Wandertouren

TOUR 90 – VON WIEBELSKIRCHEN NACH ST. WENDEL

Ich glaube nicht, dass jemals der Tag kommen wird, an dem ich genug habe.
Genug vom Gehen, genug vom Unterwegssein, genug davon, einen kleinen Teil dieses winzigen Ausschnitts des Universums zu erkunden, der für mich erreichbar ist.
Wenn er irgendwann aber doch kommen sollte, dieser Tag, dann möchte ich sagen können: Das Unterwegssein ist genau das Richtige gewesen und ich würde nichts anders machen wollen.

Zum zweiten Mal innerhalb weniger Monate bin ich in Wiebelskirchen, dem nach der Kernstadt größten Stadtteil von Neunkirchen.
20 Kilometer südwestlich von hier liegt Saarbrücken, 20 Kilometer südöstlich das bereits zu Rheinland-Pfalz gehörende Zweibrücken.

Neunkirchen ist eines der ehemaligen Schwerindustriezentren des Saarlandes.
Allerdings reden wir da von einer Zeit, die mittlerweile so lange zurückliegt, dass schon mindestens eine ganze Generation keine Erinnerung mehr daran hat.
Gruben und Stahlwerke sind hier längst Teil einer vielleicht nicht vergessenen, aber doch versunkenen Vergangenheit.

Wobei eine auch nur etwas nähere Betrachtung zu der Erkenntnis führt, dass der Bergbau, auf das gesamte Saarland bezogen, keineswegs zu einer rein industriegeschichtlichen oder musealen Sache geworden ist, sondern dass seine unausweichlichen Folgen konkret und aktuell sind. Denn all die Stollen und Schächte, die im Laufe vieler Jahrhunderte gegraben und gebohrt wurden, die sind nicht einfach wie von Zauberhand wieder verschwunden, sondern sie durchziehen den Untergrund der ehemaligen Kohlereviere wie Gänge einen Termitenhügel. Und auch wenn man vielleicht nichts lieber täte, als sie zu vergessen, man muss sich damit auseinandersetzen, was mit diesen Relikten geschehen soll.

Wie bei meiner ersten in Wiebelskirchen gestarteten Wanderung im Juni bin ich auch heute wieder auf dem Hartfüßlerweg unterwegs, allerdings nicht auf der Südroute wie damals, sondern auf der Nordroute.
Man kann nicht gerade behaupten, dass meine Planung mathematische Präzision aufweisen würde.
Die ersten neun oder zehn Kilometer werden mich in nordöstlicher Richtung bis zum Höcherbergturm führen, wo ich dann auf den Saarland-Rundwanderweg wechseln und nach Norden – später nach Nordwesten – umschwenken und bis St. Wendel wandern werde. Über den Daumen gepeilt sind das 27 oder 28 Kilometer, aber mit den zu erwartenden Umwegen werden unter dem Strich wohl über 30 Kilometer herauskommen.
Die Tour wird also erheblich ausgedehnter ausfallen als die erste Hartfüßler-Wanderung und es steht zu erwarten, dass es noch einige andere Unterschiede gibt.
Ich erwarte mehr Landschaft, mehr Natur, mehr Wald, auch mehr Auf und Ab.
Und mehr Hitze.
Die beginnt auch gleich schon auf dem Bahnsteig.
Schon da fühle ich mich wie unter einem Brennglas und dabei ist es gerade mal 10 Uhr morgens.

Im Moment denke ich aber gar nicht so sehr daran, was in den kommenden Stunden geschehen wird, sondern beschränke mich darauf, einen Schritt vor den nächsten zu setzen und meine unmittelbare Umgebung zu begutachten.
Vom Bahnsteig aus trotte ich in eine Unterführung hinab, die aussieht wie die meisten anderen Unterführungen kleiner Bahnhöfe auch, die mich aber wenigstens schon nach ein paar Schritten wieder ins Licht entlässt.
Gut möglich, dass ich irgendwann im Laufe dieses Tages über eine kühle Unterführung froh wäre, aber nicht jetzt. Jetzt will ich erst einmal raus in die Wärme und raus ins Licht.

