TOUR 53/2. TAG: VON KLEINWALLSTADT NACH MILTENBERG
Der Tag beginnt mit dem steten Geräusch eines feinen, dünnen Regens. Der Wind treibt ihn durch die Straßen, trägt ihn weit übers Land.
Nach und nach weicht das samtene Schwarz der Nacht einer brüchigen, trüben Dämmerung.
Auf den Straßen graue Pfützen, in denen sich ein graues Licht spiegelt.
Über dem Fluss steigen weiße Nebelgespinste auf.
Dann endet der Regen.
Während ich vom Bahnhof in Kleinwallstadt zum Main trotte, wird es mit jedem Atemholen heller. Erst über den Hügeln, dann an den Ufern des Flusses, dann über dem Wasser. Immer größer wird die Sonne und immer mehr Teile der Landschaft erobert sie. Ich kann buchstäblich dabei zusehen, wie das Grau sich wandelt, wie es zersetzt wird, bis schließlich nichts mehr übrig ist davon und bis von Horizont zu Horizont alles in ein klares, warmes Licht getaucht ist.
Die Luft ist frisch wie in einem Schweizer Bergkurort.
Ein unhörbarer Wind bewegt ganz leicht die dünnsten Zweige der Bäume.
Ich will erst einmal nichts als ruhig vor mich hinstiefeln und mich dabei ein wenig umschauen.
Aber schon diese schlichten Dinge reichen aus, um ein dezentes Wohlgefühl hervorzurufen.
Dazu trägt selbstredend auch bei, dass ich im Gegensatz zu gestern nicht mit schwerem Gepäck unterwegs bin, sondern nur die unbedingt notwendigen Dinge in den Rucksack gepackt habe, in erster Linie Minerwalwasser.
Ich kehre zunächst nicht auf den Marienweg zurück, sondern laufe die paar Kilometer von Kleinwallstadt zum Nachbarort Elsenfeld und von da über die Mainbrücke hinüber nach Obernburg.
Das heißt, mitten auf der Brücke bleibe ich erst einmal stehen.
Lasse meinen Blick ganz langsam – fast, als treibe er mit der Strömung dahin – übers Wasser gleiten.
Ganz still wirkt der Fluss. Wolken und Bäume spiegeln sich darin und ein blauer Schimmer liegt darüber, je weiter von den Ufern weg, desto heller.
Wie in so manch anderer unterfränkischen Stadt gibt es auch in Obernburg mehr Türme als Verschwörungstheorien über den Tod von Lady Di.
Ich bekomme allerdings nur den Almosenturm zu Gesicht, wie so viele andere Türme allüberall Teil einer ehemaligen Stadtbefestigung.
Später hocke ich auf einer Bank in einem kleinen, aber ganz nett anzuschauenden Rosengarten und lasse Farben auf mich wirken, und noch ein wenig später lasse ich mich eine Viertelstunde lang durch schöne, aber menschenleere Gassen treiben, ehe ich mich dann endlich aufmache in Richtung Marienweg. Von dem bin ich im Augenblick nämlich ein ganzes Stück entfernt.
Ich rufe mir kurz ins Gedächtnis, wie mein Plan für die nächsten Kilometer aussieht: Irgendwo mitten im Wald oder vielleicht auch schön hinappliziert zwischen Weinbergen oder vielleicht auch einfach mitten im Nirgendwo liegt Kloster Himmelthal, und ziemlich genau bei diesem Kloster gedenke ich, wieder auf den Marienweg zu stoßen.
Um dorthin zu gelangen, werde ich ca. zwei oder drei Stunden dem Fränkischen Rotweinweg folgen, einem weiteren Fernwanderweg, der bei dem erwähnten Kloster den Marienweg kreuzt, dann aber eine andere Richtung einschlägt.
Langsam ist mir nach Wald zumute, aber bis es so weit ist, muss ich mich noch eine Weile gedulden.
Ich laufe wieder über die Mainbrücke hinüber, am Bahnhof vorüber, dann durch eine Unterführung, die um nichts weniger schäbig aussieht als zahllose andere Unterführungen auch, und danach befinde ich mich auf einem Radweg, der an Bushaltestellen, Discountern, Bahngleisen und Kleingärten entlang wieder nach Elsenfeld führt, wo ich dann durch Gassen, so leer, dass meine Schritte darin widerhallen wie Echos zwischen Bergwänden, den Stadtrand erreiche.
