TOUR 48 – VON SAARBRÜCKEN NACH BENING-LES-ST.-AVOLD
Die Geschichte dieser Wanderung ist eine Geschichte des beginnenden Frühlings.
Es ist die Geschichte einer milden, flüsternden Windstimme über stillen Wiesen und Äckern, die manchmal nicht mehr ist als ein kaum hörbarer Hauch, manchmal sogar noch weniger als ein Hauch, etwas, das nur noch als lautloses Wehen an den Spitzen der Grashalme erkennbar ist.
Es ist die Geschichte eines ruhigen, hellen Blaus, das den Himmel ausfüllt, so weit das Auge reicht, unter dem die Straßen und Wege und Pfade, so grau sie auch sein mögen, leuchten wie silberne Fäden und unter dem alles so friedlich wirkt, als sei es in einen tiefen Schlaf versunken.
Es ist eine Geschichte vom Licht, vom Wald, von blutgetränkter Erde, von jahrtausendealten Siedlungsüberresten.
Und selbstredend ist es wie immer auch eine Geschichte vom Gehen.
Sogar in der Stadt spürt man den Atem des Frühlings.
Mein Weg vom Hauptbahnhof zum jenseitigen Saarufer kommt einem körperlosen Dahinschweben ziemlich nahe, und als ich dann nach einem kurzen Abstecher zur Ludwigskirche am Fluss entlangtrabe, ist da überall dieses Glänzen und Schimmern und Leuchten und ganz rasch stellt sich eine Mischung aus Leichtigkeit und Intensität ein, die eine optimale Voraussetzung darstellt für die gut 40 Kilometer, die noch vor mir liegen.
Mit tiefem Durchatmen ist es natürlich erst einmal nichts.
Ich bewege mich schließlich in einer Großstadt und die ersten paar hundert Meter gehe ich auch noch unmittelbar an der Stadtautobahn entlang.
Momentaufnahmen, unentwegt, ein Kaleidoskop unterschiedlicher Eindrücke: Der traumlagunenblaue Himmel, die wie einer märchenhaften Wasserwelt angehörenden Spiegelungen der Uferbäume, die bunten Graffitis an den Mauern, der schnurgerade Weg, der später dann wie mit einem von ganz leichter Hand geführten Zirkel einen Bogen nach links beschreibt, die Pavillons der Modernen Galerie.
Nach ungefähr drei Kilometern biege ich vom Saarufer in den Stadtteil St. Arnual ab.
Dort laufe ich erst einmal durch einige Nebenstraßen zur Kirche Nummer zwei meiner heutigen Tour, der Stiftskirche. Die Höhe des Kirchturms beträgt immerhin 50 Meter und damit ragt sie ziemlich weit über die Häuser des Viertels hinaus. Das führt dazu, dass ich sie schon aus sehr weiter Entfernung ausmachen kann und gar nicht erst in die Gefahr gerate, Zeit mit der Suche verschwenden zu müssen.
In Hombourg-Haut, dem Endpunkt meiner heutigen Tour, soll es eine ganz ähnliche Kirche geben.
Davon werde ich mich dann ja vor Ort überzeugen können. Vorausgesetzt, ich gehe heute auch wirklich bis Hombourg-Haut und nicht nur bis Béning-lès-St.-Avold, wo sich ebenfalls ein Bahnhof befindet.
Ob ich letztendlich in Hombourg oder in Béning meine Tour beende, hängt von verschiedenen, im Augenblick nur teilweise einschätzbaren Faktoren ab.
Erst einmal sind aber ganz andere Dinge wichtig, zum Beispiel, ob ich die Markierung des Jakobsweges finde, auf dem ich heute unterwegs sein will und dessen Nordroute durch St. Arnual verläuft.
Entgegen meiner Befürchtung gibt es nicht die geringste Komplikation, nicht die kleinste Verzögerung.
Ich laufe von der Stiftskirche erst durch eine kurze, dann durch eine lange Straße und nach nicht einmal zehn Minuten entdecke ich die gesuchte Markierung an einer Straßenlaterne, und zwar genau an der Kreuzung, an der ich sie auch zu finden erwartet habe.