Die erste halbe Stunde der Wanderung hat etwas von einer Bootsfahrt, bei der man sich mit eingezogenen Rudern einfach der Strömung überlässt.
Das Symbol des Hartfüßlerweges behalte ich nur so nebenbei im Auge und deshalb ist es wenig verwunderlich, dass ich irgendwo irgendwie auf die Südroute gerate und wieder umkehren muss.
Statt Wiebelskirchen nach fünfzehn oder höchstens zwanzig Minuten hinter mir zu lassen, dauert es beinahe eine volle Stunde, ehe ich endlich den Stadtrand erreiche und an von der Mittagssonne vereinnahmten Kleingärten vorüberstapfe.
Der Schotterbelag, der unmittelbar hinter den letzten Häusern beginnt, könnte mir gestohlen bleiben, aber zum Glück dauert es nicht lange, bis er von Asphalt abgelöst wird.

Es ist sehr hell und die Hitze passt eher in den Juli als in den September.
Es geht fast kein Wind.
Schritt für Schritt warte ich darauf, dass ein Luftzug für ein paar Sekunden die Hitze abschwächt, aber es bleibt die ganze Zeit vollkommen windstill.
Zwischen den Bäumen am Wegrand dunkle Schattenräume.

Ich laufe eine kleine Anhöhe hinauf und dann mehrere hundert Meter weit unmittelbar an einem Firmengelände entlang.
In den nächsten Minuten habe ich rechts von mir in zehn Zentimetern Entfernung den Zaun des Firmengeländes, links Wald, was mich hoffen lässt, dass mich die Wanderung jetzt allmählich in etwas ansehnlichere Gefilde führt.

Ein paar hundert Meter weit muss ich mich noch an diesem Zaun entlangdrücken, aber kaum habe ich das geschafft, steige ich einen schmalen Pfad hinab und ehe ich mich versehe, befinde ich mich im Halbdunkel eines schattigen Laubwaldes.
Ich bin vielleicht zwei Minuten Gehzeit von dem Firmengelände weg und dennoch scheint es, als sei ich an einen tausend Kilometer entfernten Ort gebeamt worden.
Ich bleibe einen winzigen Augenblick lang stehen.
Weder das Licht noch die Schatten sind konstant.
In den Baumkronen ist es mittagshell, aber im Geäst bleibt von der Helligkeit kaum mehr übrig als etwas, das dem unscharfen Lichtstreifen am Horizont ähnelt, mit dem die Morgendämmerung beginnt.

Unvermittelt befinde ich mich am Ufer der Oster, einem rund 30 Kilometer langen Bach, dessen Verlauf wie der so vieler Fließgewässer durch Begradigungsmaßnahmen erheblich verändert wurde.
Mittlerweile ist die Oster allerdings teilweise renaturiert worden und sucht sich an vielen Stellen wieder ihre eigenen Wege.

Hier irgendwo stoße ich auf den Brunnenpfad, den ich ja durch zwei frühere Wanderungen schon recht gut kenne.
Die Stelle mit der Bank am Bachufer und dem schmal wie eine Messerklinge an der Oster entlangführenden Pfad ruft sofort eine beinahe deckungsgleiche Erinnerung wach.
Der Hartfüßlerweg verläuft jedoch ein paar Meter oberhalb dieses schmalen Pfades und trifft erst ein paar hundert Meter weiter mit dem Brunnenpfad zusammen.

Eine Weile wandere ich ganz ruhigen Schrittes bergan.
Alle Geräusche, die nicht hierhergehören, haben sich verflüchtigt.
Zum ersten Mal für heute habe ich das Gefühl, mich wirklich auf einer Wanderung zu befinden und mir nicht einfach nur irgendwie die Beine zu vertreten.

Erst außerhalb des Waldes wird richtig offensichtlich, wie viel Sonnenlicht die Bäume abgehalten haben. Mit einem Mal ist es grell wie auf einem sonnenbeschienenen Schneefeld im Hochgebirge.
Der Weg fließt in leichten Krümmungen dahin.
Ab und zu öffnet sich der Blick auf Wiesen und den darin eingebetteten Bach.
Es ist fast noch stiller als vorhin im Wald. Und es ist ziemlich genau das Maß an Stille, das ich und wahrscheinlich die meisten anderen Mitteleuropäer als angenehm empfinden.
Also keine wirklich vollkommene Stille, bei der man sich vorkommt wie unterirdisch von meterdicken Mauern eingeschlossen.