Hinter den letzten Häusern wieder ein Radweg, grau in die Ebene hineingemeißelt.
Zu beiden Seiten Wiesen, ein paar Sträucher und Bäume, etwas weiter weg einige Hügelwellen.
Es hat sich wieder etwas eingetrübt.
Fürs Erste nur vorübergehend, aber irgendwie liegt in der Luft eine Ahnung von Regen, vielleicht auch von Sturm und Gewitter.
Immerhin kann ich endlich in den Wald abbiegen.
Es riecht nach nassem Holz und nach feuchter Erde. Das Grün wirkt etwas stumpf, aber es gefällt mir trotzdem. Es bleibt ohnehin nicht so, denn die Sonne gewinnt wieder die Oberhand.
Auf den Wald folgen die Weinberge.
Ich wandere auf einem zunächst fast geraden Weg dahin, der dann aber ganz langsam gleichsam in Bewegung gerät, und plötzlich folgt Kurve auf Kurve, Schwingung auf Schwingung.
Mit einem Mal sind sämtliche Geräusche weg, bis auf ein paar, die jedoch gar nicht so richtig auffallen, weil sie als Teil der Stille wahrgenommen und akzeptiert werden.
Ich lasse mich jetzt einfach mit der Strömung des Pfades dahintreiben.
Wie schon so oft.
Und dennoch ist es immer wieder neu und anders.
These: Am besten, man vergisst einfach all seine bisherigen Erfahrungen, Einschätzungen, Wertungen, legt alles zur Seite, was allzu sehr nach Festlegung aussieht, und lässt sich auf den Weg und darauf, was er mit sich bringt, ein, als wäre er der allererste, den man in seinem Leben zurücklegt.
Die Atmosphäre ändert sich schon wieder.
Der Wind nimmt stetig zu, die Wolken werden immer schwerer und immer dunkler. Es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis es zu regnen beginnen wird.
Ich gehe rascher und rascher.
Irgendwo hier in der Nähe muss es eine Abkürzung geben, wenn mich nicht alles täuscht.
Keine Ahnung, wie viel ich dadurch einsparen würde, aber zwei oder drei Kilometer bestimmt, und das könnte heute der Unterschied sein zwischen gerade noch einmal davonkommen und in ein unbeherrschbares Chaos hineingeraten.
Allerdings gefällt mir der Gedanke, eine Abkürzung zu nehmen, überhaupt nicht. Ich komme mir vor, als würde ich darüber nachdenken, beim Kartenspielen zu betrügen.
Vielleicht finde ich die Abkürzung ja auch gar nicht, dann würde mir die Entscheidung abgenommen.
Die vorhin noch so friedlich anmutende Stille ist einer bedrohlichen Ruhe gewichen. Ich nehme keine wirklich bleibenden Eindrücke mehr auf, mein Blick verharrt nirgends, sondern springt von einer Stelle zur nächsten, irrt die Horizontlinie entlang, scannt den Himmel.
Die Wolken sehen mittlerweile aus wie eine Armada von Raumschiffen bei einer Alieninvasion.
Und jetzt ist es auch mit der trügerischen Ruhe vorbei.
Der Wind faucht durch die Weinberge und biegt die Baumwipfel.
Hinter einer Biegung sichte ich in hundertfünfzig oder zweihundert Metern Entfernung eine Ansammlung von Wegweisern.
Dort angekommen sind mir die Wegweiser aber erst einmal ziemlich egal, denn viel wichtiger ist für den Moment, dass ich mich genau an der Stelle befinde, an der ich die Abkürzung nehmen könnte.
Während der Fränkische Rotweinwanderweg geradeaus weiterführt, bräuchte ich lediglich ein paar Meter über eine Wiese zu laufen und schon hätte ich eine Schleife von ungefähr vier Kilometern eingespart, wenn man den Angaben auf den Wegweisern trauen darf.
Komisch, in der letzten Viertelstunde konnte ich gar nicht schnell genug vorwärtskommen und jetzt stehe ich hier und rühre mich zwei Minuten lang nicht vom Fleck.
Dann wird mir klar, dass ich im Grunde nie wirklich die Absicht hatte, die Abkürzung zu nehmen.
