TOUR 69 – VON BALDUINSTEIN NACH OBERNHOF, 1. TEIL
Erster Tag.
Wir brechen spät auf zu dieser Wanderung, erst gegen halb vier Uhr am Nachmittag.
Der Sommer steht unmittelbar bevor und in den Straßen ist es drückend wie in einer Waschküche des frühen 20. Jahrhunderts.
Der Himmel ist ein Block aus weißem Licht, weit und hoch. Später wird immer mehr und immer dunkleres Blau sich darüber ausbreiten, fast schon eine Ahnung von Spätsommer mit sich bringend, aber es wird die ganze Zeit warm und trocken bleiben und erst irgendwann am Abend, kurz nach Sonnenuntergang, wird der Himmel plötzlich wie ein glatter, grauer Steinboden sein.
Jana, mit der ich auch heute wieder unterwegs bin, kennt die Gegend genauso wenig wie ich, was unsere Vorfreude und unsere Neugier aber nur steigert.
Ursprünglich hatten wir vorgehabt, unsere zweitägige Tour in Diez an der Lahn zu beginnen, jetzt ist es eben Balduinstein geworden.
Der erste Eindruck setzt sich aus mehreren kleinen Details zusammen, die aber alle auf das Gleiche hinauslaufen – nämlich darauf, dass man sich hier ganz am Rande des Geschehens befindet. Was ja für eine Wanderung nicht die schlechteste Voraussetzung darstellt.
Balduinstein hat keine 600 Einwohner.
Alles sieht irgendwie verschlossen und leer aus.
Wir wandern eine hübsche kleine Straße hinunter bis zu einer Kreuzung und übersehen erst einmal einen Wegweiser.
Bevor jedoch auch nur der Gedanke daran aufkommen kann, dass dies wie schon ein paarmal zuvor eine Kette falscher Entscheidungen nach sich zieht, sind wir schon wieder zurück auf dem richtigen Weg.
„Mittelschwer“ hieß es in der Wegbeschreibung, die wir uns vorher zu Gemüte geführt haben.
Okay, dann muss man sicher mit ein paar Steigungen rechnen. An den Rand der Erschöpfung allerdings dürften wir heute wohl kaum geraten.
Wir traben gemächlich an einer kleinen Kirche vorüber und rätseln dabei darüber, ob die Ruine der Burg Balduinstein, die am Ende der Straße über die Hausdächer hinausragt, auf unserem Weg liegt.
Eher nicht, denn kurz hinter der Kirche biegen wir im rechten Winkel ab und laufen eine dieser eng zwischen Terrassen und kleinen Gärten hindurchführenden Treppen hinauf, bei denen man den Eindruck nicht abschütteln kann, den Anwohnern mitten durchs Wohnzimmer zu laufen.
Nach dreißig oder vierzig Stufen finden wir uns am Beginn eines fast völlig zugewucherten Pfades wieder. Wir sind umgeben von flackerndem Grün, das an den Blatträndern mit dem hellen Glanz weißen Lichts verschmilzt.
Wir wandern langsam bergan.
Eine Weile bleibt der Pfad ganz schmal.
Von Zeit zu Zeit Wurzeln, die im schimmernden, vom Blattwerk gedämpften Nachmittagslicht bei flüchtigem Hinsehen fast lebendig wirken.
Stämme, so hell, dass sie gar keine richtige Silhouette mehr sind, sondern lediglich etwas dunklere Linien in einem Meer aus sprühendem Grün.
Nach einer Weile wird der Wald lichter und die Böschungen zu beiden Seiten flachen etwas ab, so dass der Pfad breiter erscheint, als er wirklich ist.
Keine Minute später können wir plötzlich über die Baumwipfel hinweg bis zu einem Punkt schauen, an dem eine scharf gezeichnete Hügelkette das Blickfeld abschließt. Das heißt, wenn man ganz genau hinschaut, dann erkennt man jenseits dieser einen exakt begrenzten Hügelkette noch eine zweite, kaum sichtbare, die nicht mehr ist als ein so gut wie nicht vorhandener Umriss im Dunst.
Unten ins Tal hineingekegelt eine Ansammlung von Spielzeughäusern, so nahe, als müsse man einfach nur die Hand ausstrecken und sie wegpflücken.
Ein ferner Horizont, der sich immer noch mehr zu entfernen scheint, je länger man hinschaut.
Der Lahnwanderweg ist insgesamt fast 300 Kilometer lang. Davon haben wir jetzt gerade einmal zwei Kilometer zurückgelegt. Aber schon fühlen wir uns hier so heimisch, als hätten wir die Pfade mit eigener Hand angelegt.
Solange wir uns im Wald befinden, haben wir trotz der grellen Sonne über den Baumspitzen oft den Eindruck, als würde der Tag allmählich schon verblassen, was natürlich nicht der Fall ist, denn es ist ja noch nicht einmal fünf Uhr nachmittags.