Irgendwann, denke ich, wird die Stille dieses Augenblicks, so wie alles übrige auch, Teil von etwas Größerem geworden sein, von etwas, das sowohl die Dinge umfasst, an die ich mich erinnere, als auch die, welche ich vergessen habe.
Von dem Zeitpunkt an, als ich den allerersten Schritt der allerersten Wanderung getan habe, bis zum zwangsläufig an irgendeinem Tag in der Zukunft erfolgenden letzten Schritt der letzten Tour wird sich ein Bild an das nächste reihen. Mit jedem Blick wird ein neues Detail hinzukommen und am Ende wird jedes einzelne davon, ob ich mich daran erinnere oder nicht, ein Puzzlestück meiner Existenz sein.

Wenig später bin ich in Hangard, ebenfalls ein Stadtteil von Neunkirchen.
Bei der ersten Wanderung hier vor etlichen Jahren bin ich aus der entgegengesetzten Richtung gekommen.
Außerdem habe ich damals den eigentlichen Startpunkt des Brunnenpfades – nämlich den Dorfbrunnen von Hangard – passiert.
Diesmal biege ich hundert Meter oberhalb des Brunnens in eine völlig andere Richtung ab und wandere dann zum Ort hinaus.

In Hangard waren die Straßen auch nicht gerade übervoll, aber nun begegne ich eine Stunde lang überhaupt niemandem mehr.
Still zieht der Weg sich zwischen Wiesen und Waldrand hin.
Nach und nach wird er etwas steiler.
Die Wiesen verschwinden, das heißt, sie verschwinden natürlich nicht, sie geraten nur aus meinem Blickfeld, weil der Weg in den Wald hineinführt.

Für eine Weile hat das Gehen jetzt etwas von einer Freiluftmeditation.
Es ist nicht mehr mit dem Gehen auf den ersten, etwas chaotischen Kilometern zu vergleichen.
Letztes Aufleuchten des Sommers.
Letzte Farben des Sommers.
Letzte Wärme des Sommers.

Später werde ich mich an dieses stete, helle Grün erinnern, an die ruhigen Baumwipfel, über denen der Mittagshimmel leuchtet wie die Wasserfläche eines Sees, natürlich auch an das ganz allmählich sich abschwächende Licht, als der Wald dichter wird, ich werde mich an den schnurgeraden, breiten Kiespfad erinnern, an das von der Böschung herabgerutschte Laub, das unübersehbar auf den bevorstehenden Herbst hinweist, und daran, dass weiter oben immer mehr und mehr Laub hinzukommt, so dass es manchmal aussieht, als wäre es das schon endgültig gewesen mit dem Sommer, ich werde mich an diese papierdünnen Schatten auf dem Weg erinnern, die dann hinter einer Wegkrümmung mit einem Mal völlig verschwunden sind, weil der Wald aufhört, und ich werde mich daran erinnern, dass die Stille, die mich im Wald begleitet hat, nicht so abrupt endet, wie ich erwartet habe, sondern dass sie erst nach und nach ausklingt, je mehr ich mich wieder bewohntem Gebiet nähere.

Höchen heißt die nächste Ortschaft, die ich durchwandere.
Das Dorf gehört nicht mehr zu Neunkirchen, sondern zur Nachbarstadt Bexbach und neben einer starken landwirtschaftlichen Prägung hat auch Höchen eine Bergbauvergangenheit, wenngleich man in den Straßen des Dorfes nicht mehr sehr viel davon sieht.
Außerhalb des Ortes gibt es allerdings ein weithin sichtbares Überbleibsel aus der Epoche des Steinkohlenbergbaus, nämlich Schacht III.
Schacht III ist nicht mehr und nicht weniger als die höchstgelegene Steinkohlenbergehalde in Deutschland.
Genauer gesagt ist die Bergehalde das, was heute von Schacht III noch übrig ist. 770 Meter ging es einstmals in die Tiefe, aber der eigentliche Schacht ist schon vor Jahrzehnten verfüllt worden und nicht mehr zugänglich.