Die Beschilderung lässt ohnehin auf der gesamten Strecke absolut nichts zu wünschen übrig, sie ist perfekt. Ab dem Anstieg nach Spicheren besteht sie meistens aus einem weiß-roten Balken, während die bekannte Jakobsmuschel nur von Zeit zu Zeit auftaucht. An Kreuzungen oder Abzweigungen sind die falschen Wege durch die Darstellung des rot-weißen Balkens als rot-weißes X kenntlich gemacht, was ebenso schlicht wie genial ist und erheblich dazu beiträgt, dass ich mich heute kein einziges Mal hoffnungslos verlaufe.
Nein, alles, was heute an Umwegen zustande kommt, beruht entweder auf Absicht, auf flüchtigen, rasch behobenen Unaufmerksamkeiten oder aber es ist die Konsequenz aus unvorherseh- und unvermeidbaren Umständen.
Nicht mehr lange und ich befinde mich an der äußersten Peripherie der Stadt, dort, wo es eigentlich gar nicht mehr so richtig nach Stadt aussieht.
Ein Weiher, dann Kleingärten.
Kurz darauf laufe ich zwar unmittelbar an der Autobahn entlang, aber das ändert nichts daran, dass meine Sinne die Umgebung als Idylle wahrnehmen, halbwegs zumindest.
Plötzlich sehe ich eine Weide voller Alpakas vor mir und weiß im ersten Moment nicht, ob ich meinen Augen trauen kann.
Die Alpakas sind jedoch auch nach dem dritten Blinzeln noch vorhanden.
Später lese ich nach, dass es sich um die Saar-Alpaka-Farm handelt und dass solche Farmen in Deutschland offenbar gar nicht einmal so selten sind.
Ich trabe weiter.
Unter dem weiten Himmel scheinen die Wege von einem Fixpunkt meines Blickfeldes zum nächsten länger, die Entfernung zum Horizont mit jedem meiner Schritte größer zu werden.
So richtig seine Wirkung entfalten würde dieser Eindruck allerdings erst in einer nach allen Seiten hin offenen Landschaft, hier verflüchtigt er sich nach und nach.
Ich stapfe die Spicherer Höhen hinauf, über geschichtsträchtigen Boden.
Dort, wo ich jetzt völlig selbstverständlich und unbehelligt die Grenze nach Frankreich überquere, fand vor zwei Menschenaltern eine blutige und verlustreiche Schlacht des Deutsch-Französischen Krieges von 1870/71 statt.
Auf dem Roten Berg unmittelbar vor Spicheren finden sich denn auch zahlreiche Mahnmale und Denkmäler, nur zwei davon allerdings noch im Originalzustand.
Dann stehe ich auf dem Plateau vor der Gedenkstätte, einem von niedrigen Hecken umsäumten, riesigen weißen Kreuz.
Wind kommt auf, weht über das blassgrüne Gras.
Ich kann weit über das Land schauen, atme die milde Luft, und für einen Moment, kürzer als ein Lidschlag, sind ganz stille, friedliche Bilder in mir.
Durch Spicheren hindurch, dann an Wiesen und Äckern vorüber wandere ich in den Wald hinein.
Bis jetzt kann die Choreografie der Tour sich wirklich sehen lassen. Auch der Wald kommt genau zum richtigen Zeitpunkt. Vor allem ist es auch noch ein richtig schöner Wald. Die geschwungenen Linien der Bäume, schlank, biegsam fast, als würden sie sich in Bewegung befinden, dem Licht entgegenfließen, ein kaum existentes Zittern schmaler Äste, das erst mit Verzögerung ins Bewusstsein gelangt, und über den Baumkronen dieses immerwährende Blau, licht und hell, und nicht einmal einen einzigen Atemzug lang ist da auch nur ein Schatten von Grau.
Für ein paar Minuten lasse ich mich darauf ein, verschiedene Details aus dem Gesamtbild herauszulösen und sie möglichst exakt wahrzunehmen.
Die Nuancen des Schattenspiels, das unaufhörlich andere Muster hervorbringt.
Die Nuancen des Lichts, das zwischen den Stämmen dunkler ist als auf dem Pfad und dort wiederum dunkler als in den Baumkronen.
Hänge voll mit rötlich schimmerndem Laub, durchzogen von grauen Wurzelsträngen.
