TOUR 112 – VON NOHEN NACH IDAR-OBERSTEIN
Woran ich mich erinnern werde nach dieser Wanderung, für eine Weile zumindest noch: an den Anfang auf dem Nohener Bahnsteig, an die Stimmen, die vereinzelt irgendwo zwischen den Häusern hervor zu hören sind, ohne dass man sie genau orten kann, an die von sommerlichen Flatterschatten eingehüllten Waldpfade, die manchmal jedoch zu unbeweglichen, wie mit der Erde verwachsenen Schattenkorridoren werden, an die ausgetrockneten, bereits abgemähten Felder, die schon gewaltig nach Spätsommer aussehen, an viele kleine Dinge am Wegrand.
Vor allem aber werde ich mich an die Wege entlang der Nahe und an unterschiedliche Flussbilder erinnern, insgesamt ein gutes Dutzend, eines schöner als das andere.
Ich bin mittlerweile zum dritten Mal in Nohen.
Der Ort liegt am Rande des sogenannten Westrichs, einer Region mit vielen Hochflächen und kleinen Hügeln, und ist auch nicht allzu weit vom Hunsrück entfernt.
Die Nahe ist in Nohen noch recht jung, jedenfalls ist man hier noch sehr viel näher an ihrer Quelle in Selbach als an ihrer Mündung in den Rhein bei Bingen.
Es ist bereits Mittag.
Trotzdem fühlt es sich so an, als läge noch der ganze Tag vor mir wie die weite, horizontlose Fläche eines großen Sees.
Es ist sehr warm, an der Schwelle zu hochsommerlich heiß. In der prallen Sonne schwitzt man, selbst wenn man gar nichts tut. Ich bin froh um jedes Wölkchen, das sich am Himmel zeigt und die Sonneneinstrahlung wenigstens ein bisschen abmildert.
Die Parallele zu meinen ersten beiden Wanderungen, die in Nohen ihren Ausgangspunkt nahmen, endet schon nach 100 Metern. Die ersten beiden Male bin ich an der kleinen Kirche vorüber hinunter zur Nahe gelaufen, diesmal biege ich links ab.
„Idar-Oberstein 18,8 Kilometer“ steht auf einem Wegweiser, aber am Ende werde ich aufgrund einer Umleitung und von unfreiwilligen Umwegen rund 5 Kilometer mehr gewandert sein.
Der Weg führt bergauf durch leere Dorfstraßen.
Ich gehe zügig, um den Ort möglichst rasch hinter mir zu lassen. Nicht etwa, weil es hier so furchtbar wäre, sondern weil mir der Sinn nach Wandern im Wald steht. Oder meinetwegen auch über Hügel hinweg oder an Äckern vorüber.
Es dauert auch nicht lange und ich finde mich auf einem Pfad wieder, den man mit viel gutem Willen als Wiesenpfad bezeichnen kann. Der Boden ist so trocken, dass er eher nach ausgetrocknetem Flussbett aussieht. Kein Wunder nach vielen Wochen beinahe ohne Regen.
Meine unbewusste Erwartung ist jetzt, dass der Wiesenpfad in eine fürs Auge angenehme Weite hineinführt, aber gegen den Wald, der mich stattdessen erwartet, habe ich auch nichts einzuwenden. Im Gegenteil, der kühle Schatten zwischen den Bäumen kommt mir gerade recht.
Und es wird plötzlich ganz still.
So still, dass jedes noch so kleine Geräusch von irgendwoher so deutlich zu vernehmen ist wie ein Rattern um Mitternacht auf einer Dorfstraße. Irgendwann setzt das Hämmern eines Spechts ein, aber minutenlang ist dies das einzige Geräusch um mich herum. Erst gibt es die Stille und danach nur dieses Hämmern, das von der Stille eingeschlossen ist.
Keine Ahnung, ob ich unter dem Bann dieser eigenartig schönen Stille etwas verpasst oder übersehen habe, jedenfalls befinde ich mich plötzlich auf einer Umleitungsstrecke und nicht mehr auf dem eigentlichen Nahesteig.
Es ist immer noch stiller als still. Die Wege sind meistens schmal und ziemlich flach, nur von Zeit zu Zeit rollen sie behäbig über kleine Bodenwellen hinweg. Es gibt wenig, das den Blick wegführt vom Pfad, er arrangiert sich mit der Enge. Einmal eine beinahe überwucherte Holzbank am Wegrand, irgendwo ein umgestürzter Hochsitz, und oft ziehen sich hunderte Meter weit Brennnesselkolonien den Pfad entlang, mehr ist da nicht, und selbst das gehört irgendwie alles noch zum Weg dazu.