Ich setze meinen Weg einfach fort, denke nicht weiter darüber nach.
Schon nach kurzer Zeit bin ich wieder im Wald.
Über mir ein blaugrauer Aschehimmel.
Die Luft wird immer schwerer und drückender. Ab und zu zuckt ein Lichtblitz irgendwo im Gezweig auf. Dann legt sich endgültig ein grauer Schleier über alles und der Regen kommt. Erst leichte Tropfen, als würden gerade mal ein paar Vögel irgendwo über mir ihr Gefieder ausschütteln, binnen weniger Minuten jedoch stürzt ein Wasserfall herab.
Aber das Rauschen des Regens ist plötzlich nicht mehr das einzige Geräusch.
Wie durch einen dünnen Vorhang wehen Geschrei und Gelächter zu mir herüber.
Ich trete aus dem Wald heraus.
Vor mir Kloster Himmelthal. Ein Torbogen, das Türmchen einer Kirche, ein paar Mauern, das sind die Dinge, die mein Blick auf die Schnelle erfasst. Optisch geht das für mich durchaus noch als Kloster durch, auch wenn es seit langer Zeit als Berufsbildungsstätte und als Internatsschule genutzt wird.
Der Innenhof des Klosters ist voller Menschen.
Einige stehen um einen Weinstand herum und trinken.
Andere laufen ohne erkennbaren Grund kreuz und quer durch den strömenden Regen.
Und dann gibt es da noch ein paar, die Signalwesten tragen.
Ich komme gar nicht erst dazu, darüber nachzudenken, was hier eigentlich vor sich geht, da passiert zweierlei: Als erstes schießen plötzlich wie aus dem Nichts drei oder vier Radfahrer um eine Ecke, rasen – von Gejohle und Geschrei begleitet – über das Kopfsteinpflaster des Innenhofs und verschwinden um eine andere Ecke.
Das Zweite, was passiert, ist ein erheblich kontemplativeres Ereignis. Im Grunde ist es nicht mehr als ein zerplatzender Regentropfen auf der Spitze meines rechten Wanderschuhs. Aber dieser Gegensatz zwischen laut und still bringt am besten zum Ausdruck, wie skurril mir die gesamte Szenerie erscheint, in die ich hier geraten bin.
Einer ungefähr zwanzigköpfigen Wandergruppe, die kurz nach mir das Klosterareal betritt, scheint es ähnlich zu gehen. Wobei sich allerdings rasch der Eindruck ergibt, dass sie nicht so sehr erstaunt als vielmehr verärgert sind. Ich frage mich nur, worüber eigentlich. Hier passiert nichts Schlimmes und für den Regen kann niemand was.
Ich halte indessen Ausschau nach dem Marienwegsymbol, das muss ja hier irgendwo sein.
Ich entdecke es ziemlich rasch, warte aber noch eine Weile ab, weil ständig Radfahrer aus der Richtung heranpreschen, die ich einschlagen muss.
Schließlich stapfe ich doch weiter, halte mich aber vorsichtshalber ganz am Rande des Weges.
Unmittelbar vor mir befindet sich plötzlich jene Wandergruppe, die augenscheinlich immer noch wenig angetan ist von so ziemlich allem hier. Ich muss ein bisschen Slalom laufen, lasse sie aber schnell hinter mir und konzentriere mich wieder auf den Weg und das Gehen.
Überall um mich herum in Zementgrau verschwimmendes Grün.
Ich wandere auf einem nassen Asphaltweg oberhalb des Klosters vorüber und spähe in den Regen hinaus, um vielleicht ein Anzeichen dafür zu entdecken, dass das Elend bald ein Ende hat.
Die Minuten verrinnen langsamer unter dem eintönigen Geräusch des Regens, der Ausschnitt der Umgebung, den ich noch wahrnehme, wird kleiner und kleiner, ich wandere durch eine eng begrenzte, verschwommene, graue Welt, und irgendwann bildet sich so etwas wie eine ganz eigene Stille heraus, eine innere Stille, eine Gedankenstille, die umso intensiver ist, je lauter der Lärm der Außenwelt wird.