In den Wipfeln ein trockenes, blattloses Rauschen.
Irgendwann wird der zunächst offene, helle Wald, in den von rechts, links und oben Licht hineinströmt, dichter und dunkler.
Eine ganze Weile wandere ich auf einem schmalen Weg bergan, und ganz abgesehen davon, dass der Pfad sich mitunter in anarchischen Schwingungen durch den Wald windet, bietet sich dem Auge am Rande des Weges, oft aber auch auf dem Pfad selbst, ein stetig wachsendes Chaos aus entwurzelten, den Hang hinabgerutschten und den Weg versperrenden Baumstämmen.
Ab und zu scheint der Pfad mitten in den goldgelben Sonnenball hineinzuführen.
Oder er fließt um einen Felsen herum einen sanft ansteigenden Hang hinauf.
Oder er driftet um eine kleine Biegung, strömt dann ruhig zwischen dunklen Nadelgehölzen hindurch.
Kurz und gut, diese etwa sechs Kilometer zwischen Spicheren und Forbach sind an diesem Tag die schönste Passage und allein schon die Wanderung wert.
Aus dem Wald heraus führt mich mein Weg an der Kapelle Ste. Croix vorüber nach Forbach hinein.
Und beinahe von einer Sekunde auf die nächste ist es vorbei.
Vorbei mit dem Schönen, dem Idyllischen, den wie Tautropfen auf einer Herbstmorgenwiese sich ansammelnden großartigen Eindrücken.
Das heißt, einen kurzen Aufschub gibt es noch, nämlich den wirklich ansehnlichen Burghof mit dem Schlossbergturm. Hier werde ich mich sicher länger aufhalten, wenn ich mal wieder in diese Gegend komme.
Danach jedoch auf vielen Kilometern kläffende Hunde, Baustellen, Lärm, Müll und noch ein paar andere hässliche Dinge.
Okay, da ist schon noch ein ganz brauchbarer Abschnitt über einen Feldweg, von dem aus man den Blick über Wiesen und Äcker schweifen lassen kann, und eigentlich ist auch der Umweg durch Oeting, den ich wegen einer Baustelle auf mich nehmen muss, zumindest unter dem Aspekt, möglichst viele unterschiedliche Eindrücke gewinnen zu wollen, ganz interessant, aber es ist nichts, an das man sich später unbedingt zurückerinnern muss.
Kurz vor Morsbach bleibt mir nur die Wahl, entweder auf einem Saum, schmaler als eine Rasierklinge, an einer nicht gerade wenig befahrenen Landstraße entlangzubalancieren oder aber auf eine abschüssige, von Müll übersäte Wiese auszuweichen. Aus dem Wald ertönen ununterbrochen Gewehrschüsse und sonstiger Manöverlärm.
Irgendwie ist das alles so gar nicht behaglich.
Nun gut, irgendwo muss so ein Fernweg ja verlaufen.
Eine Viertelstunde später sitze ich ein paar hundert Meter hinter Morsbach auf einer Bank am Wegrand und lasse mir die Nachmittagssonne ins Gesicht scheinen.
Nicht nur die äußere Bewegung kommt zur Ruhe, sondern auch die innere.
Kein Gewehrfeuer mehr, sondern zwitschernde Vögel. Um mich herum das wohltuende Grün von Wiesen und Weiden.
Eigentlich habe ich vor, nur eine kurze Rast einzulegen, aber Minute um Minute vergeht und ich bleibe einfach weiter hocken.
Als ich dann weiterwandere – nach über einer halben Stunde – kommt endlich auch wieder die Komponente Weite zum Tragen.
Ich gehe jetzt einen Pfad hügelan, der sich wie ein fallen gelassener Bindfaden in der Landschaft entrollt.
Ich spüre die Weite.
Ich spüre sie im Kopf, ich spüre sie in den Beinen.
Ich lasse mich tragen davon.
Der Pfad führt über eine Wiese und dann in den Wald hinein.
Für ein paar wenige Kilometer ist der Jakobsweg jetzt identisch mit einem lokalen Rundwanderweg, der über den Hérapel verläuft, einen markanten Hügel oberhalb des Dorfes Cocheren, auf dem sich so manche Spur längst vergangener Epochen befindet.