Der erste von vielen Wiesenpfaden.
Am Wegrand wuchern und blühen Blumen in allen Farben, das Gras steht meterhoch und wiegt sich in einem gerade eben noch spürbaren Wind, alles ist im Fluss, alles in Bewegung, aber wenn wir unser Blickfeld erweitern, dann hört die Bewegung auf, die Luft scheint stillzustehen, wir sehen glatte Wiesen und Hügel, angeordnet wie in einem Landschaftsgarten, helles Grün wechselt mit dunklem Grün und mit noch dunklerem Grün.
Unsere Blicke bleiben an der idyllisch wie archaisch zugleich wirkenden Fassade von Schloss Schaumburg hängen, das gar nicht mal so weit entfernt auf einer niedrigen Kuppe steht. Zwar wirkt das Schloss verlassen wie eine seit Jahrzehnten aufgegebene Antarktisstation, aber wie eine Ruine sieht es, zumindest aus der Entfernung, ganz und gar nicht aus.
Wie üblich hat sich das Erscheinungsbild der Schaumburg im Laufe der Jahrhunderte so häufig gewandelt, dass es sich im Grunde genommen nicht nur um ein Bauwerk, sondern um mehrere verschiedene aufeinanderfolgende Bauwerke handelt, denn von der ursprünglichen, vermutlich im 10. Jahrhundert errichteten Höhenburg hat nicht einmal ein einziger Mauerstein überdauert.
Der Pfad führt uns noch ein paar Minuten weiter am Waldrand entlang, steigt nach und nach immer mehr an, und dabei bewegen wir uns beinahe unmerklich in eine stille, ländliche Abgeschiedenheit hinein.
Auf einer Wiese landwirtschaftliche Gerätschaften, die zwar verdammt neu aussehen, aber irgendwie auch so, als ob sie hier schon seit Generationen ungenutzt herumlägen.
Ein paar Schritte davon entfernt im ungemähten Gras eine sich allmählich in ihre Bestandteile auflösende Scheune.
Ganz nahe, hinter einer Baumgruppe, ein paar hingestreute Häuser, jenseits davon kleine Hügelwellen.
Immer wieder diese Wiesenpfade.
Oft sind sie schmal wie eine Naht und von Gestrüpp gesäumt, manchmal sind es breite, holprige Schneisen, manchmal führen sie eine kleine Anhöhe hinauf und scheinen unmittelbar dahinter ins Nichts zu kippen.
Dann ist da mit einem Mal nur noch eine weite Ebene unter einem Himmel, der immer tiefer herabsinkt.
Ein einzeln stehender Baum, verankert im Nichts.
Wolkenweißer Horizont.
Keine Begrenzung.
Ein uferloser See aus Gras.
Für die Dauer eines flüchtigen Gedankens kommt man sich vor wie in einer Prärie in South Dakota oder sonstwo in Nordamerika.
Auf den Wegweisern, die in erfreulich regelmäßigen Abständen aufeinanderfolgen, wird seit einiger Zeit ein Aussichtspunkt angekündigt. Wir haben keine Ahnung, ob er direkt am Weg liegt oder ob wir, um dorthin zu gelangen, ein paar hundert Meter vom Hauptpfad abweichen müssen. Nur eins wissen wir sicher – dass wir diesen Aussichtspunkt auf keinen Fall versäumen wollen.
Erst einmal führt der Pfad aber wieder in den Wald hinein.
Unter den Bäumen ist es um einiges kühler und damit auch angenehmer als außerhalb des Waldes. Wie es scheint, hat es hier in den letzten Tagen sogar geregnet. An vielen Stellen folgt eine Pfütze auf die andere, in den Baumschatten ist die Erde rutschig und feucht.
Am Wegrand ein riesiges Hinweisschild: „Naturschutzgebiet Gabelstein-Hölloch“.
Dort, wo der Wald urwüchsig und dicht ist, mit knorrigen großen Bäumen und schattenfleckigem Moos, verliert das Licht bereits seinen Glanz. Ab und zu ein Flimmern in den Augenwinkeln, wie Funken bei einem Kaminfeuer, kaum länger als eine Sekunde und beinahe zu flüchtig, um überhaupt als existent wahrgenommen zu werden.
Wenn man bedenkt, dass wir erst vier oder fünf Kilometer unterwegs sind, dann muss man sagen, dass wir in Relation zu der kurzen Strecke schon erstaunlich viel Unterschiedliches gesehen haben. Unterschiedliches und Schönes.
