TOUR 52: NECKARGEMÜND – BURGFESTE DILSBERG – NECKARSTEINACH
Man muss warten können.
Wenn man geht, von einem Punkt, von einem Ort zum nächsten, gleichgültig, ob schnell oder langsam und wie weit auch immer, dann muss man warten können.
Es muss ein erwartungsloses Warten sein, eines, das nicht zwanghaft darauf ausgerichtet ist, einen bestimmten Zustand, eine bestimmte Empfindung zu erleben oder darauf, dass Antworten auf Fragen, die einem selbst nicht einmal bewusst waren, plötzlich in Flammenschrift am Himmel stehen.
Manchmal geht man und geht und geht und geht, aber es tut sich nichts, als dass man einfach von einem Punkt A zu einem Punkt B gelangt.
Manchmal aber ist irgendwann während des Gehens mit einem Mal etwas gegenwärtig, das sich nach Vollkommenheit anfühlt, nach einem Moment – oder einer Aneinanderreihung vieler Momente – wunschloser Zufriedenheit, wunschlosen Seins.
Dazwischen gibt es Nuancen über Nuancen, so zahlreich und so unterschiedlich wie die Pfade und Wege selbst, die ich gegangen bin.
Man muss warten können.
Darauf, was dieser eine Weg, den man gerade geht, bereithält.
Es ist heiß, als ich in Neckargemünd ankomme. Ein paar Wattewölkchen, sonst ein eisvogelfittichblauer Himmel, so weit das Auge reicht. Die Dünung des Sommertagslichts rollt hell und schimmernd über die Dächer hinweg, strömt über die sattgrünen Hügel, durch die fast schattenlosen Straßen. Ein schwacher Lufthauch, der sofort wieder verebbt, dann windstille, schwerfällige Mittagshitze.
Ich habe noch Zeit.
Jana, meine heutige Wanderpartnerin, wird erst in ungefähr 40 Minuten eintreffen.
Ich könnte zum Neckar hinuntergehen, mehr als ein paar Schritte wären das nicht, und am Wasser ist es wahrscheinlich deutlich angenehmer als in der drückenden Hitze auf dem Bahnsteig.
Irgendwo hier im Ort gibt es aber auch eine Burgruine und obwohl der Weg zu einer solchen Ruine nahezu qua Naturgesetz steil den Berg hinaufführt, reizt sie mich im Moment mehr als der Fluss, denn den kenne ich schon und vor allem werden wir ihn im Verlauf unserer heutigen Wanderung ohnehin zu Gesicht bekommen.
Sehr rasch stellt sich heraus, dass der Weg zu der Burgruine nicht wirklich weit ist. Ich bin kaum zweihundert Meter vom Bahnhof weg, da entdecke ich am Straßenrand auch schon ein Schild, das auf die Burg hinweist.
Natürlich geht es wirklich den Berg hinauf, war ja nicht anders zu erwarten. Ich laufe an Mauerresten vorüber, von denen aber vermutlich die wenigsten dieser Burg zuzurechnen sind, sondern irgendwelchen deutlich später entstandenen und wieder verfallenen Gebäuden.
Kein Wunder, denn die Burg selbst scheint bereits Mitte des 14. Jahrhunderts zerstört worden zu sein, jedenfalls datiert aus dieser Zeit ihre letzte bekannte urkundliche Erwähnung.
Der Weg zur Ruine mag bergan führen, aber immerhin komme ich in den Genuss eines schmalen Schattenpfades, dessen angenehme Kühle ich erst so richtig zu schätzen weiß, als ich auf dem Weg zurück zum Bahnsteig wieder der prallen Sonne ausgesetzt bin.
Aus der Ferne kann ich auch schon mal einen ersten Blick auf unser heutiges Ziel werfen, die Burgfeste Dilsberg. Von weitem betrachtet wirkt sie wie ein Dorf in den Wolken, mit einem Hauch beinahe märchenhafter Unwirklichkeit. Ich bin gespannt, was davon übrigbleibt, wenn wir erst einmal dort sind.
Nach Janas Ankunft machen wir uns nicht sofort auf den Weg, sondern wandern erst einmal durch schmale Gassen zum Neckar hinunter. Ein leichter Wind streicht über das Wasser hinweg.
