Wandertouren

TOUR 63- BADEN-BADEN: BHF – PANORAMAWEG – MERKURBERGBAHN

Es ist ein grauer Sonntagmorgen Anfang März.
Es gibt überhaupt keine andere Farbe als Grau, und es ist nicht einfach nur ein oberflächliches, bei näherem Hinsehen in alle möglichen weniger tristen Farbtöne sich auflösendes Grau, sondern es ist ein Grau wie aus Mondgestein gemeißelt.

Es sieht wirklich nicht so aus, dass sich dieses Grau in den nächsten Stunden abmildern wird. Aber abgesehen davon, dass es natürlich angenehmer ist, unter einem ästhetisch perfekten blauen Himmel dahinzuwandern als unter einem, der aussieht wie eine Tinktur aus den Gedanken von Teilnehmern eines Misanthropenkongresses, ist das nicht weiter schlimm.

Störender ist da schon der Wind.
In den letzten Wochen hat es so viele Sturmwarnungen gegeben, dass man sich kaum an drei aufeinanderfolgende Tage erinnern kann, an denen man davon verschont geblieben ist. Auch heute ist im Wetterbericht von einzelnen Sturmböen die Rede, und schon mit dem allerersten Schritt dieser Wanderung setzen zumindest ein paar klitzekleine Zweifel bei mir ein, ob es nicht besser gewesen wäre, die Tour ausfallen zu lassen.
Graue Windstöße fegen über den Bahnsteig, wirbeln Staub und Dreck auf.
Alle paar Sekunden ist von irgendwoher ein Scheppern oder Knallen zu hören.
Von Sonne natürlich keine Spur.
Immerhin ist es nicht kalt, nicht allzu kalt jedenfalls.

Irgendetwas in mir hegt die Hoffnung, dass es im Laufe der nächsten Stunden besser wird, aber fürs Erste bleibt es, wie es ist: Ein trüber, windiger Tag, der Himmel eine monochrome graue Fläche, keine Weite, nicht einmal ein unbestimmtes Gefühl von Weite, und selbst unter freiem Himmel kommt es mir vor, als würde ich durch eine Klamm mit dunklen, überhängenden Felswänden laufen.

Bis zum Start des Panoramaweges muss ich ungefähr drei Kilometer zurücklegen.
Der Bahnhof in Baden-Baden liegt an der Peripherie der Stadt und ich bewege mich stetig auf die Innenstadt zu. Trotzdem ist lange Zeit der Wind so ziemlich das einzige Geräusch, von ein paar vorüberfahrenden Autos abgesehen.
Ab und zu muss ich an einer Ampel oder einem Zebrastreifen anhalten, aber im Großen und Ganzen komme ich ziemlich zügig voran, wenn mich nicht gerade eine starke Windböe für ein paar Sekundenbruchteile abbremst.
Was sich links und rechts von meinem Weg befindet, nehme ich so gut wie überhaupt nicht wahr.
Häuserfassaden, Plakatwände, Schaufenster, parkende Autos, hier und da ein kurzes, blassgrünes Schimmern an den Rändern meines Gesichtsfeldes von ein paar im Wind schwankenden Bäumen am Straßenrand, mehr ins Detail geht meine Wahrnehmung nicht.

Plötzlich der helle, klare Klang von Kirchenglocken.
Was ziemlich sicher bedeuten dürfte, dass es nicht mehr weit bis zum Startpunkt des Panoramaweges sein kann, denn dieser beginnt auf dem Parkplatz vor der Bernharduskirche. Denke ich zumindest.

Ich biege um eine Kurve und stehe vor einem Gebäude, das im ersten Moment des Hinschauens wirkt, als hätte sich ein Konstrukteur von Bunkeranlagen am Bau einer Kirche versucht. Bei näherem Hinsehen wird dieser Eindruck allerdings etwas abgemildert.

Allzu lange bleibt mein Blick aber nicht an der Kirche hängen.
In einer entfernten Ecke des Parkplatzes entdecke ich einige Wegweiser, die in so ziemlich alle existierenden Himmelsrichtungen zeigen. Nur – das Wandersymbol des Panoramaweges, ein grüner Kreis auf weißem Grund, findet sich auf keinem davon.
Nach ein wenig Überlegen entschließe ich mich, einem gelben Parallelogramm zu folgen, und zwar in Richtung des Bernhardusbrunnens, von dem ich sicher weiß, dass dort auch der Panoramaweg vorüberführt.

Ein paar letzte Häuser, dann Wald.
Der Weg führt leicht bergan. Erst noch Asphalt, aber sehr bald schon weicher Waldboden.
Der Himmel ist immer noch trübe wie an einem Regentag im November. Kein Wunder, dass das alles noch nicht so richtig erbaulich wirkt.