Man muss beileibe nicht 50 oder noch mehr Kilometer laufen, laufen, laufen, um genug Eindrücke zusammenzubekommen. Irgendwann kommt ohnehin der Punkt, an dem der Verstand dichtmacht, weil er einfach nichts mehr Neues aufnehmen kann. Oder weil man genug gesehen hat und überhaupt kein Bedürfnis mehr danach verspürt, immer noch weitere Wahrnehmungsschnipsel zu sammeln.
Kurz und gut: Wenn es ums Betrachten geht bzw. um das Gefühl, im gegenwärtigen Augenblick verankert zu sein, dann ist auch beim Wandern weniger oft mehr.
Es stellt sich heraus, dass wir, um zu jenem Aussichtspunkt zu gelangen, tatsächlich vom Lahnwanderweg abbiegen müssen. Aber wir machen kaum 200 Schritte, da stehen wir auch schon am Rand eines klippenartigen Vorsprungs.
Ganz vorne, beinahe unmittelbar am Rande des Abgrunds, eine Bank.
Okay, so verwegen oder eher unvorsichtig sind wir beide nicht, uns genügt der Ausblick aus der Schutzhütte, die zwar auch direkt am Abgrund platziert ist, aber wenigstens ein Geländer hat.
Unter uns die Lahn, eine in der Sommersonne blinkende Sichel, von Wiesen und Bäumen gesäumt, alles klar voneinander abgegrenzt wie bei einem gut instandgehaltenen Park. Wenn man in die Weite blickt, hat man den Eindruck, dass hier nichts gegeneinander arbeitet.
Bis zu dem Punkt, an dem ein paar lässig hindrapierte Hügel und die Kante des Himmels sich zur Horizontlinie vereinen, wirkt alles wie eine Einheit aus genau aufeinander abgestimmten Details.
Warten.
Auf nichts Bestimmtes.
Ein Moment folgt auf den nächsten und man wird immer gelassener.
So gelassen, als befände man sich auf einem Planeten, auf dem die Zeit tausendmal langsamer vergeht.
Immer wieder folgt der Blick dem Lauf des Flusses, gleitet die Hügelkämme entlang, verharrt auf einem Punkt, kehrt wieder zurück zum Fluss.
Dieser Aussichtspunkt ist so etwas wie die innere Mitte der heutigen Wanderung, das, worauf sich im Rückblick alles an diesem ersten Tag irgendwie zu beziehen, um das herum es sich zu gruppieren scheint.
Man muss manchmal gar nicht viel tun.
Außer zu den Dingen hinzugehen und nicht darauf zu warten, dass sie von selbst kommen oder vom Himmel fallen.
Sich Zeit nehmen, das gehört natürlich auch dazu.
Sich Zeit nehmen für das Gehen, aber dann auch beim Gehen.
So wenig wie Unterwegssein unaufhörliches, gehetztes Vorankommen bedeuten muss, so wenig ist Innehalten immer und überall mit Nichtstun gleichzusetzen. Und mit verschwendeter Zeit schon gar nicht.
Dabei ahnen wir zu diesem Zeitpunkt natürlich noch nicht, dass die Passage, welche letztlich die gesamte Tour prägen und auf eine neue Stufe heben wird, erst am zweiten Tag auf uns wartet.
Wir kehren auf den Lahnwanderweg zurück.
Es geht allmählich auf 19 Uhr zu. Kein Wunder, wir sind ja auch erst spät am Tag losgewandert und die meiste Zeit so langsam gegangen, dass wir während des Gehens problemlos ein randvolles Wasserglas auf der Nasenspitze hätten balancieren können, ohne etwas zu verschütten.
Der allmählich hereinbrechende Abend bringt einen dünnen, matten Glanz mit sich. Kühler wird es aber nicht. Es ist ohnehin eher die hohe Luftfeuchtigkeit, die unangenehm ist. Eine Viertelstunde zügiges Gehen und man kommt sich vor, als sei man stundenlang im Nieselregen herumgelaufen.
Was den Streckenverlauf betrifft, wäre es uns nicht unrecht, wenn wir jetzt bis zu unserem Etappenziel Laurenburg ganz entspannt auf einem fensterbrettflachen Pfad dahinwandern könnten.
Aber es kommt natürlich anders.
Kurz vor Laurenburg hat man noch eine nette Steigung hineingepackt, und damit es sich auch wirklich lohnt, laufen wir vorher über Serpentinen, die ausschlagen wie Amplituden bei einem Seismogramm, wieder bis ins Tal hinab.
Unten eine Landstraße, die wir unmittelbar vor einer so gut wie überhaupt nicht einsehbaren Kurve überqueren müssen.
Dahinter dann sofort wieder Wald.
Ein paar Holzstufen wie aus der Zeit der Steinschlossflinten und geheimen Wilderersteige, unregelmäßiger angeordnet als Kiesel in einem Bachbett.
Danach wieder so ein fußbreiter oder vielmehr fußschmaler Pfad, links und rechts steile Böschungen, manche der Bäume am Wegrand kaum dicker als Nähnadeln.