Erst nach ungefähr zwei Kilometern bin ich endlich zurück auf dem Nahesteig.
Der Wald liegt fürs Erste hinter mir und ich laufe über einen wie zwischen den Horizonten aufgehängten Wiesenpfad, auf dem ich meinen Blick in alle Richtungen schweifen lassen kann.
An einem in die Erde gerammten Pfahl ist das Symbol des Nahesteigs und das irgendeines anderen Wanderweges befestigt. Das Gras ist gelb und verdorrt wie in einer Steppe.
Zum Glück gibt es hundert Meter entfernt ein paar grüne Bäume und die Hügel am Rande des Blickfeldes sind von einem Ring lückenlosen Waldes bewachsen, das mildert den steppenartigen Eindruck wenigstens ein bisschen ab.
Wenig später ein Asphaltweg, auf dem ich wie auf einer Windschneise auf den Horizont zulaufe. Aber nicht mehr als ein paar Schritte, dann biege ich auf den nächsten Wiesenpfad ab. Zwei oder drei Pflaumenbäume bringen farbliche Abwechslung, ansonsten besteht die Kulisse aus abgemähten Feldern, die bereits ganz schön spätsommerlich anmuten.
Es sind diese Tage des Übergangs von einem Sommer, der viele Wochen unnachgiebiger, regenloser Hitze gebracht hat, zu einem allmählich ruhigeren, gemäßigteren Spätsommer, fast schon Herbstsommer, der jedoch vermutlich immer noch heißer und trockener sein wird als viele Hochsommer früherer Jahre.
Ich nähere mich Kronweiler.
Zum ersten Mal für heute bin ich direkt am Naheufer.
Die Nahe führt noch überraschend viel Wasser, auch die Ufervegetation sieht erstaunlich grün aus.
Der Fluss ist hier nur wenige Meter breit.
Die Uferlinie mit einem Geschwader aus Steinen, das dichte Gras am Flussrand und vor allem der wie aus einer anderen Zeit hierher versetzte Brückenbogen, unter dem die Nahe hindurchfließt, lassen die Szenerie beinahe wie ein Gemälde erscheinen.
Ich stehe eine Weile einfach nur da und betrachte.
Wieder ist es ganz still.
Das Wasser macht kein Geräusch und von nirgendwoher ertönen Stimmen oder Lachen oder auch nur eine Ahnung davon. Wenn man die unübersehbaren Eingriffe durch Menschen ausblendet, ist es wirklich ein Bild wie aus einem früheren Jahrhundert.
Oder ein Bild wie aus einem Traum von einer Zeit, die es in Wirklichkeit niemals gegeben hat.
In Kronweiler laufe ich minutenlang an der Straße entlang.
Das Dorf ist winzig und hat nicht einmal 400 Einwohner. Aber es besitzt einen Bahnsteig, und ein Bahnsteig ist immer irgendwie tröstlich, wenn man zu Fuß unterwegs ist.
Am Ortsende biege ich in eine Nebenstraße ab und ganz plötzlich wird der Weg richtig steil.
Ich trabe um eine Kurve herum, aber wenn ich damit gerechnet haben sollte, dass der Anstieg danach abflacht, dann kann ich das ganz schnell vergessen.
Es bleibt steil.
Ich marschiere in halbwegs zügigem Tempo den Berg hinauf. Zwei Männer, die sich am Straßenrand unterhalten, beobachten jede meiner Bewegungen und grinsen.
Unmittelbar hinter den letzten Häusern beginnt eine Rampe, und erst als ich die hinter mir habe, gelange ich endlich wieder auf etwas weniger steiles Terrain.
Noch etwas weiter oben wird es dann fast ganz flach.
Ich befinde mich auf einer Art Plateau, inmitten eines aus Stille und Verlassenheit gesponnenen Idylls, dem schon mehr als nur ein Hauch von Spätsommer anhaftet. Um mich herum abgeerntete Felder und eine kleine Armee von Heuballen.
Es ist eine vollkommen ruhige, meditative Landschaft.
Ich wandere wie durch ein in der Bewegung erstarrtes Bild.
Es ist herrlich hier oben.
Ein wenig Wind würde passen, aber das ist dann wohl zu viel verlangt. Es regt sich kein Lüftchen.