Als wir wenig später durch ein Wohngebiet bergauf laufen, ist von einem kühlenden Luftzug nichts mehr zu spüren. Optisch jedoch ist das Sommergemälde, durch das wir uns bewegen, ein Genuss. Und es wird noch besser – noch sehr viel besser -, als wir die Stadt hinter uns haben und plötzlich umgeben sind von hellem Laubgrün.
Über uns in den wiegenden, knarrenden, flüsternden Wipfeln grelle Lichtblitze, zwischen den Stämmen ein dünner Schattenvorhang.
Der Weg führt eine ganze Weile steil hügelaufwärts.
Nirgends der kleinste Fleck Grau in all dem Grün.
Die Mittagssonne leuchtet wie von tausend Spiegeln reflektiert aus allen möglichen Richtungen.
Und der Sommermittag bringt eine besondere, wie tief aus der Erde und zwischen den Wurzeln der Bäume hervortretende Stille mit sich.
Dann stehen wir an einem Aussichtspunkt hoch über dem Neckar.
Weißes, klares Licht.
Der Fluss trägt den Blick.
Der felsige Abhang unmittelbar vor uns hält ihn nicht, und über die Hügel am jenseitigen Ufer mit den lichten Baumgruppen und den kleinen Wiesen und dem Leinpfad gleitet er ohne innezuhalten hinweg und kehrt wieder zurück zum Zentrum, zum Fluss.
Auch von hier aus kann man übrigens die Burgfeste sehen.
Seltsamerweise scheint es, als seien wir ihr noch keinen einzigen Meter nähergekommen.
Wir wandern weiter.
Der Pfad führt beinahe schnurgerade bergan.
Die Schattierungen des Waldgrüns wechseln mit dem Spiel des Lichts in den Ästen, auf den Blättern, in den Baumkronen.
Den Wegweisern nach zu urteilen gibt es mehr als eine Möglichkeit, auf einem Wanderweg nach Dilsberg zu gelangen, aber wir bleiben die ganze Zeit auf dem Neckarsteig.
Der Pfad führt immer noch bergan.
Mich würde es nicht wundern, wenn wir uns mittlerweile schon oberhalb des Höhenlevels befänden, auf dem die Burgfeste liegt.
Wahrscheinlich werden wir später erst mal wieder ein Stück ins Tal hinunterlaufen, nur um zur Burgfeste dann wieder bergauf wandern zu können.
Und genau so kommt es auch.
Also eine Strecke für Wanderanfänger oder Couchpotatoes, die sich zwischendurch dann doch mal zu einer Wanderung aufraffen, ist das ganz bestimmt nicht.
Aber schön ist es hier, sehr schön sogar.
Wir kommen am Tillystein vorüber.
Der Blutrausch des Dreißigjährigen Krieges hat auch die Gegend um „Heydelberg“ herum nicht verschont. Am 5. April des Jahres 1622 nahm Tilly als Feldherr der Katholischen Liga „mit stürmender Hand“ und „ohne Barmherzigkeit“ Neckargemünd und andere Städte der Umgebung ein und ließ auch die Burgfeste Dilsberg beschießen.
Der Pfad wird nun schmal wie ein Rinnsal, fließt in ganz leichten Windungen dahin, trägt uns über eine Anhöhe hinweg, ehe daraus so etwas wie ein breites, ausgetrocknetes Bachbett mit flachen Steinen wird.
Und dann wandern wir tatsächlich zum allerersten Mal an diesem Tag nicht mehr bergauf, sondern bergab. Und zwar ziemlich steil bergab.
Zwischen den Bäumen hindurch erblicken wir zum ich weiß nicht wievielten Mal die Burgfeste. Wir sind ihr jetzt so nahe, dass ich den Eindruck habe, ich könne ganz bequem den Arm ausstrecken und sie von ihrem Hügel herunterpflücken.
Aber das täuscht.
Der Weg führt immer weiter bergab, wieder weg von der Burgfeste, tief hinunter in ein malerisches kleines Tal, in dem nadelfeine Lichtstrahlen über die Blattspitzen und die miteinander verwobenen Zweige kleiner Bäume und Sträucher huschen.
Stehenbleiben, betrachten und wirken lassen!
Nicht zum ersten Mal heute.
Dann geht es doch wieder den Berg hinauf.
Erst einen kurzen giftigen Anstieg, bei dem die Beine sich innerhalb von Sekunden anfühlen, als würde man durch kniehohen Morast waten, und nach einer kurzen Passage über einen breiten, komfortablen Waldweg müssen wir dann noch ein paar hundert Meter eine stetig ansteigende, aber nicht besonders steile Straße hinaufstapfen, bis wir endlich vor dem Stadttor stehen.