In einer Kurve laufen wir dann an etwas vorüber, was ich bisher bewusst auf einem Wanderpfad noch nie wahrgenommen habe, nämlich an einer Stempelstelle. Ich wäre auch jetzt achtlos daran vorübergewandert, wenn Jana mich nicht darauf aufmerksam gemacht hätte.
Zuerst bringe ich das Ding mit der unübersehbar an einer Mauer angebrachten Jakobsmuschel in Verbindung, aber da steht eindeutig „Stempelstelle Lahnwanderweg“.
Okay, es handelt sich ja schließlich auch um einen Fernwanderweg, der vom Rande des Rothaargebirges in 19 Etappen bis fast zum Deutschen Eck führt, da lässt sich kaum behaupten, dass Stempelstellen vollkommen unsinnig seien. Wobei ich mir allerdings noch nie Gedanken darüber gemacht habe, wer solche Stempelstellen warum und auf welchen Wanderwegen nutzt.
Nach diesem Anstieg wandern wir ruhig am Waldrand hin. Es ist ungefähr so, als würden wir uns in einem Boot mit eingezogenen Rudern von einer ganz leichten Strömung treiben lassen.
Der Himmel ist dunkelblau wie das Licht eines Sees in vierzig Metern Tiefe. Es ist ein abendliches Blau, angereichert mit einer Ahnung von Dämmerung.
In den wandernden Schatten, den verborgenen, versteckten Winkeln tief im Wald nistet schon eine samtene Dunkelheit, die der flimmernden Schwärze hinter geschlossenen Augenlidern ähnelt.
Der letzte Kilometer bis zum Bahnsteig in Laurenburg ist dann nur noch ein lockeres Bergabtraben ohne irgendeine Spur von Anstrengung.
Es ist nicht übertrieben zu sagen, dass heute alles gepasst hat.
Was will man mehr.
Und am zweiten Tag unserer Tour wird das nicht wesentlich anders sein.
Noch eine Tour:
Tour 66 Von Idar-Oberstein über den Hildegardweg & den Kupfer-Jaspis-Pfad nach Fischbach
Es gibt Wanderungen, bei denen buchstäblich vom ersten
Schritt an eine unbändige und durch so gut wie nichts zu
beeinträchtigende Freude vom Kopf bis hinunter in die
Zehenspitzen pulsiert.
Es ist, als sei irgendwo im Körper ein Mechanismus in
Gang gesetzt worden, der für einen ununterbrochenen
Nachschub an… weiterlesen Bildergalerie
4 Comments
Sylban
Toller Text wieder und sehr schöne Fotos, die das Ganze hervorragend abrunden. Scheint eine kurze, aber sehr gute Wanderung gewesen zu sein. War die Ausschilderung nicht so gut, wenn ihr euch gleich am Anfang verlaufen habt?
Gruß,
Sylban
gorm
Danke für die positive Resonanz, freut mich sehr.:-)
Die Ausschilderung war absolut in Ordnung, vom ersten bis zum letzten Meter. Der Umweg kam dadurch zustande, dass an dieser einen Stelle ganz am Anfang das Wanderwegsymbol an einer etwas versteckten Stelle angebracht war.
Beste Grüße Torsten
Jana
Diesmal hattest du ja diese beiden Etappen auf dem Lahnwanderweg ausgesucht – eine gute Entscheidung! So einen schönen, abwechslungsreichen Weg bin ich schon länger nicht mehr gegangen. So oft blieben wir stehen und ließen einfach nur die Landschaft auf uns wirken. Ich sehe gerade diese tollen Wiesenpfade vor meinem geistigen Auge. Das Highlight bei dieser Etappe war zweifelsohne der fantastische Ausblick vom Aussichtspunkt Gabelstein. (Was uns am Ende der zweiten Etappe erwartete, war auch nicht von schlechten Eltern – jesses!)
Danke für diese wunderbare Beschreibung unserer Tour, lieber Torsten.
Liebe Grüße
Jana
gorm
Ja, es war eine wunderbare Tour, liebe Jana. Es hat sich wieder einmal bestätigt, dass eine Wanderung nicht megalang sein muss, um viel zu bieten. Wir hatten die von dir erwähnten Wiesenpfade, wir hatten jede Menge Wald, wir hatten den Aussichtspunkt Gabelstein, und das alles ergab insgesamt einen guten Mix unterschiedlicher Landschaftsformen. Eine gewisse angenehme Abgeschiedenheit kam dann noch hinzu. Höchstens liefen wir mal an winzigen Dörfern vorüber, die alle nur ein paar hundert Einwohner hatten.
Das Highlight der beiden Tage kam dann am zweiten Tag und war für uns beide sehr überraschend.:-)
Liebe Grüße
Torsten