Ich bleibe nicht lange auf dem Asphaltweg, aber ein Echo der stillen Bilder ist noch eine ganze Weile irgendwo in meinem Bewusstsein.
Der Punkt ist aber: Die Wanderung bietet ständig etwas Neues, so dass jedes Bild, so eindrücklich es auch sein mag, im Handumdrehen von anderen, neueren, ebenfalls eindrücklichen Bildern abgelöst wird.
Es wird vorübergehend etwas unwegsamer.
Ich stapfe ein paar serpentinenartige Kurven hinauf.
Auf dem Pfad überall Steine, und zwar richtig große Brocken, die einerseits als Stufen dienen können, aber andererseits auch Stolperfallen sind, wenn man nicht aufpasst.
Der Wald ist hell.
Keine Wände aus undurchdringlichen Baumschatten, kein Gothic-Novel-Nebel, absolut nichts Graues oder Düsteres.
Weiter oben stoße ich auf einen breiten, wie ein Steg ins Sonnenlicht hineinführenden Pfad, aber gleich darauf kippt der Weg nach links ab und wird dann so abschüssig, dass ich auf dem lockeren Untergrund mehrmals ins Rutschen gerate. Heute war es auf jeden Fall eine falsche Entscheidung, Laufschuhe und keine Wanderschuhe anzuziehen, das wird mir jetzt klar.
Auf rund 98 Prozent aller Wege, Straßen und Pfade gehe ich in Laufschuhen besser als in Wanderschuhen, aber auf der heutigen Tour habe ich es mit mehreren Passagen zu tun, die zu den zwei Prozent gehören, bei denen das nicht der Fall ist.
Neben dem gerade erwähnten Abstieg ist da später auch noch ein Abschnitt von ungefähr 100 Metern, der so steil ist, dass ich die Hände zu Hilfe nehmen muss, und dann ist da noch eine Schlucht, in der an mehreren Stellen der Pfad beinahe eins ist mit einer halsbrecherisch abfallenden Böschung, so dass es mich nicht allzu sehr gewundert hätte, wenn ich unten ein paar Skelette abgestürzter Wanderer hätte liegen sehen.
Am wohlsten fühle ich mich bei dieser Wanderung auf den flachen Pfaden unmittelbar am Naheufer.
Das Wasser ist ganz ruhig, unbewegt, windverschont.
Natürlich erkennt man auf den ersten Blick, dass die vielen regenlosen Tage dem Fluss zugesetzt haben. Die Ufer haben sich weit ins Flussbett hineingeschoben, so wie es an vielen anderen Flüssen in Deutschland auch der Fall ist. Immerhin ist das Wasser zumindest in der Flussmitte noch tief genug für eine Spiegelwelt aus Bäumen und Wolken. In den Uferschatten herrscht ein Licht wie am frühen Morgen. Es ist ein gedämpftes Licht, das zur Ruhe des Wassers passt.
Auch die Fernblicke häufen sich jetzt.
Da ich mich ja auf einem als „Steig“ titulierten Wanderweg befinde, ist das wenig überraschend.
Es sind schöne Fernblicke, geprägt vom Nahetal und von niedrigen, dicht beieinanderliegenden Hügelkämmen.
Der eindrucksvollste davon erwartet mich hinter Sonnenberg, wo ich mich nach einem Anstieg plötzlich auf einer wie im Nichts schwebenden Anhöhe wiederfinde. Einen Herzschlag lang komme ich mir vor, als sei ich einen Schritt vom Pfad weg in die Luft hineinspaziert und Teil des Himmels oder des Horizonts geworden.
Danach wird das Gesichtsfeld erst einmal wieder erheblich enger.
Ein paar hundert Meter weit durchquere ich die vorhin erwähnte Schlucht, in der es dunkel ist wie im Weinkeller des Apenninenklosters in „Der Name der Rose“, dessen Drehort in der Verfilmung mit Sean Connery ja Kloster Eberbach im Rheingau gewesen ist.
Die Schlucht liegt allerdings ziemlich rasch hinter mir, und wenn ich ehrlich bin, ist mir das auch recht. Mir steht der Sinn jetzt, da es aufs Ende der Wanderung zugeht, einfach mehr nach offenen Landschaften, in denen der Blick nicht nach wenigen Metern bereits an einem Felsen abprallt.
Und ich möchte ans Naheufer zurück.
