Wandertouren

TOUR 49: BLIESKASTEL – MARIANNENWEG – KIRKEL

Es gibt bei dieser Wanderung einen Moment, der kaum länger andauert als der Flügelschlag eines Kolibris, der mir aber hinterher dennoch so präsent ist, als hätte er über viele Minuten hinweg Bestand gehabt, einen Moment, intensiv und still zugleich, der ebenso gut in einen lebhaften Traum kurz vor dem Aufwachen passen würde wie in die Welt realer Erlebnisse.

Ich stehe zwischen geraden, hohen Stämmen, deren Schatten wie schmale Finger über moosbedeckte Baumstümpfe und ein Gewirr von Ästen und Wurzeln hinwegtasten.
Mit einem Mal – diesen einen, winzigen Moment lang – ist es so still, dass selbst die eigenen Gedanken laut erscheinen.
Nichts rührt sich.
Der Wald schläft, die Erde schläft.
Ein blasses Funkeln irgendwo tief am Boden, wie das Wasser eines Teiches im letzten entschwindenden Leuchten eines Frühlingstages, aber jenseits der Bäume ist diese Brandung aus sprühendem Licht, die sich an den dunklen Stämmen zu brechen und darüber hinwegzufluten scheint.
Dann sinkt die Stille in die Schatten zurück und die kleinen Geräusche des Waldes kehren zurück.

Ich beginne diese Wanderung ein paar Minuten nach halb neun.
Der Himmel ist so hell, als wäre es bereits Mittag, aber die Wiesen sind fast noch dämmergrau und ein leichtes, dunstiges Zittern liegt darüber, das sich erst nach und nach verflüchtigt.
Mit jedem Atemholen wird es wärmer. Das Licht wird klarer, ich kann buchstäblich dabei zusehen, wie es immer mehr Details der Landschaft herausarbeitet.

Dass ich vom Bahnhof in Lautzkirchen aus erst einmal knapp zwei Kilometer über einen fast durchgängig handtellerflachen Radweg bis nach Blieskastel trabe, ist ein Einstieg, wie er besser kaum sein könnte. So kann ich mich schon mal ein wenig einlaufen und nebenbei die Magie eines erwachenden Tages auf mich wirken lassen.

Freiheit.
Dieses Wort schießt mir plötzlich durch den Kopf, als ich unter dem leuchtenden Himmel so vor mich hinlaufe.
Gehen gleich Freiheit ist mir zu einfach. Obwohl es natürlich auch nicht falsch ist. Aber ich merke, dass das in meinem Kopf aufflackernde Wort mich ohnehin zu einem anderen Ziel führen will, nämlich: Wie viel oder wenig Freiheit nimmt man sich beim Gehen, wie viel oder wenig legt man vorher fest, wie viel oder wenig Offenheit für Ungewissheiten nimmt man in Kauf.

Heute zumindest existiert ein exakter Plan über den Ablauf der Wanderung. Ich will zunächst ungefähr 13 Kilometer auf dem Mariannenweg zurücklegen und dann auf den nicht weit davon entfernten Hüttenwanderweg wechseln, eigentlich kein allzu kompliziertes Unterfangen, aber wieder einmal wird sich zeigen, dass es eine Sache ist, einen Plan zu haben, eine ganz andere jedoch, ihn dann auch tatsächlich umzusetzen.

Als ich in Blieskastel ankomme, haben die Sonnenstrahlen jeden Hauch von Dunst aufgelöst. Es ist angenehm warm und in der Luft liegt mehr als nur eine Ahnung des beginnenden Frühlings.
Ich laufe über einen schon ziemlich belebten Flohmarkt hinüber und danach durchstreife ich erst einmal in aller Ruhe ein paar Kopfsteinpflastergassen. Zu viel Zeit kann ich mir allerdings auch nicht lassen, denn ich habe noch gut 40 Kilometer vor mir und die Erfahrung vergangener Touren spricht dafür, dass ich auch den einen oder anderen Umweg einkalkulieren muss.
Dass alles ganz anders kommt und die Tour erheblich kürzer wird als gedacht, das kann ich zu diesem Zeitpunkt ja noch nicht wissen.

Auf der Karte sah das Höhenprofil der Wanderung aus wie die grafische Darstellung einer Serie unmittelbar aufeinanderfolgender Tsunamis und der erste Anstieg lässt auch nicht lange auf sich warten.
Immer noch Kopfsteinpflaster.
Am Ende des Anstiegs die turmlose Schlosskirche, ein erster Blickfang.
Ich biege in eine Seitenstraße ab und kurz darauf folgt auch schon Anstieg Nummer zwei.
Es ist erst zehn Uhr und schon ist es ein betörender, wie mit Klangfarben aus unbekannten Sphären ausgestatteter Frühlingstag, den ich ohne zu zögern als Muster für alle noch kommenden Frühlingstage des Jahres akzeptieren würde.