In Höchen habe ich den größten Teil des Anstiegs zum Höcherbergturm hinter mir.
Noch ein kurzes Stück durch den Wald, dann sehe ich den Turm.
Ehe ich mich aber mit dem beschäftige, richtet sich mein Interesse zunächst auf den Wegweiser am Straßenrand, auf dem als Entfernung bis St. Wendel zu meiner Überraschung nur 14,1 Kilometer angegeben sind.
Irgendwie glaube ich das nicht so recht.
Vielleicht bis zum äußersten Stadtrand von St. Wendel, aber niemals bis zum Bahnhof.
Nun gut, mal abwarten.

Der Turm öffnet leider erst in anderthalb Stunden, wie ich feststellen muss.
Zumindest steht auf einem Schild neben der Tür zum Turmaufstieg irgendwas von 15 Uhr.
Aber schon kurz vor zwei sehe ich einen Mann die Tür aufschließen und im Turminneren verschwinden.
Ich warte zwei, drei Minuten ab, aber der Mann taucht nicht wieder auf und die Tür bleibt geöffnet.

Eigentlich hatte ich mich schon damit abgefunden, auf den Ausblick vom Turm verzichten zu müssen, aber jetzt ergreife ich natürlich die Gelegenheit beim Schopf und steige die Treppen zur Aussichtsplattform hinauf.
Oben ist es windig.
Die Luft ist frisch und ganz klar.
Die Wolken hängen tief über der Erde.
Der Baumgürtel im Vordergrund hat schon ziemlich viel von Herbst und von Jahreszeitenwechsel.
Dahinter wie kleine, abgeschlossene Räume Felder, Wiesen und Wäldchen.
Weiter draußen verschmelzen die Farben.
Der Horizont sieht aus wie eine Schneelandschaft hinter einer vereisten Fensterscheibe.

Vom Höcherbergturm aus orientiere ich mich wie geplant am Saarland-Rundwanderweg und nicht mehr am Hartfüßlerweg, wobei die beiden Wanderpfade allerdings noch für ein paar Kilometer einen identischen Verlauf haben, ehe der Hartfüßlerweg nach Südosten abknickt, während ich weiter nach Norden wandere.

Nur ein paar Schritte vom Turm entfernt beginnt Wald.
Und zwar ein dunkler, fast archaisch anmutender Wald, in dem nicht ein einziger Sonnenstrahl den Boden erreicht.
Wurzeln und kleine Steine bedecken den Boden.
In diesem Wald könnte es Abend werden und man würde es kaum merken.
Es dauert jedoch nicht allzu lange und es wird wieder heller, erst noch ganz spärlich, ungefähr so, als würde man ganz langsam eine Jalousie öffnen, dann aber flutet das Licht mit einem Mal wie eine herabstürzende Welle über die Baumstämme herab.

Kurz darauf liegt der Wald aber schon wieder hinter mir und ich trabe nach Münchwies hinein, das wieder zu Neunkirchen gehört. Münchwies ist erheblich ländlicher geprägt als zum Beispiel mein Startort Wiebelskirchen.
Es hat auch nur wenig mehr als 1500 Einwohner, Wiebelskirchen dagegen 9000.

Ich wandere nicht durch den ganzen Ort, sondern biege schon nach kurzer Zeit auf einen Asphaltweg ab und binnen weniger Minuten befinde ich mich mitten in jener Wiesen- und Hügellandschaft, die ich vorhin vom Höcherbergturm aus überblickt habe.

Es geht nun weiter ins Tal hinab.
Der Asphaltanteil ist heute recht hoch, aber das stört mich nicht. Im Gegenteil, ich mag diese kleinen, versteckten Wege zwischen den Dörfern.
Das soll nicht heißen, dass ich mich immer und überall auf Asphalt bewegen möchte, aber ich hege nicht wie so viele eine grundsätzliche Abneigung gegen diesen Belag.

Im Augenblick habe ich aber ohnehin keinen Grund, über dieses Thema länger nachzudenken, denn schon nach kurzer Zeit biege ich wieder in den Wald ab.
Im ersten Moment habe ich beinahe den Eindruck, in einen ähnlich dunklen Wald geraten zu sein wie nach meinem Aufbruch vom Höcherbergturm, aber es dauert keine zwei Minuten, da ist das Dunkel bereits wieder einer angenehmen, von leichten Schatten durchsetzten Helligkeit gewichen.

