flimmern sich fortsetzt, selbst wenn man die Augen schließt.
Ein gleichmäßig helles Licht füllt die Landschaft an wie einen riesigen Glaskasten.
Die flachen Felder unter dem flachen, sommerlichen Himmel lassen alles weiter erscheinen, als es tatsächlich ist.
Aber es ist der eigene Eindruck, der zählt.
Die allermeisten Erinnerungen hören irgendwann auf, detaillierte Bilder zu sein, wenn sie es überhaupt jemals gewesen sind. Und wenn man nach Tagen, nach Wochen zurückdenkt, dann erinnert man sich nicht nur an die Bilder, sondern auch an die Empfindungen bestimmter Momente, und diesen Blick über die Weizenfelder werde ich mit einer Empfindung sommerlicher Weite verbinden.

Jana macht mich auf die Strahlenburg in den Weinbergen oberhalb von Schriesheim aufmerksam, die wir ja von früheren Wanderungen her kennen.
Wir sind jetzt so nahe an Schriesheim, dass wir jeden einzelnen Zacken der Odenwaldhügel unterscheiden können, die in östlicher Richtung das Blickfeld begrenzen.
Wenn wir einfach dem Radweg folgen würden, dann wären wir von hier aus vermutlich sogar schneller in Schriesheim als zurück in Ladenburg.
Bei einer Wanderung von gerade mal zehn Kilometern, die man in einem Viereck abläuft, existieren aber ohnehin keine wirklich großen Entfernungen.

Letztes Bild: Eine schnurgerade Straße, die Bäume am Wegrand versperren die Sicht, so dass man nichts anderes sieht als diese Bäume, den Weg und darüber einen hellen Himmel voller Wolkenfelder, die sich bis zum Rande des Horizonts fortsetzen, so dass sie aussehen wie ein Geschwader kleiner Raumschiffe.

Wenig später sind wir wieder am Neckarufer in Ladenburg, exakt da, wo unsere Wanderung begonnen hat.

3 Comments

  • Roxanne

    Zehn Kilometer finde ich gar nicht so kurz. Sehr schön geschrieben, die Gegend ersteht plastisch vor dem inneren Auge. Auch die Fotos sind gut gewählt.

    Roxanne

  • Jana

    Bei dieser Wanderung wussten wir im Vorfeld nicht so recht, was uns erwartet. Im Nachhinein erwies sie sich als absoluter Glücksfall! Diese weiten Blicke über (Blumen-)Felder, die ebenen Pfade, oft an Gewässern entlang – das war so richtig erholsam und bot dem Auge eine Menge. Und wie immer hast du einen schönen Text dazu geschrieben, lieber Torsten.

    Liebe Grüße
    Jana

    • gorm

      Es war eine sehr schöne Wanderung auf teilweise versteckten Pfaden und wir haben jede Menge zu sehen bekommen, liebe Jana.:-) Bei einer so kurzen Wanderung beachtet man auch vieles, woran man bei einer längeren Tour vielleicht achtlos vorbeigehen würde. Die Gegend um Mannheim herum haben wir jedenfalls jetzt schon ziemlich intensiv erkundet.:-)

      Liebe Grüße
      Torsten

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