TOUR 51: ST. WENDEL – SKULPTURENSTRAßE – RÖTELSTEINPFAD – BOSTALSEE
Es ist das Beständige am Gehen, das erst die Veränderung schafft, und je länger man unterwegs ist, je steter, desto mehr Unterschiedliches bekommt man zu sehen. Und im Laufe der Zeit – über die Wochen, Monate und Jahre hinweg – sammeln sich wie Wolken an einem regnerischen Abendhimmel die inneren Bilder an, mehr und immer mehr. Viele davon lassen sich auch nach langer Zeit noch exakt zuordnen, viele sind verknüpft mit der Erinnerung an eine ganz bestimmte Empfindung, von anderen ist beinahe nur noch eine Empfindung übriggeblieben. Manche leuchten fort wie Eiskristalle im Mondlicht, andere verblassen wie alte Scharzweißfotografien.
Und so kommt es, dass Landkarten mittlerweile nicht mehr nur eine Ansammlung bekannter und unbekannter Orten sind, sondern zugleich Skizzen der eigenen Erinnerungslandschaften.
Von der ersten bis zur letzten Minute meiner heutigen Wanderung, also von dem Moment an, als ich in St. Wendel aus dem Zug auf den Bahnsteig trete, bis zu dem Augenblick, als ich mit einer Unmenge an Eindrücken in dem kleinen Ort Türkismühle wieder in den Zug steige, brennt und glüht die Sonne vom Himmel, als wäre es Juni oder Juli und nicht Ende April.
Samstag halb neun.
In den Straßen von St. Wendel könnte man auf dem Mittelstreifen ungestört ein Nickerchen machen. In die Menge eintauchen, sich im Strom der Masse mittreiben lassen, nicht heute Morgen.
Vom Bahnhof aus laufe ich auf einem kleinen Umweg erst einmal zur Wendalinusbasilika.
Über den Dächern ein helles sphärisches Licht und ein tiefes Blau von Horizont zu Horizont.
So kann es bleiben.
Denn in Anbetracht der doch immerhin ca. 50 Kilometer, die ich vor mir habe, wäre es wenig angenehm, wenn es plötzlich beginnen würde, Katzen und Hunde zu regnen.
Mein Besuch im Dom fällt recht kurz aus.
Das Grabmal des heiligen Wendelin ist ein Blickfang und ebenso die von dem berühmten spätmittelalterlichen Philosophen und Theologen Nikolaus von Kues gestiftete Kanzel, vermutlich die zweitälteste Steinkanzel Deutschlands.
Es ist fast ganz still.
Die Außengeräusche dringen nur wie ein fernes Gemurmel bis zu mir. Die schmalen, hohen Kirchenfenster lassen nicht mehr als ein ganz mattes, kühles, von Schatten durchwirktes Licht zu.
In die Stille hinein beginnt monotoner Mönchsgesang, die Stimmen füllen das Gewölbe an, hallen wider von den steinernen, kalten Mauern, verebben dann.
Ich bin eigentlich noch gar nicht so richtig losgegangen und schon habe ich das erste erinnernswerte Erlebnis.
Mein erstes Bestreben menem Besuch in der Basilika ist das Auffinden des Wandersymbols, an dem ich mich für die nächsten ungefähr fünfzehn Kilometer orientieren will.
Zunächst möchte ich ja auf der Straße der Skulpturen unterwegs sein, einem schon 1971 ins Leben gerufenen Projekt, das seitdem ständig erweitert wurde. Irgendwo im Gelände, so schwebt mir vor, biege ich dann auf den Rötelsteinpfad ab, um danach dann wieder auf den Skulpturenweg zurückzukehren und bis zum Bostalsee weiterzuwandern.
In mir ist so eine Ahnung, dass es wie schon so oft auch diesmal nicht so reibungslos ablaufen wird wie geplant.
Das gesuchte Wandersymbol entdecke ich jedoch, kaum dass ich die Fußgängerzone verlassen habe.
Ich biege in eine Nebenstraße ein und drehe dann eine Runde im Stadtpark, wo ich auf die ersten Skulpturen stoße.
Das Wandersymbol dagegen löst sich fürs Erste unauffindbar in Nichts auf. Ich entdecke es erst eine gute halbe Stunde später wieder an einer Straßenkreuzung schon fast am Rande der Stadt.