Ich gehe nicht schnell.
Ertaste den Pfad.
Spüre jetzt die Ruhe des Gehens, die Leichtigkeit, trotz des Windes.
Es wird ein paar Nuancen heller.
Der Weg führt immer weiter bergauf, aber nicht so, dass man ins Schwitzen käme.
So ganz allmählich fühlt es sich wirklich nach Wandern an.

Ein erster Fernblick.
Weiße Gebäude, noch nicht allzu tief unter mir gelegen.
Hügel, schemenhaft in die Landschaft gezeichnet.
Im Vordergrund braune, kahle Weinberghänge.
Ich scanne den Himmel nach einem Anzeichen dafür ab, dass die graue Wolkenschicht in absehbarer Zeit vielleicht doch der Sonne weichen könnte, aber dafür spricht im Moment gar nichts.
Beim zweiten Fernblick ein paar hundert Meter weiter bietet sich allerdings schon ein etwas erfreulicheres Bild. Die Hügelkämme sind schärfer gezeichnet, der Himmel ist fast so etwas wie blau, und irgendwo am Horizont zeigt sich deutlich erkennbar sogar ein heller Schimmer.

Ich wandere langsam weiter.
Der Pfad, auf dem ich mich befinde, ist vor knapp zweihundert Jahren als Verbindungsweg von der Sommerresidenz eines Markgrafen nach Baden-Baden angelegt worden.
Bis zum „Grünen Stein“, einem Felsbrocken mitten auf einer Wegkreuzung, ist es ein ziemlich breiter Pfad. Dann aber wird er schmal wie eine Ackerfurche und gleich auch um ein paar Prozent steiler, so dass ich fast den Eindruck habe, das ausgetrocknete Bett eines Bergbaches hinaufzuwandern. Unter den nun immer dichter zusammenrückenden Bäumen ist es noch ein paar Schattierungen dunkler als vorher.

Eines ist jetzt offensichtlich: Ich befinde mich längst nicht mehr auf dem Panoramaweg. Falls das überhaupt jemals der Fall gewesen ist, denn bisher habe ich den grünen Kreis noch kein einziges Mal zu Gesicht bekommen.
Die ursprünglich ins Auge gefasste Route kann ich damit natürlich vergessen, was mich aber nicht sonderlich stört, solange das gelbe Parallelogramm eine einigermaßen zuverlässige Orientierung darstellt.

Es geht immer weiter bergauf.
Nach einer Weile mündet der Pfad in eine breite Schneise, aber keine fünf Minuten später ist er wieder eine kaum mehr als fußbreite Kerbe.
Ein paar niedrige Büsche, dunkle Nadelbäume – wenn hier erst einmal alles wuchert und blüht, dann dürfte man eine Mischung aus mystischer Zwischenwelt und Naturparadies vorfinden.

Mittlerweile ist der Wald voller Menschen.
Die meisten von ihnen wollen vermutlich genau wie ich hinauf zum Alten Schloss, das früher Schloss Hohenbaden hieß und nichts Geringeres ist als der Namensgeber des historischen Landes Baden.

Bisher ist es eine Wanderung, in der vieles in der Schwebe ist.
Vom Winter ist nichts mehr zu spüren, vom Frühling aber auch noch nicht so richtig.
Das wenige Grün ist blass und verwaschen, aber man hat doch schon eine ferne Ahnung davon, dass daraus in ein paar Wochen ein richtig sattes, freundliches Grün werden könnte.
Und ich selbst verharre irgendwo zwischen Erwartung und erwartungslosem Betrachten, zwischen Genießen und Abwarten.

Immer noch dieser trübe Schein zwischen den Bäumen.
Als hätte jemand ein graues Netz über den Wald gespannt.
Doch dann geschieht etwas Überraschendes. Mit einem Mal reißt die Wolkendecke auf, und wo einen kurzen Pulsschlag zuvor noch alles so farblos war wie auf einem Schwarzweißfoto, ist es jetzt plötzlich so hell, als hätte jemand an einem sonnigen Augustmorgen die Jalousien hochgezogen.
Ich wandere an einer wunderbar in den Wald und die Landschaft hineingeschmiegten Kapelle vorüber, und so ganz allmählich merke ich, dass ich mich mit diesem Weg wohlzufühlen beginne.