Ich wandere über einen kleinen Steg hinweg, trabe eine Anhöhe hinauf, die gerade kurz und flach genug ist, um nicht den Schwung zu verlieren, und laufe dann ein paar hundert Meter eine in Schatten eingehüllte Waldschneise entlang.
An einer Wegkreuzung entdecke ich plötzlich neben dem rot-weißen Emblem des Saarland-Rundwanderweges das Symbol des Mühlenpfades, den ich von einer zwei Jahre zurückliegenden Tour her kenne.
Irgendwie stoße ich mittlerweile immer häufiger auf Wege, die ich irgendwann schon einmal ganz oder teilweise gegangen bin oder die ich zumindest gekreuzt habe. Was natürlich in der Natur der Sache liegt, wenn man viel unterwegs ist.

Und da ich gerade dabei bin – kaum etwas hat meine Sicht auf die Dinge mehr verändert als das Gehen, womit natürlich nicht der Morgenspaziergang zum Bäcker gemeint ist, sondern das viele Stunden währende Gehen über viele Kilometer.
Es ist diese Kombination aus Langsamkeit, Beobachten, Entdecken, Draußensein und einigem mehr, die das bewirkt.
Solange ich Läufer gewesen bin, war das nicht ansatzweise der Fall.
Was auch kein Wunder ist, denn als Läufer verfolgt man ganz andere Ziele und muss sich mit ganz anderen Dingen beschäftigen.
Wenn ich die Zeit zurückdrehen könnte, dann würde ich zehn Jahre früher mit dem Gehen beginnen.

Der Verlauf des Mühlenpfades ist mir aufgrund der eben erwähnten Tour noch ausschnittweise bekannt.
Immer wieder leuchten ein paar Erinnerungsblitze von damals in meinem Kopf auf.
Nur ein einziger davon wird jedoch zu einem klaren, scharfen Bild und das ist der Blick von einer Anhöhe hinunter auf das Dorf Fürth oder vielmehr auf die weiße Kirche am Ortsrand und die kleine Armee von Hausdächern.
Damals habe ich an dieser Stelle bzw. ein Stück den Hügel hinab eine längere Pause eingelegt, was ich heute wiederhole.

Unten im Ort verabschiede ich mich dann auch schon wieder vom Mühlenpfad, der nach links in den Wald abzweigt, während ich nach rechts die Hauptstraße hinaufwandere.
St. Wendel neunkommairgendwas lese ich auf einem Wegweiser. Vom Höcherbergturm bis hierher habe ich gut sieben zurückgelegt, womit sich meine Einschätzung bewahrheitet hat, dass die beim Höcherbergturm als Entfernung bis St. Wendel angegebenen 14,1 Kilometer deutlich zu wenig gewesen sind.

Hinter Fürth beginnt der Abschnitt der Wanderung, auf den ich mich vor der Tour am meisten gefreut habe.
Auf und ab über asphaltierte Feldwege, manchmal auch über am Waldrand entlangführende Kiespfade, oft zu beiden Seiten Wiesen und Äcker, so weit das Auge reicht, immer weiter rückt der Horizont weg, hier und da ein Dorf wie aus der Erde hervorgewachsen.

Ich gehe zügig und dennoch ist es fast eine Art Spaziergang.
In den Schatten spürt man, dass sich der Abend nähert. Wie sich ausbreitende konzentrische Kreise nehmen sie immer mehr Bereiche ein. Dort, wo keine Schatten sind, ist die Landschaft aber noch immer in grelles Licht getaucht.

Auf einer Anhöhe, auf der es nichts gibt außer mir und dem Wind, bleibe ich stehen und lasse den Blick auf und irgendwie auch in der Landschaft ruhen.
Einige lange und vom Davor und Danach vollkommen isolierte Augenblicke besteht das Wesentliche darin, dass gar nichts geschieht.
Es ist, als hätte ich ein zum Stillstand gekommenes Bild vor mir.

Im Weitergehen fällt mir am Wegrand ein an einem Pfahl befestigtes Schwarzweißfoto auf.
Abgebildet ist eine Gruppe von Männern in einer Kleidung, die ich den Dreißiger oder Vierziger Jahren des 20. Jahrhunderts zuordne. Die Pose und auch die Anordnung der Männer in zwei Reihen hintereinander, eine stehend, eine sitzend, erinnert mich an uralte Aufnahmen von Fußballmannschaften.