Ich überquere eine Wiese und dann befinde ich mich auch schon beim Gollenstein, einem knapp sieben Meter hohen Menhir, der bereits bei einer früheren Wanderung auf dem Programm stand.
Damals kam ich allerdings aus einer anderen Richtung und im Gegensatz zu heute war es ein staubgrauer Tag mit stetigem, zermürbendem Regen. Diesmal setzt das nahezu wolkenlose Blau des Himmels den Stein perfekt in Szene.

Nicht dass mich der Menhir so sehr in Begeisterung versetzen würde, dass ich mich nicht davon losreißen kann, aber da ich ihn – wie ich zu diesem Zeitpunkt annehme – so bald nicht wieder zu Gesicht bekommen werde und da ich ohnehin eine kleine Rast einlegen will, dauert es eine Weile, bis ich meinen Weg endlich fortsetze.
Ich pflüge einen von Spurrillen zerfurchten Pfad hinab, der sich auf der anderen Seite einer Landstraße erst einmal noch zerklüfteter fortsetzt, aber ehe ich mich versehe, wird daraus ein idyllischer, lichterfüllter Weg, gekrümmt wie eine Vogelschwinge im Flug. Links ein steil abfallender Hang, mit hellen, von Lichtfäden durchwobenen Schatten, die Stämme der Bäume grünlich schimmernd, manchmal aber auch fast silbern, über den Baumkronen ein uferloses Blau.

Eine ganze Weile wandere ich bergan.
Es wird noch eine Spur idyllischer.
Eigentlich könnte ich alle paar Schritte im Gehen innehalten, um mich richtig sattzusehen. Das Blau strömt jetzt auch von den Seiten auf mich ein, dann bin ich aus dem Wald heraus und von einer Sekunde zur nächsten befinde ich mich mitten in einer schier horizontlosen Weite. Das Blau flutet über mich hinweg wie eine Bugwelle.
In der Ferne dunstig schimmernd eine Hügelkette, etwas näher tiefgrüne Wiesen und irgendwo mittendrin der Turm einer Dorfkirche.

Während ich auf dem jetzt ganz ebenen Pfad weitergehe, bildet sich ein Gefühl heraus, als hätte ich ungeachtet der Tatsache, dass ich ja noch gar nicht besonders lange unterwegs bin, gerade das Tagesziel erreicht. Und vielleicht ist das gar nicht einmal so falsch, denn mit einem Mal merke ich, dass ein Ausläufer der Stille auch in mir selbst ist und dass meine Gedanken offenbar schon seit geraumer Zeit nicht mehr so ziellos umherschwirren wie Felsbrocken in einer Kometenwolke.

Ich habe vorher etwas von großartigen Fernblicken gelesen und das bestätigt sich jetzt.
Was sich meinem Blick darbietet, hat einerseits etwas Verspieltes, andererseits ist es der Inbegriff von Beschaulichkeit und ein Schuss pittoresker Buntheit ist auch dabei.
Der jetzt schnurgerade Pfad verstärkt den Eindruck von Weite, ich kann den Blick viele hundert Meter vorauseilen lassen und beinahe könnte ich den Eindruck haben, als spaziere ich durch die Luft.

Kurz darauf wieder Wald.
Breit und hell fließt der Pfad unter meinen Füßen dahin, dann biegt er plötzlich in einem spitzen Winkel nach links ab. Einen kurzen Moment lang zuckt so etwas wie Verwirrung in mir auf, denn eigentlich habe ich damit gerechnet, noch den einen oder anderen Kilometer geradeaus gehen zu müssen.

Minuten, die zu Viertelstunden werden, wandere ich durch einen Wald, der immer heller wird und der erfüllt ist vom Duft und von den Geräuschen des beginnenden Frühlings.
Ich bin entspannter als entspannt, aber irgendwo zerrt ein Gedanke an mir und lässt mir keine Ruhe, bis ich mich ihm gewidmet habe. Der Gedanke nämlich, dass die Richtung, in die ich gehe, unmöglich richtig sein kann, und zwar ganz einfach deshalb, weil ich mich wieder auf Blieskastel zu bewege und nicht davon weg, wie ich es mit allerhöchster Wahrscheinlichkeit tun müsste, wenn ich irgendwann zu diesem Hüttenwanderweg gelangen will.