Dann, als ich mich schon frage, ob ich heute Morgen überhaupt noch irgendwo ankommen werde, was nach einem Etappenziel aussieht, stehe ich vor der Ruine des Alten Schlosses.
Ich weiß nicht, was mir zuerst ins Auge springt – die wuchtige, fast schon zerklüftete Außenmauer der Ruine oder die wesentlich unscheinbareren, aber trotzdem irgendwie nicht zu übersehenden Wegweiser am Rande der Wegkreuzung, auf die ich zusteuere.
Das gelbe Parallelogramm, an dem ich mich die ganze Zeit, orientiert habe, ist immer noch da, und endlichendlich entdecke ich auch den grünen Kreis des Panoramaweges. Der Wegweiser mit dem gelben Parallelogramm zeigt nach rechts, der mit dem grünen Kreis nach links. Beide Wege führen zur Merkurbergbahn, aber ich muss nicht lange überlegen und entscheide mich für den Panoramaweg. Die Merkurbergbahn ist zwar immer noch sechskommairgendwas Kilometer entfernt, also nicht weniger als am Startpunkt bei der Bernharduskirche, aber das spielt keine Rolle.

Ganz so einfach macht es mir das Schicksal an diesem Tag dann aber doch nicht.
Nachdem ich den Pfad linkerhand eingeschlagen habe, findet sich das Panoramawegsymbol fünfzig Meter weiter noch ein zweites Mal, aber dann … nichts mehr.
Ich gelange auf einen Parkplatz unterhalb des Schlosses und von dort zweigen alle möglichen Wege in alle möglichen Richtungen ab, aber nirgends ist der grüne Kreis zu entdecken.

Eine Viertelstunde vergeht und noch eine Viertelstunde.
Ich laufe kreuz und quer über den Parkplatz, stehe vor einer eher verwirrenden als erhellenden topografischen Karte, schlage halbherzig diese oder jene Richtung ein, und irgendwann ist das, was ich da tue, keine zielgerichtete Suche mehr, sondern eher so etwas wie das Nachstellen der Schriftzeichen eines verschnörkelten Runenalphabets.

In dem Augenblick jedoch, in dem irgendetwas in mir den Entschluss fasst, meine Zeit nicht länger mit der Suche nach einem unauffindbaren Symbol zu verschwenden, sondern mich darauf einzulassen, was da ist und was ich nutzen kann, ändern sich die Dinge grundlegend, und aus einem ganz netten Sonntagsausflug wird eine Wanderung, die ihren festen Platz in meiner Erinnerung bekommen wird.

Es beginnt unmittelbar oberhalb der Burg mit einem Fernblick weit über die Hügellandschaft des Nordschwarzwaldes hinweg.
Da ist nichts mehr eng und grau und begrenzt.
Man kann gar nicht anders, als den Blick weit in die Ferne zu richten.
So ganz nebenbei habe ich auch auf den Panoramaweg zurückgefunden. Oberhalb der Burg ist er plötzlich wieder da, einfach so, und von dieser Sekunde an verliere ich ihn auch nicht mehr aus den Augen.

Ich wandere einen steinigen, schmalen Waldpfad hinauf.
Der Wind ist jetzt wie eine gleichmäßige, starke Strömung.
Ich spüre die Bewegung der Bäume, ohne sie bewusst wahrzunehmen.
Wenn ich den Blick hebe, ahne ich die Helligkeit des Himmels.
Der Pfad wird noch schmaler.
Kantige, ungefüge Steine ragen daraus hervor.
Rechts eine steile Böschung mit einem Gewirr aus kleinen Felsbrocken.
Plötzlich steinerne Stufen, zwanzig oder mehr.
Ich steige sie ganz langsam hinauf.
Für Sekunden kein Wind mehr.
Spröde, leichte Stille.
Alles ruhig, auch in mir.

Der Weg führt immer noch weiter hinauf.
Nach den Stufen erst einmal wieder so ein felsiger Pfad wie kurz zuvor, dann noch ein paar dieser steinernen Stufen, und danach bin ich endlich ganz oben auf dem Plateau und zum ersten Mal seit der Bernharduskirche geht es nicht weiter bergauf.
Ein Geflecht von Wegen durchzieht den Wald, einer einladender als der andere. Überall dunkles Grün, manche der Stämme sind fast schwarz, aber von einer düsteren Atmosphäre kann trotzdem keine Rede sein.
Hier kann man als Wanderer gar nicht anders, als sich wohlzufühlen.

Ich komme jedoch gar nicht dazu, begeistert zu sein, denn ehe ich mich versehe, wird es erst so richtig großartig.
Ich trete unter den Bäumen hervor und von einer Sekunde zur nächsten befinde ich mich in einer wilden, windumwehten Felskulisse, von der aus man einen Blick ins Land hat, für den ich sieben Tage Barfußlaufen im Dauerregen mit Gewichtsmanschetten an den Waden in Kauf nehmen würde.

