Wandertouren

TOUR 81 – VON EDENKOBEN NACH NEUSTADT AN DER WEINSTR.

Es wird eine Zeit geben, in der uns diese Tage der Pandemie im Rückblick vielleicht noch unwirklicher erscheinen werden als im Augenblick.
Eine Zeit, in der wir uns nicht mehr vorkommen werden, als wären wir Statisten in einer Realität gewordenen Dystopie.
Eine Zeit, in der auch das Unterwegssein wieder selbstverständlich sein wird. So selbstverständlich wie die Morgendämmerung am Ende der Nacht, so selbstverständlich wie das Aufeinanderfolgen der Jahreszeiten und die Existenz der Sonne.

Im Moment jedoch sind wir mittendrin.
Es ist Samstag, der 14. März, und es gibt seit vielen Tagen, anschwellend wie eine unbesiegbare Riesenwoge, nur ein einziges Thema, nämlich DAS VIRUS. Nichts anderes scheint mehr zu existieren. Es ist so gegenwärtig wie die Luft, die man atmet. Die Welt ist abrupt und für unbestimmte Zeit zum Stillstand gekommen.
Und deshalb ist die Wanderung heute, so kurz sie auch sein mag, ein Stück Normalität, von mir aus auch ein Anker in sicherem Grund, vor allem aber – wir wissen nicht, wann die nächste Wanderung möglich sein wird, denn es ist abzusehen, dass in den nächsten Tagen erhebliche Ausgangsbeschränkungen kommen werden, und deshalb wollen Jana und ich die Gelegenheit nutzen, vorher noch einmal eine kleine Tour zu machen.

Was das Wetter betrifft, so haben wir uns einen ganz guten Tag dafür ausgesucht.
Es ist so ein Morgen, an dem man am liebsten von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang ohne anzuhalten an einer schnurgeraden Straße entlangmarschieren würde, die von Horizont zu Horizont reicht, vorausgesetzt, die Luft bleibt so durchsichtig klar wie im Moment.

Der Bahnsteig in Edenkoben, unserem Startort, ist leer wie ein stillgelegter Flugplatz.
In den Straßen sieht es nicht viel anders aus. Auf dem ersten Kilometer begegnen uns so gut wie keine Passanten. Zwei, um genau zu sein.
Nach und nach jedoch wird es etwas voller. Ein paar Geschäfte haben geöffnet und hier und da gibt es sogar jemanden, der sie betritt.
Es wirkt zwar nicht ganz wie ein normaler Samstagmorgen in einer Kleinstadt, aber von einer Ausnahmesituation ist es noch wesentlich weiter entfernt.

An irgendeiner Straßenkreuzung entdecken wir das Symbol des Pfälzer Mandelpfades, an dem wir uns orientieren wollen.
Es ist erst wenige Monate her, da waren wir auf einer anderen Etappe des Mandelpfades unterwegs, ebenfalls mit Ziel in Neustadt.
Damals befanden wir uns mitten im Herbst, die Wege lagen voller Laub, es war ein strahlend heller Tag, einer der ganz wenigen inmitten einer endlosen Reihe grauer Regentage, aber trotzdem lag in der Luft schon eine Ahnung von Winter, die Tage des ersten Schnees schienen nicht mehr weit.

Heute ist es nicht so hell wie damals, aber der Winter – der ohnehin keiner war – liegt hinter uns und Schnee werden wir in den nächsten Monaten vermutlich nicht zu sehen bekommen.
Und irgendwie wirkt der Frühling größer als in den Jahren zuvor. Vielleicht deshalb, weil irgendwo im Kopf der Gedanke herumschwirrt, dass es für längere Zeit der letzte Frühlingstag gewesen sein könnte, an dem man fast noch so tun kann, als sei alles wie immer.

Abgesehen davon ist für mich ist der März ohnehin einer der besten Monate des Jahres.
Die dunklen Tage des Winters liegen hinter uns, andererseits ist auch noch nichts zu spüren von der drückenden Hitze des Hochsommers. Und noch drei volle Monate lang wird es Tag für Tag ein paar Minuten länger hell sein.