Der Asphaltweg mündet kurz darauf in einen schmalen Waldpfad, der sehr schön über Wurzeladern, hölzerne Stufen und kleine Anhöhen hinwegfließt. Leider hat der starke Regen den Pfad an manchen Stellen in eine rutschige Schlammpiste verwandelt, aber irgendwann merke ich, dass der Regen nachlässt. Von den Blättern und Ästen tropft es noch eine Weile herab, aber dann ist ganz plötzlich das Licht zurück im Wald. Man kann gar nicht so schnell schauen, wie es das schäbige Grau verdrängt.
Über dem Blättergewölbe strömen ein paar federleichte Sommerwolken dahin. Die schweren, dunklen Baumschatten geraten in Bewegung, sie lichten sich. Dann bewegen sie sich rascher, ein unhörbarer Wind scheint sie auseinanderzutreiben, sie flackern hin und her wie samtschwarze Flammenzungen.
Auf einem komfortablen, breiten Weg wandere ich durch ein schönes Stück Wald, danach dann an freundlichen Blumenwiesen vorüber, in denen nicht mal mehr ein allerletzter Rest von Nässe übriggeblieben ist.
Es ist sehr warm und die Sonne dreht immer mehr auf.
Zwischen zwei der Blumenwiesen biege ich im rechten Winkel ab und trabe an einer Koppel vorüber auf ein Dorf zu. Zum ersten Mal an diesem Tag bin ich unaufmerksam und biege falsch ab. Wenn ich nicht irgendwann das Marienwegsymbol vermissen würde, dann würde ich es vielleicht gar nicht merken, denn für mich sieht das, worauf ich mich vorwärtsbewege, wie ein ganz ordentlicher Wanderweg aus.
Ich kehre um und wandere gemächlich eine kleine Anhöhe hinauf.
Das Dorf habe ich rasch durchschritten.
Ein paar hundert Meter hinter den letzten Häusern des Ortes stoße ich auf eine schön ins Gelände hineingepflanzte Bank, auf der ich mich zwanzig Minuten – vielleicht auch etwas länger – niederlasse und in aller Ruhe die vor mir ausgebreitete Landschaft betrachte, als hätte ich ein Gemälde vor mir.
Irgendwo zwischen dem gerade durchwanderten und dem vor mir liegenden Dorf beginnt dann ein Wiesenpfad, der überhaupt kein Ende nehmen will.
In alle Richtungen kann man weit in die Ferne sehen. Es scheint beinahe, als würde der Horizont immer weiter wegrücken, so klar ist die Sicht. Am Himmel findet sich nicht die allerkleinste Eintrübung.
Und es ist still.
Still wie im Zentrum eines Gedankens, den man ganz für sich denkt und der niemals zu einem Wort werden wird.
Damit etwas bleibt, damit es zu einer Erinnerung wird, die auch Monate oder Jahre später noch gegenwärtig ist, ist nicht immer ein die Welt oder zumindest das eigene Dasein aus den Angeln hebendes Ereignis notwendig. Oft genügen wesentlich kleinere Dinge.
Wie auch immer, dieses Bild der bis an den äußersten Rand des Blickfeldes heranreichenden, unterschiedlichen Schattierungen satten Grüns, die sich an einem Punkt, den das Auge gerade noch erreichen kann, auflösen in einen Wirbel sprühenden Tiefseeblaus, das ist einer von mehreren Momenten heute, die sich mir einprägen, als hätte ich auf meinem Schreibtisch ein Foto davon stehen, das ich jeden Tag hundert Mal betrachte.
Auf einer nicht gerade breiten Straße trabe ich dann nach Schmachtenberg hinunter.
Viel kriege ich von dem Ort nicht mit.
Auf schmalen Bürgersteigen laufe ich eine lange Hauptstraße entlang, vorbei an einer Pension, einer Bushaltestelle und einer Kirche. Ziemlich genau in der Mitte des Ortes biege ich, dem Wegweiser nach Röllbach folgend, ab, und ehe ich mich versehe, befinde ich mich schon wieder auf einem Wiesenpfad, der dem von vorhin ähnelt wie ein Ei dem anderen.
In Röllbach steht die Maria-Schnee-Kapelle, Wallfahrtsstätte Nummer 13 des Marienweges, und wenngleich ich ja nicht als Pilger unterwegs bin, sind diese Wallfahrtsstätten doch Fixpunkte, an denen ich mich bei der Festlegung der Etappen orientiere.