Über der Landschaft liegt ein warmes Licht.
Die Hügel wirken beinahe blau unter dem tiefen Himmel. Weit draußen verschmelzen sie mit dem Horizont.
Hier könnte man verharren, bis man zu einem Baum geworden ist, und hätte sich immer noch nicht sattgesehen.
Ohne das alles zu sehr zerdenken zu wollen, überlege ich, was ich wohl von Augenblicken wie diesen mitnehmen, bewahren oder was auch immer kann.
Spontan fallen mir zwei Dinge ein: Erstens ist es wieder einmal dieses Gefühl, angekommen zu sein, obwohl ich noch unterwegs bin.
Und zweitens stellt es eine gewisse Genugtuung dar, einen mehr oder weniger weit entfernt liegenden Ort zu Fuß erreicht zu haben.

Im Weitergehen löst sich ein ganz bestimmter Gedanke aus dem Dunkel, den ich festhalte: Ich habe verdammtes Glück heute.
Wirklich, verdammtes Glück.
Ich war überall zur richtigen Zeit am richtigen Ort.
Habe zu jedem Zeitpunkt die richtige Entscheidung getroffen, zumindest, wenn es drauf ankam.
Und auch für den besten aller Fernblicke auf der heutigen Wanderung hätte es keine passendere Zeit geben können.

Wenig später ist das Licht verschwunden und die Umgebung wieder fahlgrau. Aber es kümmert mich nicht mehr. Ich merke, wie ich mich innerlich zurücklehne. Der Pfad hat mir gegeben, was möglich war, und er ist auch ohne verschwenderisches Sonnenlicht ganz schön.
Am Wegrand von Zeit zu Zeit noch ein paar Felsen, auch die Hänge zu beiden Seiten mit Steinen und kleinen Büschen zwischen den Bäumen sind ganz nett anzuschauen.
Anstiege gibt es so gut wie überhaupt nicht mehr, und wenn, dann habe ich sie schon hinter mir, ehe ich überhaupt so richtig merke, dass es bergauf geht.
Der Wind kommt mal aus dieser Richtung, mal aus jener. Manchmal treibt er mich vorwärts, manchmal muss ich dagegen ankämpfen.

Irgendwann bin ich wieder ganz unten im Tal.
Von der Merkurbergbahn bin ich noch rund zwei Kilometer entfernt. Weite Strecken habe ich heute wirklich nicht zurückgelegt, aber durch die Sucherei nach dem Wandersymbol beim Alten Schloss kommt mir die Tour länger vor, als sie tatsächlich ist.

Der Rest der Wanderung führt über mal mehr, mal weniger ansehnliche Spazierwege.
Einen Aussichtspunkt mit der Bezeichnung Teufelskanzel gibt es noch, aber der hält dem Vergleich mit den Aussichtspunkten von vorhin nicht stand.
Ganz zum Schluss kommt dann sogar wieder die Sonne hinter den Wolken hervor, und als ich schließlich bei der Merkurbergbahn eintreffe, wölbt sich ein beinahe gleißend heller Nachmittagshimmel über der Stadt.
Fast könnte man meinen, der Frühling habe Einzug gehalten.

 

 

Noch eine Märztour:

Tour 33 BHF Mettlach – Burg Montclair – Cloefpfad

Es ist zunächst nicht mehr als ein verlorener, heller,

glänzender Punkt irgendwo vor mir.

Eine ganze Weile gehe ich darauf zu, ohne ihm wirklich

näherzukommen.

Es ist kein Gedanke mehr in mir außer diesem: Ich darf

nicht stehenbleiben, nicht einen einzigen Atemzug lang.

Ich habe das Gefühl,…    weiterlesen      Bildergalerie

6 Comments

  • Sylban

    Endlich mal wieder ein Irrweg, das habe ich schon vermisst. Ist der Weg teilweise tatsächlich so schlecht ausgeschildert, oder woran lag es?
    Wieder eine sehr gelungene Schilderung, wobei Schilderung natürlich kein wirklich zutreffender Begriff ist.

    Gruß,
    Sylban

    • gorm

      Vielen Dank für den Kommentar.:-)
      Ich glaube, der Irrweg lag weniger an der Beschilderung, als vielmehr daran, dass ich nicht richtig aufgepasst habe. Aber im Nachhinein war es sogar gut, dass ich anders gegangen bin als geplant, sonst hätte ich einige tolle Passagen verpasst.

      Beste Grüße
      Torsten

  • Mata

    Das ist jetzt die 63. Tour und jede ist schön und spannend zu lesen. Ich hoffe, dass du den Blog noch sehr lange weiterführst. Diesmal haben mich einmal mehr die Kontraste angesprochen, die du ja oft reinbringst – erst das trübe Wetter, dann doch Sonne, erst der farblose Wald, dann diese tolle Aussicht.

    Grüße, Mata

    • gorm

      Oft leben gerade längere Wanderungen ja irgendwie auch von Kontrasten bzw. von Eindrücken unterschiedlichster Art. Dabei lasse ich ja sogar noch einiges weg. Freut mich sehr, dass der Blog dir so gefällt.:-)

      Beste Grüße
      Torsten

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