Das ist auch so ein Punkt, der mir erst nach und nach im Laufe meiner Wanderungen bewusst geworden ist – die relative Langsamkeit des Unterwegsseins zu Fuß hat unter anderem zur Folge, dass man die Gegenden, die man durchmisst, in erster Linie als die Summe vieler kleiner Räume wahrnimmt. Die Schlucht, die ich gerade durchquert habe, ist ein Raum für sich, der Anstieg durch den Wald vorher ist ein Raum für sich, ebenso der Weg an der Nahe entlang und so weiter. Jeder dieser Räume ist sozusagen eine winzige Welt, die zu entdecken uns freisteht, und zwar so detailliert oder so oberflächlich, wie wir wollen.
Wie auch immer, die nächsten dieser Räume bringe ich ziemlich rasch hinter mich.
Einem Anstieg durch eher finsteren Wald folgen ein paar kleinere Auf- und Abstiege sowie der eine oder andere Fernblick und dann bin ich endlich wieder unmittelbar am Naheufer.
Das Wasser ist hier keine 20 Zentimeter tief.
Viel mehr als meine Fußsohlen würden nicht nass werden, wenn ich den Fluss barfuß durchqueren würde.
Ich nähere mich allmählich dem Ziel.
Enzweiler, der nächste Ort, den ich durchwandere, ist bereits ein Stadtteil von Idar-Oberstein.
Hier biegt der Nahesteig irgendwo nach links ab, ich ziehe es jedoch vor, auf dem ruhig und flach neben dem Flussbett verlaufenden Asphaltweg zu bleiben.
Der Weg ist wie geschaffen dafür, Minute um Minute vor sich hin zu wandern. Durch die große Zahl von Bäumen am Wegrand kann ich mich meistens sogar im Schatten bewegen.
Am jenseitigen Naheufer tauchen jetzt immer mehr steile Felsklippen auf, wie sie charakteristisch für das Nahetal um Idar-Oberstein herum sind und wie ich sie von anderen Wanderungen in dieser Gegend bereits kenne. Deshalb bin ich auch nicht allzu sehr überrascht, als ich von weitem die einprägsame blaue Brücke erblicke, die zum Wanderweg „Rund um die Kama“ gehört, der am Rande von Idar-Oberstein beginnt und endet.
Die Nahe besteht hier fast nur noch aus Steinen und Flussbett. Ich kann problemlos bis in die Flussmitte gehen und mir das Geschehen aus dieser Perspektive zu Gemüte führen, was mir ein paar verwunderte Blicke von Wanderern und Spaziergängern einbringt.
Noch rund drei Kilometer.
Gut zwei davon folgen dem erwähnten „Kama“-Wanderweg, Ich laufe über viele schmale, kleine Pfade, oft flankiert von Felsen, mitunter hart am Rande dicht bewachsenener Abhänge entlang, hier und da bietet sich auch ein freier Blick in die Landschaft, und am Ende führt der Weg dann allmählich ins Nahetal hinunter.
Später, irgendwo auf dem Weg vom Naheufer zum Bahnhof von Idar-Oberstein, ist da mit einem Mal ein kurzer Moment, der dem Beginn in Nohen ähnelt – eine völlig leere Straße, Stimmen von irgendwoher und eine Sonne beinahe wie in einem provencalischen Sommer.
So schließt sich der Kreis für heute.
3 Comments
Roxanne
Ganz toll wieder. So lernt man eine Gegend kennen, wo man noch nie war.
Roxanne
Jana
Und wieder war es ein großes Vergnügen für mich, den neuen Blogeintrag zu lesen. Deine Art zu schreiben ist einfach großartig, lieber Torsten! Mich packt dann immer sofort die Wanderlust.
Die Umgestaltung des Blogs finde ich übrigens auch sehr gelungen.
Liebe Grüße
Jana
gorm
Vielen Dank, liebe Jana.:-) Ich wusste diesmal ja ungefähr, was mich erwartet, denn die erste Etappe auf dem Nahesteig habe ich letzten Herbst hinter mich gebracht, wobei ich da allerdings irgendwann meine eigene Route eingeschlagen habe. Durch die ständig wechselnden Landschaftsbilder und Eindrücke hatte ich natürlich auch ideale Voraussetzungen für das Verfassen des Textes. Einen Teil der Strecke kennst du ja auch von unserer Wanderung vor ein paar Jahren bei Idar-Oberstein.:-)
Liebe Grüße
Torsten