Schon unterwegs hatte ich den Gedanken, dass es großartig sein müsste, die Burgfeste aus der Vogelperspektive zu betrachten. Der Gedanke kommt mir jetzt wieder und Jana geht es ähnlich.
Allerdings können wir uns auch über den Blick von der Bank am Rande der Stadtmauer hinab ins Tal nicht beschweren.
Unter dem flimmernden Blau des Himmels schauen wir auf das stille Grün der Hügel, das immer mehr verblasst, je weiter man den Blick in die Ferne richtet, und das sich schließlich am milchigen, wolkenweißen Rand des Horizonts verliert.
Eine Stunde lang streifen wir danach kreuz und quer, auf und ab, hin und her durch Gassen, in die ich in der Tracht eines Landsknechts und mit einer Arkebuse auf der Schulter besser passen würde als mit Rucksack und Wanderschuhen.
Jana kennt die Burgfeste ja bereits und erzählt von einem Stollen irgendwo in der Nähe der Hauptburg. Leider ist beides – Stollen wie auch Hauptburg – geschlossen. Es ist halb sieben am Abend und ein Werktag, das dürfte die Erklärung dafür sein.
Wir spazieren durch den Burgpark, laufen auf einem fußschmalen Pfad an der Burgmauer entlang und schauen uns wirklich jeden kleinsten einsehbaren Winkel an.
Als wir uns dann auf den Weg hinab nach Neckarsteinach machen, sind die Schatten im Wald schon beinahe nachtschwarz. Jenseits der dunklen Wipfel und Stämme brennt die Abendsonne aber noch immer, als hätte jemand den Himmel in Brand gesteckt.
Das Herz des Waldes schlägt langsamer.
Über die Steine am Wegrand, über das blassgrüne Moos weht der ruhige Atem der Dämmerung. Vor unseren Füßen wird der Pfad mit beinahe jedem Schritt dunkler.
Von Dilsberg nach Neckarsteinach führt der Weg nur noch bergab.
Aus dem Wald heraus gelangen wir auf einen Pfad, der am Neckarufer entlangführt, links in Richtung Neckargemünd und Heidelberg, rechts in Richtung Hirschhorn.
Über dem Fluss liegt ein schönes abendliches Licht. Das Städtchen schlummert still und friedlich am Fuße der Hügel.
Wir laufen über die Schleusenbrücke ans jenseitige Neckarufer hinüber.
Ziellinie.
Der Rest der Wanderung besteht dann lediglich noch in einem Spaziergang durch die Straßen Neckarsteinachs und der Suche nach einem Restaurant.
Noch eine Maiwanderung:
Tour 38 Von Worms nach Osthofen
Es ist wieder eine dieser Touren, die ich mittle rweile so be-
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bei der sich mir… weiterlesen Bildergalerie
2 Comments
Jana
Diese Wanderung mit dir hat mir großen Spaß gemacht, lieber Torsten, und es war mir eine Freude, dir die Gegend hier zu zeigen. Der Anstieg war nicht ganz einfach, aber wir wurden dann ja mit herrlichen Ausblicken belohnt. Sehr schön hast du alles in deinem wunderbaren Schreibstil beschrieben, das Lesen war – wie stets – ein Genuss für mich!
Tja, und nun wartet die Margaretenschlucht auf uns. Wann gehen wir sie an?
Liebe Grüße
Jana
gorm
Vielen Dank, liebe Jana.
Obwohl die Tour ja gar nicht mal so lang war, hatte sie doch einiges an Abwechslung zu bieten. Wir hatten den Fluss, wir hatten tollen Wald, wir hatten großartige Fernblicke übers Neckartal und wir hatten natürlich die sehenswerte Burgfeste Dilsberg, in der es nicht schwerfällt, sich ins Mittelalter zurückversetzt zu fühlen. Und es hat natürlich riesigen Spaß gemacht, mit dir zusammen zu wandern.:-)
Wann wir die Margaretenschlucht angehen, das können wir ja noch in aller Ruhe besprechen. Auch die ist ja Teil des Neckarsteigs, genau wie der Wanderweg, auf dem wir diesmal unterwegs waren.
Liebe Grüße
Torsten