Aus der Perspektive eines Wanderers, der sich Röllbach über den erwähnten Wiesenpfad nähert, sieht das Dorf aus wie versehentlich hier abgelegt.
Die Kapelle liegt unmittelbar am Rande der Hauptstraße. Sie wurde Anfang des 17. Jahrhunderts errichtet, im Dreißigjährigen Krieg allerdings völlig zerstört und Jahrzehnte später dann wieder neu aufgebaut.
Ich lese etwas von Schneewunder und Pestprozessionen, was den denkbar größten Kontrast darstellt zu einem Sonnentag, an dem es nun wirklich zu keinem Zeitpunkt und an keinem Ort irgendetwas gibt, das mit Pestausdünstungen vergleichbar wäre.
Es ist kurz nach 18 Uhr.
Mehr als 30 Kilometer habe ich inzwischen hinter mich gebracht und noch liegen ja 13 oder 14 vor mir, vorausgesetzt, ich mache keine unnötigen Umwege.
Mein nächstes Ziel ist Kloster Engelberg, auch eine Wallfahrtsstätte, Nummer 14.
Als ich auf einen Wegweiser mit dem Symbol irgendeines lokalen Wanderweges stoße, wird mir bewusst, wie nah hier im Grunde alles beisammenliegt.
„Freudenberg acht Kilometer“ steht auf dem Wegweiser.
Auf dem Marienweg jedoch habe ich bis Freudenberg von hier aus noch 40 Kilometer zu gehen, wenn nicht mehr.
Ich schaue mir das später auf einer Karte mal etwas genauer an.
Der Marienweg beschreibt einen riesigen Bogen, der mich erst einmal in eine ganz andere Richtung abdriften lassen wird, nämlich hinunter zum Odenwald – Amorbach, Schneeberg –, und der mich dann zum Main zurückbringen und irgendwann eben auch nach Freudenberg führen wird.
Es gibt sehr viele solcher Schleifen auf dem Marienweg und irgendwie finde ich die Vorstellung skurril, 50 Kilometer zu wandern, nur um dann fast wieder am selben Punkt zu sein wie zuvor.
In den Straßen von Röllbach muss ein Verschwindezauber angewandt worden sein. Ich begegne keiner Menschenseele.
Erst als ich schon außerhalb des Dorfes bin, sehe ich eine Spaziergängerin mit Hund, aber auch nur aus der Ferne.
Mit dunklen Flügeln sinkt der Abend herab. In die Stille über den Feldern webt er einzelne, ferne Geräusche.
Eine blaue Wolkenwoge rollt über den weiten Himmel, bricht sich irgendwo am Horizont.
Ich komme mir vor, als würde ich unter einem über die Ufer getretenen See dahinwandern.
Es ist ein schönes, entspanntes, fast schon erhabenes Gehen, und für den Augenblick bedarf es keiner komplexen Gedankenkonstruktionen, es genügt schlichtes, unkompliziertes Wahrnehmen.
Meine Schritte sind ganz gleichmäßig und eine innere Balance stellt sich ein, die man nicht erzwingen kann.
Die Sonne, die angenehme Wärme, die stete Bewegung, Eindrücke, von denen einer schöner ist als der andere, dürften dafür verantwortlich sein. Und natürlich noch ein paar andere Ingredienzen.
Der asphaltierte Feldweg, auf dem ich die drei Kilometer von Röllbach bis zum nächsten Dorf zurücklege, ist tischeben. Ich kann meinen Blick weit vorauseilen lassen.
Und obwohl ohnehin nirgends die kleinste Abzweigung existiert, ist das Marienwegsymbol an allem angebracht, was sich am Wegrand irgendwie dafür eignet, sogar an einer altersschwachen, zerfallenden Scheune.
Von Zeit zu Zeit driftet der Pfad träge nach links oder rechts, meistens aber führt er einfach nur geradeaus.
Irgendwann bringt mich ein kurzer, steiler Anstieg zurück in den Wald.
Die Sonne leuchtet goldgelb in den Baumkronen.
Um mich herum hellgrüner Glanz, irgendwo in der Tiefe des Forsts kleine Lichtflammen.
Ein Kosmos von Farben und Düften umgibt mich. Ich habe das Gefühl, genau zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein.