Der Tag ist mittlerweile ein in Farben und Licht umgewandelter Sinneseindruck von Wohlbefinden. Es ist endgültig vorbei mit dem verschlissenen Grün, dem staubigen Grau. Sogar die Baumschatten wirken so hell und leicht, als könnten sie jeden Moment davonflattern.
Am Himmel ein paar wenige leuchtende Wolken, sonst nur Blau. Im gleißenden Sonnenlicht scheint es beinahe, als fließe die Straße mir entgegen.
Ich biege wieder irgendwo ab, wandere über eine kleine Brücke hinüber und wenig später stapfe ich ein paar Kilometer auf einer dieser zum Radweg umfunktionierten stillgelegten Bahntrassen dahin, von denen es immer mehr gibt.
Erst schnurgerade, dann in sanften Schwüngen und Schnörkeln, führt der Weg durch die Landschaft, an Büschen und Bäumen vorüber, an flachen Böschungen, an Wiesen, Bächen und kleinen Dörfern. Wohin auch immer mein Blick sich richtet – vom Himmel natürlich abgesehen -, trifft er auf schillerndes Grün.
Auf der kaum merklich ansteigenden Asphalttrasse komme ich voran, als hätte ich die ganze Zeit vier Meter pro Sekunde Rückenwind. Ich bin ein schwebender Körper im Raum und zugleich bewege ich mich beinahe so körperlos, als würde ich nur träumen, dass ich mich fortbewege. Ich hätte nicht das Geringste dagegen, zwei, drei Stunden oder noch länger so weiterzumachen. Die Idylle aus blühenden Bäumen, Pferdekoppeln, Wiesen und Feldern allerdings, die ich durchwandere, nachdem ich die Trasse verlassen habe, ist auch nicht zu verachten.
Alles an diesem Tag ist jetzt Frühling.
Auf den Feldwegen außerhalb des Waldes werden die Schatten immer schwächer. Die Sonne brennt sie einfach weg. Das Blau am Himmel ist schier endlos und dadurch wirkt die Landschaft viel weiter, als sie ist.
Die Geräusche, ob nah oder fern, versickern, sie verlieren sich einfach irgendwo in dieser stillen Weite, sie sind existent, aber man nimmt sie im Grunde überhaupt nicht wahr.
Kein Lüftchen regt sich.
An einer hohen Steinskulptur vorüber treibe ich wie ein Boot auf einem Wellenkamm über eine kleine Anhöhe hinweg, danach habe ich für ein paar hundert Meter wieder Asphalt unter meinen Stiefeln und dann befinde ich mich zum allerersten Mal an diesem Tag im Wald.
Okay, so ein richtiger Wald ist es erst einmal nicht.
Eher eine Aneinanderreihung von Baumgruppen mit vielen Lücken dazwischen. Aber immerhin.
Eine Weile wandere ich dann am Waldrand entlang.
Auf einem Pfad, der wie eine lose Wäscheleine im Gewittersturm chaotisch hierhin und dorthin flattert, so dass ich mein nächstes Etappenziel – den Rötelsteinpfad – alle paar Minuten in einer anderen Himmelsrichtung vermute.
Mittlerweile marschiere ich unter einer fast schon sengenden Mittagssonne dahin.
Um mich herum ein Landschaftsstillleben aus Wiesen und Hügeln, ab und zu ein paar zerfurchte Äcker.
Der Weg ist meistens schön eben. Die wenigen Steigungen sind nicht einmal ansatzweise steil und lang genug, um meinen Gehrhythmus irgendwie zu beeinträchtigen.
Ich bin ja auf der Skulpturenstraße unterwegs.
Und ein paar Skulpturen gibt es auch tatsächlich. Eine sieht aus wie ein Echsenrumpf, bei einer anderen kann ich durch einen schmalen Spalt die Umgebung aus einer anderen, reduzierten Perspektive bertrachten, in der alles wirkt wie zusammengepresst.
Blickfluchten.
Man sieht einen wesentlich kleineren Ausschnitt, nimmt aber mehr Details wahr.
Allmählich nähere ich mich jetzt dem Rötelsteinpfad.
Ich bin mittlerweile richtig ins Rollen gekommen und mir schießt der Gedanke durch den Kopf, ob ich nicht einfach auf dem Skulpturenweg weitergehen soll, denn der führt fürs Erste geradeaus weiter und zum Rötelsteinpfad abzubiegen bedeutet auf jeden Fall, zumindest vorübergehend, meinen Rhythmus zu brechen.
Der Gedanke verflüchtigt sich aber rasch wieder.