Mitten in der Stadt stehen wir plötzlich vor einem Brunnen, der mehr als nur einen flüchtigen Blick wert ist.
Schon der Name ist auffällig – Lederstrumpfbrunnen.
Lederstrumpf? James Fenimore Coopers Lederstrumpf?
Nebenbei erwähnt ist das ja nur einer seiner Kriegsnamen, wenn auch natürlich der bekannteste.
Die Skulptur mit der Pelzmütze und dem Gewehr über der Schulter stellt jedenfalls tatsächlich Nathaniel Bumppo dar, den Helden der Lederstrumpferzählungen. Bzw. die reale Person, die manchen als Vorbild für die literarische Figur Lederstrumpf gilt, nämlich den aus Edenkoben stammenden Johann Adam Hartmann.

Hartmann wanderte Mitte des 18. Jahrhunderts im Alter von 16 Jahren nach Amerika aus, führte dort ein Leben als Trapper, kämpfte im Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg gegen die Kolonialmacht England und irgendwie irgendwann soll Cooper auf die Lebensgeschichte des deutschen Auswanderers aufmerksam geworden sein.
Als ursprüngliche Quelle dieser These ist ein Essay von Carl Suesser aus dem Jahr 1934 in den „Westermanns Monatsheften“ auszumachen.

Je mehr wir uns dem Stadtrand nähern, desto mehr kommt der Frühling zur Geltung.
Der Himmel wird immer weiter und höher, wir kommen uns vor wie unter einer hohen, riesigen Kuppel, die sich über das Land wölbt.
Es ist abzusehen, dass es nicht mehr lange so bleiben wird, zumindest wurde es in den Wettervorhersagen so prognostiziert. Vielleicht noch eine Stunde, vielleicht auch zwei Stunden, dann wird man den Frühling wahrscheinlich eher spüren, als dass man ihn wahrnimmt.

Kaum haben wir Edenkoben hinter uns gelassen, sehen wir die ersten Mandelbäume, blühende Mandelbäume selbstverständlich.
Kurz darauf machen wir Rast.
Eine Fernsicht, als würden wir auf einer Dachterrasse stehen.
Im Vordergrund Rebstöcke, dahinter die Ebene, der Himmel, der Horizont, zwischendrin silbergraue Wege, ein Dorf mit einer weißen Kirche, und alles so hell und klar wie an einem Sommermorgen.
Beinahe jede Wanderung bringt Erinnerungen hervor, zu denen man später – manchmal lange danach – zurückkehrt.
Vielleicht wird dieser Fernblick eine solche Erinnerung sein.

Wir wandern weiter.
In der Ferne erkennen wir das Hambacher Schloss.
Im Sonnenlicht sticht es inmitten der dunklen Hügel ringsum besonders hervor. Es liegt allerdings nicht direkt an unserer Wanderroute und wir entschließen uns, auf einen Abstecher zu verzichten.

Ein paar Minuten später ist es tatsächlich vorbei mit dem hellen Frühlingstag. Die Sonne verschwindet hinter dichten Wolken und kommt für den Rest der Wanderung auch nicht mehr hervor.
Von einem Augenblick zum nächsten kommt uns alles viel kleiner und viel enger vor. Der Horizont rückt näher heran, der Himmel wirkt nicht mehr wie eine Kuppel, sondern nur noch wie eine graue Betonplatte, es ist beinahe, als seien wir aus hellem Tageslicht in das dämmrige Licht einer Höhle getreten.

Während wir darüber spekulieren, ob es das für heute war mit dem Frühling, fällt uns auf, dass wir nicht mehr auf dem Mandelpfad unterwegs sind. Jedenfalls haben wir seit unserer Rast kein Symbol mehr gesehen.
Im Grunde ist es nicht von Belang, denn an Wegen, die uns nach Neustadt bringen, mangelt es hier bestimmt nicht. Wir müssen nur ungefähr die Himmelsrichtung treffen, dann kommen wir wie von selbst an unser Ziel.