Tageskilometer 40 ist erreicht.
Ich wandere an Kloster Engelberg vorüber, das sicher einen Besuch wert wäre, aber die Sonne steht jetzt doch schon ziemlich tief und das Licht zieht sich allmählich aus dem Wald zurück.
Es ist wie das letzte, leise Echo des entschwindenden Tages.
Das Grün wird blasser und blasser, sein Glanz wird erstickt von stumpfen, farblosen Schatten.
So ganz allmählich hätte ich dann doch nichts dagegen, aus dem Wald herauszukommen.
Am Wegrand ein Bildstock aus dem Jahr 1714, kurz darauf einer von 1741.
Tut mir leid, aber mein Verstand ist nicht mehr bereit, in Maßstäben zu denken, die Jahrhunderte umfassen, sondern er ist jetzt auf überschaubarere Zeiträume eingestellt.
Zum Abschluss stolpere ich über Steinstufen, die unregelmäßiger angeordnet sind als Risse in Eisflächen während des Tauwetters, einen Kreuzweg hinab.
Jedenfalls sieht es für mich aus wie ein Kreuzweg.
Als ich endlich unten bin, folge ich einem Schotterpfad nach links, an schon dämmergrauen Bäumen vorüber.
Laufe ein kurzes Stück an einer Landstraße entlang, dann über eine Brücke hinüber.
Und als ich wenig später durch die Straßen Miltenbergs zu meinem Hotel wandere, klingt die Musik dieser Wanderung noch in mir nach, vernehmlich und klar.
Noch eine Marienwegetappe:
Tour 34/1. Tag Von Würzburg nach Retzbach
Es ist anders diesmal.
Vom ersten Augenblick an ist es anders.
Vor mir liegen vier Tage und insgesamt etwa 120
Kilometer.
Das verhält sich zu den Tagestouren, die ich bisher
unternommen habe, wie…weiterlesen Bildergalerie
5 Comments
Jana
Schmunzeln, lachen, staunen, sinnieren, genießen: So lese ich deine Blogeinträge. Auch dieser Text ist wieder rundum gelungen! Bereits die einleitenden Worte ließen mich sofort in ein entspanntes Lesen gleiten. Formulierungen wie: „Mit dunklen Flügeln sinkt der Abend herab“ sind für mich sprachlicher Hochgenuss. Und mein LIEBLINGSWORT diesmal: Verschwindezauber.
Das war eine schöne, abwechslungsreiche Tour, lieber Torsten, oder? Selbst das Wetter wechselte von Regen zu Sonnenschein.
Liebe Grüße aus dem Neckartal
Jana
gorm
Vielen Dank, liebe Jana.:-)
Im Grunde freue ich mich immer schon, wenn ich weiß, dass ich eine richtig lange Tour vor mir habe, bei der ich viel Abwechslung erwarten kann. Das ist für mich einer der Gründe, Touren von 40 Km und mehr durchzuführen.
Diese Etappe von Kleinwallstadt nach Miltenberg hielt alles, was ich mir davon versprochen hatte und was auch schon viele Marienwegetappen vorher mir geboten hatten. Schade, dass ich diesmal nur zwei Tage zur Verfügung hatte, ich hätte sehr gerne noch zwei Tage mehr gemacht.
Jedenfalls werden auch die anstehenden Etappen des Marienweges sicher abwechslungsreich und spannend, denn es geht ja noch in die Haßberge und die Rhön.
Danke noch mal für deinen Kommentar, liebe Jana, und liebe Grüße
Torsten
Fuchs
Sehr detailliert beschrieben, so, als wäre man selbst dabei gewesen. Gut, dass der Regen nur eine vorübergehende Episode war, aber das ist ein Beispiel dafür, was alles auf so einer langen Wanderung passieren kann. Das Zusammenbasteln verschiedener Wanderwege ist natürlich auch nicht schlecht.
M. Fuchs
Gonzo
Sehr gut und sehr dicht geschrieben, weit jenseits dessen, was man bei einem Wanderbericht erwartet.
Rosaria
Ein ganz besonderes und außergewöhnliches Blog, das merkt man bei fast jedem Satz. Vielen Dank für dieses Leseerlebnis.
Mit besten Grüßen Ruth L.