Das Entstehungsjahr des Fotos wird mit 1940 angegeben, mein erster Eindruck ist also nicht ganz falsch gewesen.
Worauf ich auch nach einer dreitägigen Klausur in einer von der Außenwelt abgeschotteten Klosterzelle wohl nicht gekommen wäre, ist der Anlass des Fotos.
In jenem Jahr hat es nämlich auf den Äckern rundum erste archäologische Ausgrabungen gegeben, nachdem offenbar schon seit längerer Zeit immer wieder antik anmutende Fundstücke im Boden entdeckt wurden.
Die Ausgrabungen des Jahres 1940 waren auch tatsächlich erfolgreich, denn den abgebildeten Männern gelang es, die Grundmauern eines Gutshofes aus dem 4. Jahrhundert freizulegen.
In den 80 Jahren, die seither ins Land gingen, sind weitere Ausgrabungen durchgeführt und weitere archäologische Funde gemacht worden. Wahrscheinlich würde man noch jede Menge solcher Funde machen, wenn man nur intensiv und lange genug graben würde.

Der Asphalt bleibt mir jetzt von einigen wenigen Waldpassagen abgesehen bis zum Ende der Wanderung erhalten.
Beinahe unmerklich hat der Abend den Nachmittag abgelöst.
Obgleich mir immer mehr Spaziergänger und Radfahrer begegnen, wirken die Wege im ganz allmählich schwindenden Licht einsam wie Mondpfade.
Die Konturen verlieren ihre Schärfe, es sieht beinahe aus, als läge Nebel über den Spitzen der Grashalme.
Aus hellem, leuchtendem Grün wird irgendein matter, dunkler Farbton, Lichtwelt verwandelt sich langsam in Schattenwelt.
Nur die Hitze hält sich immer noch.

Die letzten ein, zwei Kilometer.
Von weitem sehe ich das Missionshaus, in dem Mitglieder der Ordensgemeinschaft der Steyler Missionare ihre letzten Lebensjahre verbringen.
Es wirkt wie ein Relikt aus einer Zeit, die längst vergessen ist.

Die ersten Häuser von St. Wendel.
Die Straßen sind leer, füllen sich aber nach und nach, je mehr ich mich der Innenstadt nähere.
Ein kurzer Abstecher noch zur Basilika, dann trabe ich leichten Fußes in Richtung Bahnhof.

3 Comments

  • Roxanne

    Diesmal musste ich den Text am Abend unterbrechen und konnte erst heute Morgen weiterlesen, weil er so lang geworden ist, lach. Hat sich aber gelohnt, es ist wieder ein schöner und interessanter Bericht geworden.

    Roxanne

  • Jana

    Deine wieder sehr gelungene Beschreibung hört sich nach einer abwechslungsreichen Tour an – viel Wald, aber auch freie Blicke beim Wandern über Wiesen und Felder, ein Turm, der tolle Fernblicke bot … Und das alles bei herrlichem Spätsommerwetter! Kein Wunder, dass du nun immer mal wieder Wege kreuzt, die du teilweise schon gegangen bist. Du näherst dich schließlich Tour 100 und bist viel unterwegs. Auch die Stadtansichten, die deinen Blog bereichern, werden immer mehr. Sehr gut!

    Liebe Grüße ins wunderschöne Saarland
    Jana

    • gorm

      Vielen Dank, liebe Jana.:-)
      Die Tour hat insgesamt ziemlich genau das geboten, was ich vorher erwartet bzw. mir davon versprochen hatte. Am besten hat mir diesmal das Gehen im „freien Gelände“ gefallen, die Wege zwischen den Wiesen und Äckern hindurch, der Blick auf die Hügelwellen am Horizont, die kleinen Dörfer irgendwo mittendrin usw. Durch die immer noch recht langen Tage konnte ich mir auch genügend Zeit lassen und musste trotz des einen oder anderen Umweges nicht hetzen.:-) Das war sicher nicht das letzte Mal, dass ich in der Region um St. Wendel herum gewandert bin.

      Liebe Grüße
      Torsten

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