Auf einer Bank am Rande eines Spazierweges, über den sich Sonnenlicht ergießt wie aus einem riesigen Kelch, mit Blick auf ein Dorf und auf ein paar Pferdekoppeln, überlasse ich mich aber erst einmal dem Zauber des Augenblicks.
Als ich dann weitergehe, stoße ich sehr rasch auf einen Wegweiser, auf dem der Gollenstein angekündigt ist, womit auch der allerletzte Schatten illusionärer Hoffnung, ich könnte mich vielleicht doch auf dem richtigen Weg befinden, sich verflüchtigt.
Gut, es ist also wieder mal so weit – Improvisieren ist angesagt.
Ich muss mir später unbedingt ansehen, was da schiefgelaufen ist, jetzt aber muss ich die Dinge so nehmen, wie sie eben sind.

Kurz darauf sehe ich tatsächlich zum zweiten Mal an diesem Tag den Menhir vor mir.
Es ist Punkt 13 Uhr.
Soll ich etwa jetzt schon zum Bahnhof zurückkehren und nach Hause fahren?
Ich denke diesen Gedanken nicht einmal zu Ende, da habe ich ihn schon verworfen.
Aber was kommt sonst in Frage?
Im Vertrauen darauf, dass sich die Antwort darauf schon irgendwie finden wird, laufe ich wieder nach Blieskastel hinunter, aber nicht bis ganz in die Innenstadt, sondern nur bis zum Beginn des zweiten Anstiegs, dann biege ich in eine andere Richtung ab und statte dem Garten eines Franziskanerklosters einen kurzen Besuch ab.

Am Rande des Klostergartens entdecke ich eine große Wandertafel und eines steht schon mit dem allerersten Blick fest: Wenn es in Blieskastel an irgendetwas keinen Mangel gibt, dann an Wanderwegen, und zwar Rundwegen wie Fernwegen.
Mindestens eine Viertelstunde lang schlage ich vor der Karte Wurzeln und verinnerliche die Routen und Symbole. Schließlich fasse ich den Entschluss, dem Saar-Rundweg zu folgen, denn der führt von hier in Richtung Kirkel und damit zu einer Stadt mit Bahnhof.

Zunächst ist der Saarland-Rundweg identisch mit dem Mariannenweg, was nichts anderes bedeutet, als dass ich zum dritten Mal an diesem Tag am Gollenstein vorüberstapfe.
An der Landstraße, die ich einige Stunden zuvor überquert habe, trennen sich die beiden Wege dann und von hier an tauche ich erst einmal in einen tiefen See dunkler Ungewissheiten ein. Ich kann nur hoffen, dass der Saarland-Rundweg so gut ausgeschildert ist, dass er mich irgendwie nach Kirkel führt.

Ein paar Minuten trabe ich unmittelbar an der Landstraße entlang. Selbst im gleißenden Sonnenlicht wirkt sie einfach nur zementgrau. Unmittelbar hinter einem Bahnübergang kann ich aber zum Glück schon wieder in den Wald abbiegen.
Dann nur ein paar Schritte – und ich bin zurück in den Gefilden des stillen, fließenden Blaus und des schweigenden Waldes.
Einen Wimpernschlag lang streicht eine dunkle Schattenhand über die Bäume, im nächsten Moment aber wieder goldgelbes Licht und nirgends auch nur eine winzige Eintrübung.
Das Licht, die Wärme und das stete Gehen entfalten ihre Wirkung. Ich spüre, wie die letzten hartnäckigen Überreste rastloser Gedanken wegdriften von mir, sich verabschieden auf Nimmerwiedersehn.
Man hört natürlich nicht auf, der zu sein, der man ist, nur weil man ein paar Kilometer weit durch einen Wald läuft, aber das ist auch überhaupt nicht das Ziel.

Durch die unvorhergesehene Änderung im Ablauf fällt die Tour erheblich kürzer aus als geplant, aber dafür gehört das, was ich da durchwandere, ohne Einschränkung in die Kategorie „Zauberwald“.
Als würde er der unsichtbaren Bewegung des Windes folgen, treibt der Pfad dahin, an fächerartig entrollten Hängen entlang, durch das Dunkelgrün eng beieinanderstehender Nadelbäume, bergauf, bergab.

Einmal verlasse ich den Pfad für ein paar Minuten.
Laufe durch eine Szenerie, die so eine Art Mischung aus vernachlässigtem Landschaftsgarten und überwucherter Auenland-Filmkulisse darstellt.
Grünes, leuchtendes Moos.
Flechtenumrankte Baumstümpfe.
Winzige, grasbewachsene Geländebuckel, die aussehen wie eingesunkene Hügel.