Ich laufe in ein Dorf mit einer großen, weißen Kirche hinein, die einem schon von weitem ins Auge springt.
Nach der Wanderung stoße ich in irgendeinem Artikel über diese Kirche auf das Attribut „ortsbildprägend“ und das trifft es ziemlich genau.
Nicht weit von der Kirche entfernt beginnt der Rötelsteinpfad.
Der erste Eindruck ist ziemlich positiv: Heller Wald, ein breiter Pfad mit fließenden Schatten und jede Menge Grün.
Ich lasse mir Zeit.
Ich schaue und betrachte gar nicht mal besonders viel oder intensiv, eher ist es so, dass ich erlebe, erfasse, und zwar, ohne mir weiter Gedanken darüber zu machen.
Das Unterprogramm, das ohne Unterlass abläuft, heißt Frühlingserwachenwohlfühlwanderung.
Oder so ähnlich.
An einem Frühlingstag wie diesem offenbart sich das Schöne wie von selbst, im Kleinen wie im Großen, im Detail wie im Ganzen, man muss es nicht punktuell aus einer Wand der Finsternis herauslösen, sondern man stößt nahezu auf Schritt und Tritt darauf.
Allein diese geschwungenen Pfade, wie hingehaucht!
Ganz ruhig die Bäume, reglos im warmen Mittagsschimmer, in den grünsamtenen Schatten,
Eine winzige Bewegung irgendwo, ein Windhauch, zitterndes Geäst.
Dann Holzstiegen, darüber ein Laubbaldachin.
Ich laufe durch einen schmalen Korridor aus gleißendem Licht. Zu beiden Seiten scheint es, als trieben die Bäume von mir weg, wie Boote, die mit der Strömung in die Abenddämmerung fortgetragen werden.
Ein erster Aussichtspunkt.
Die weißen Häuserfassaden eines Dorfes leuchten aus dem dunklen Baumgrün hervor. Den Horizont begrenzt eine niedrige Hügelkette. Es riecht nach den Farben des Frühlings und eigentlich sogar schon ein wenig des Sommers.
Danach wandere ich eine Weile auf etwas breiteren Pfaden vor mich hin.
Die Bäume treten ganz nahe zusammen und das gleißende Licht zieht sich zurück aus dem Wald, es ist nur noch oberhalb der Wipfel und irgendwo jenseits der dunklen Stämme.
Es ist eine Zwischenwelt der Schatten und Umrisse.
Am Wegesrand dunkle Baumstümpfe und Wurzeladern, aber in einer fast baumlosen Senke jenseits der der Schatten sammelt sich ein See aus Licht.
Wie ein ungebändigter Flusslauf strömt der Pfad mal hierhin, mal dorthin.
Es wird immer wärmer.
Wenn ich den Blick nach oben richte, scheint es fast, als würde der grellggelbe Sonnenball Löcher in die Baumwipfel hineinbrennen. Von Zeit zu Zeit spüre ich immerhin einen angenehm kühlen Luftzug von irgendwoher.
An einem weiteren Aussichtspunkt vorüber gelange ich dann wieder in lichtdurchfluteten Frühlingswald.
Bis jetzt kann ich mich über mangelnde Abwechslung wirklich nicht beschweren, und letztlich ist ein hohes Maß an sehr verschiedenen Eindrücken auch das, was ich mir von einer Tour von rund 50 Kilometern Länge versprochen habe.
Eines kann man bei solch einer langen Wanderung natürlich vergessen: Dass man nämlich während der ganzen Zeit mit höchster Aufmerksamkeit tolle Impressionen aneinanderreiht wie Lampions auf einer Girlande. Wozu auch? Dadurch würde das Besondere rasch banal werden.
Außerdem: Viele der besten Momente beim Wandern kamen fast völlig ohne mein Zutun. Sie stellten sich ganz plötzlich ein, unangekündigt und gerade dadurch überwältigend.
Irgendwo am Rande eines staubigen, einsamen Ackers stoße ich auf einen verwitterten Wegweiser: „Nohmühle 6 Kilometer.“
Auf einer eher unterschwelligen Ebene habe ich schon seit einiger Zeit darüber nachgedacht, ob es überhaupt sinnvoll ist, wieder zum Ausgangspunkt des Rötelsteinpfades zurückzukehren, denn mittlerweile ist mir klargeworden, dass der Rötelsteinpfad und der Skulpturenweg auf mehreren Kilometern Länge identisch sind. Wenn ich also den Rötelsteinpfad vollende, dann bedeutet das, eine bestimmte Passage zweimal abwandern zu müssen.