Aus der Vogelperspektive betrachtet würde das Geflecht dieser durch die Weinhänge führenden Wege wahrscheinlich ungefähr so aussehen wie der Liniennetzplan einer Großstadt. Überall Kreuzungen und Abzweigungen und alle sind irgendwie miteinander verknüpft.

Eine Weile wandern wir unmittelbar an Maikammer vorüber, dem Dorf mit der weißen Kirche, das wir vorhin von weitem gesehen haben. Später biegen wir irgendwo ab und bewegen uns für ein paar Minuten auf das zu Maikammer gehörende St. Martin zu.
Immer mehr Spaziergänger kreuzen unseren Weg.
Irgendwie scheint jeder noch das letzte Stückchen Scheinnormalität erhaschen zu wollen, ehe der große Lockdown kommt.
Unterhalb von Schloss Hambach sehen wir sogar 100, wenn nicht mehr Leute an den Tischen eines Gasthofes oder Biergartens hocken, als wenn nichts wäre.

Immer weiter folgen wir den grauen Asphaltwegen.
Allmählich überwuchern Nachmittagsschatten die flachen Weinhänge.
Die Ebene und auch die Hügel werden zunehmend von Dunkelheit eingehüllt, aber sehr langsam.
Es wird kälter.
Die Sonne ist nur noch ein schwach leuchtender Kreis hinter mehreren Schichten düsterer Wolken.

Kurz vor Hambach der letzte Fernblick.
Weißes Wolkenrauschen am Himmel.
Wir bleiben stehen, lassen uns eine Weile die Luft um die Nase wehen, dann gehen wir weiter.
In Hambach hätten wir die letzte Gelegenheit, doch noch zum Schloss zu wandern, aber ich verspüre so gut wie keine Lust dazu und Jana überhaupt keine.

Die Straßen sind vollkommen leer, nur ein einzelner Jogger begegnet uns.
Hambach ist ein Stadtteil von Neustadt, was bedeutet, dass wir uns bereits auf der Zielgeraden der Wanderung befinden. Auf den letzten zwei, drei Kilometern laufen wir nur noch durch immer urbaner wirkende Straßen.
Wie in den Stunden zuvor, so lassen wir uns auch jetzt sehr viel Zeit.
Als wir den Bahnhof endlich erreichen, ist der Abend nicht mehr weit.

3 Comments

  • Jana

    Zum Glück haben wir diese Wanderung noch zusammen gemacht, lieber Torsten, bevor es nun für eine längere Zeit nicht mehr möglich sein wird! Der Pfälzer Mandelpfad war an diesem 14. März genau das Richtige für uns: eine ebene, nicht allzu lange Tour mit schönen Fernblicken. Dass wir dann irgendwann doch wieder von der geplanten Route abgekommen sind, war sekundär. An guten Orientierungspunkten mangelte es ja nun wirklich nicht.

    Ganz liebe Grüße
    Jana

    • gorm

      Hallo, liebe Jana.:-)
      Die Wanderung hat ziemlich genau das geboten, was wir erwartet haben – ein Geflecht von Wegen zwischen flachen Weinhängen hindurch mit Fernblicken in die Rheinebene hinein und immer wieder auch auf Schloss Hambach. Steigungen waren praktisch nicht vorhanden, Bänke am Wegrand gab es mehr als genug, dazu zumindest in den ersten Stunden frühlingshaftes Wetter – es passte so ziemlich alles. Für mich war das heimliche Highlight dieser Wanderung der Lederstrumpfbrunnen in Edenkoben, vor allem auch wegen der Geschichte, die dahintersteckt.
      Hoffen wir mal, dass es nicht zu lange bis zur nächsten Wanderung dauert, aber im Moment kann man da leider kaum Vorhersagen treffen.
      Ganz liebe Grüße für dich
      Torsten

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