Kaum zurück auf dem Waldweg, stoße ich auf einen Wegweiser.
Wolfsfelsen steht darauf.
Den nehme ich natürlich noch mit, auch wenn es einen kleinen Umweg bedeutet.
Über einen flaschenhalsschmalen Pfad trabe ich ein paar hundert Meter weit durch einen Wald, in dem es plötzlich so dunkel ist, als hätte jemand die Vorhänge zugezogen, aber es ist kein düsteres Dunkel, sondern ein angenehmes Frühlingsschattendunkel.
Es gibt heute einfach keine Beeinträchtigung, keinen Riss im Gewebe.
Der Wolfsfelsen entpuppt sich als ein durchaus sehenswertes Gebilde aus massigen, zerklüfteten Felstürmen.

Lange halte ich mich nicht auf. Nach ein paar Minuten schon mache ich mich auf den Weg zurück zu dem Waldpfad, von dem ich zum Wolfsfelsen abgebogen bin.
Allzu weit kann es jetzt nicht mehr sein.
An einer Weggabelung entdecke ich einen Holzwegweiser mit der Aufschrift „Kirkel“, allerdings ohne Kilometerangabe. Der Pfad mit dem Symbol des Saarland-Rundweges zweigt in eine andere Richtung ab.
Letztlich dürfte es ziemlich egal sein, welchen der beiden Wege ich einschlage, aber das „Kirkel“-Schild erscheint mir doch als die risikoärmere Variante, also wähle ich diese.

Wieder ein anderer Pfad, aber das Zusammenwirken von Licht, Wärme, Wald und Gehen bleibt auch jetzt nahe an Perfektion. Immer noch könnte ich schöne Eindrücke übereinanderstapeln wie Brennholz.
Noch rund zwei Kilometer, auf denen ich ganz ordentlich Höhenmeter sammle, dann ist der Wald zu Ende und ich befinde mich am Rande einer Landstraße, nicht mehr als 100 Meter von Kirkel entfernt.

Der letzte Anstieg des Tages führt mich hinauf zur Burg.
Ich schwebe durch Straßen, in denen der Frühling die unumschränkte Herrschaft übernommen hat. Am Himmel sprüht und funkelt es, als würde jemand Funken aus einem riesigen Feuerstein schlagen.
Von meinem letzten Besuch weiß ich noch, dass 120 Stufen auf den als Aussichtsturm genutzten Bergfried hinaufführen. Ich habe diesmal aber gar nicht vor, auf den Turm zu steigen. Die Burg soll lediglich so etwas wie einen veredelnden Abschluss der Wanderung darstellen.

Ohne jede Eile trotte ich irgendwann später dann zum Bahnhof hinunter.

 

 

Noch eine Tour an der Schwelle vom Winter zum Frühling:

Tour 30 BHF Kirn – Wildgrafenweg Hochstetten-Dhaun

Ich befinde mich im Zentrum einer Lichtexplosion.

Flutendes, flimmerndes, flirrendes Licht.

Kaskaden aus Licht.

Eine Brandung aus Licht.

Ich verharre, ein paar Augenblicke lang.

Sehe zu, wie die Schatten…    weiterlesen      Bildergalerie

4 Comments

  • Roxanne

    Diesmal habe ich extra ganz schnell gelesen, aber ich werde in den nächsten Tagen auch noch intensiver lesen, denn man sollte sich Zeit nehmen für deine Texte.
    Mein erster Eindruck: Eine schöne Wanderung, wie üblich mit Hindernissen. Es scheint, als hättest du den lange vermissten Frühling genossen.

    Roxanne

    • gorm

      Ich höre es natürlich gerne, wenn meine Blogbeiträge langsam und intensiv gelesen werden.:-)
      Die Wanderung war tatsächlich schön, was nicht allein am Frühling lag, sondern durchaus auch an dem Wanderpfad bzw. den Wanderpfaden, die viel ansprechenden Wald zu bieten hatten.
      Vielen Dank für deinen Kommentar.

      Grüße
      Torsten

  • Mata

    Wieder ein wunderbarer Bericht. Ich bin jetzt auf deine ersten Mehrtageswanderungen in diesem Jahr gespannt. Und wohin sie dich und deine Leser führen werden. Ob wohl die ursprünglich geplante Wanderung schöner oder schlechter gewesen wäre?

    Grüße,
    Mata

    • gorm

      Vielen Dank, freut mich sehr, dass dir der Text gefällt.:-)
      Mit den Marienwegetappen geht es demnächst los und zwei Wochen später folgen dann schon zwei Etappen der geplanten Neckartour von Sandhausen über Heidelberg und viele andere Orte bis nach Bad Wimpfen. Andere Mehrtagestouren habe ich zwar im Kopf, aber was ich davon umsetze, hängt davon ab, wie ich das alles zeitlich unterkriege.

      Beste Grüße
      Torsten

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