Auf die Frage, warum ich das tun sollte, fällt mir keine einzige wirklich akzeptable Antwort ein, auf die Frage, warum ich es nicht tun sollte, dagegen innerhalb von Sekundenbruchteilen ein halbes Dutzend.
Die Nohmühle liegt ziemlich exakt an der Stelle, an der ich mich für das eine oder das andere entscheiden muss.
Erst einmal laufe ich aber noch ein wenig weiter durch diesen von der Frühlingssonne perfekt in Szene gesetzten Wald voller Licht, das sich ständig wandelt und das wie ein schimmernder Wind über die Baumspitzen weht.
Und dann, von einer Sekunde zur nächsten…
…befinde ich mich in einem zur Realität gewordenen Tolkien’schen Auenland.
Ich bleibe erst einmal stehen und reibe mir die Augen.
Gras, so grün wie direkt aus einer Chlorophyllgalaxie importiert.
Ein malerischer Steg über einen schmalen Bach, in dessen Wasser die Sonnenstrahlen winzige Flämmchen zu entzünden scheinen.
Und der Pfad, der am Bachufer zwischen niedrigen Grasbüscheln und schlanken Stämmen hindurchfließt, ist Schönheit in Perfektion.
Zehn Minuten lang stehe ich auf einem großen Stein im Bachlauf, inhaliere die frische, klare Luft und für die Ewigkeit von ein paar Sekunden fühle ich mich unantastbar.
Von all den schönen Stellen, die ich auf dieser Wanderung zu sehen bekomme, ist dies die schönste, und von allen guten Momenten sind dies die besten.
Kurz darauf durchquere ich auf einem schmalen Steg den Oberthaler Bruch, ein 50 Hektar umfassendes ehemaliges Hochmoor, und danach habe ich für den Rest der Tour harten, griffigen Boden unter den Füßen.
Eigentlich wird nun nichts anders mehr von mir verlangt, als auf einem tischebenen, breiten Weg – erst noch knirschender Waldboden, später dann Asphalt – geradeaus zu gehen.
Ich bin mittlerweile wieder zurück auf dem Skulpturenweg, laufe an der bereits erwähnten Nohmühle vorüber und dann durch ein kleines Wäldchen an der Nahe entlang, die nicht weit von hier entspringt und im Moment noch nicht mehr als ein unscheinbarer Bach ist.
Zum Bostalseee hin steigt der Weg dann zwar wieder etwas an, aber so minimal, dass es kaum der Rede wert ist.
Ich bin jetzt umzingelt von umzäunten Weiden, laufe an ein paar Gehöften und einem Restaurant vorüber und dann sehe ich auch schon die glitzernde Fläche des Sees vor mir.
Bei diesem Wetter habe ich eigentlich mit einer endlosen Prozession von Spaziergängern und mit Horden von Badenden gerechnet, aber so viele sind es gar nicht.
Ich stapfe am Ufer entlang bis zur Staumauer, dort biege ich dann nach Gonnesweiler ab.
Im Grunde ist der Bostalsee so etwas wie der Abschluss der heutigen Tour. Die ungefähr drei Kilometer von Gonnesweiler bis zum Bahnhof in Türkismühle sind lediglich noch ein Nachspann, ein Epilog, der von Hitze und Landstraße handelt. Und wie immer auch vom Aufbrechen, vom Erkunden und vom Ankommen.
Noch eine Tour im Nordsaarland:
Tour 19 Hofeld – Schmugglerpfad
Irgendwie ist an diesem Tag von Anfang an etwas durch
und durch falsch.
So falsch, als würde Schnee im Sommer fallen oder als
würde ich erwachen und feststellen, dass ich nur eine fiktive
Figur in einem Roman bin.
2 Comments
Roxanne
Oh, ich dachte schon fast, du hast deinen Blog aufgegeben, weil so lange nichts kam und vielleicht auch wegen dieser neuen Datengeschichte.
Der Text ist wieder sehr gut gelungen, mit der typischen Mischung aus Beschreibungen, kurzen Reflexionen und literarischen Abschnitten. Garniert mit sehr schönen Fotos..
Roxanne
gorm
Vielen Dank für die positive Resonanz.:-)
Ich versuche, jetzt wieder möglichst regelmäßig Beiträge im Blog zu veröffentlichen. Zwei stehen ja ohnehin noch aus, die werde ich beide in den nächsten Tagen veröffentlichen.
Grüße
Torsten