Das Einzige, was ich davon allerdings zu Gesicht bekomme, ist eine Grotte samt Heiligtum aus der Zeit einer gallo-römischen Siedlung aus dem ersten Jahrhundert.
Es ist jetzt ein völlig unbeschwertes Gehen.
Der Pfad zu der Grotte und von dort nach Cocheren könnte kaum besser in Szene gesetzt werden, als es durch die allmählich sinkende Sonne geschieht.
Auf serpentinenartigen Windungen und von Zeit zu Zeit über kaum sichtbare Holzstufen hinweg wandere ich gemächlich nach Cocheren hinunter.
Wenn die Möglichkeit bestünde, besonders schöne Orte oder Pfade mitnehmen, sie wie ein Souvenir mit mir herumtragen zu können, dann würde ich diese Passage jetzt einpacken und in meinen Rucksack stecken.
In Cocheren komme ich aus dem Grüßen kaum heraus.
Kinder, Alte, Frauen, Männer, Radfahrer, Fußgänger, alles grüßt.
Nebenbei erfordert der abenteuerlich zwischen Gärten und an der Rossel sich entlangwindende und häufig die Richtung verändernde Pfad meine ganze Aufmerksamkeit.
Mit Blick auf den zerbrechlich wie Porzellan wirkenden Turm der Dorfkirche stapfe ich dann die Hauptstraße entlang, eine kleine Anhöhe hinauf und bin wieder – zum letzten Mal für heute – im Wald.
„Béning 1 Kilometer“ lese ich auf einem Wegweiser.
Das ist weniger, als ich erwartet habe. Aber es ist auch schon fast halb sechs und am Ende des Tages werde ich – selbst ohne mein ursprüngliches Ziel Hombourg-Haut zu erreichen – fast 50 Kilometer gegangen sein.
Im Grunde ist der Entschluss, heute doch nur bis Béning zu wandern, schon lange gefallen, jetzt mache ich aber endgültig einen Haken dahinter.
So richtig viel Aufmerksamkeit schenke ich den Dingen um mich herum jetzt nicht mehr.
Der Wald erweckt den Eindruck, als habe hier eine Horde von Trollen Mikado gespielt. An manchen Stellen wäre es jedenfalls wesentlich einfacher, die noch fest in der Erde verwurzelten Bäume zu zählen als die umgestürzten.
Der Boden wird immer schlammiger. Oft muss ich durch tiefen Morast waten und mich zudem noch über Baumstämme hinwegbugsieren.
Als ich aus dem Wald trete, sehe ich auch schon die ersten Häuser von Béning vor mir.
Alles ist still.
Von weitem wirkt es fast so, als würde das Dorf schon im Schlaf liegen und seine Nachtträume träumen.
Der Weg zum Bahnhof ist um einiges weiter, als ich bei einem Ort mit gerade mal 1100 Einwohnern erwartet habe. Mindestens eine halbe Stunde wandere ich durch Straßen, die irgendwie kein Ende nehmen wollen.
Als ich den Bahnhof schließlich erreiche, ist er bereits in die allerletzten rotgoldenen Strahlen der Abendsonne getaucht.
Noch eine Tour nach Frankreich hinein:
Tour 24 Von Saarbrücken nach Saargemünd
Es ist ein kalter, windiger, trüber Vormittag, ein Vor-
mittag, an dem man die Inspiration in sich fühlt, eine
Geschichte zu schreiben voller Schemen und Schatten
und dunklen Visionen.
Novemberatmosphäre.
Der Himmel ist… weiterlesen Bildergalerie
4 Comments
Sylban
Toll geschrieben, wie eigentlich immer.
Diese Markierung der Wege scheint mir ziemlich ausgeklügelt. Gibt es so was in Deutschland denn nicht?
Wäre denn auf diesem eher vermüllten Streckenabschnitt eine andere Wegführung möglich gewesen?
Grüße,
Sylban
gorm
Vielen Dank für die positive Resonanz!
Das Beschilderungssystem war wirklich perfekt. In Deutschland habe ich so etwas noch nicht gesehen, aber ich kann mir gut vorstellen, dass es auch hier Wanderwege gibt, bei denen es so oder so ähnlich gehandhabt wird.
Was die Streckenführung betrifft, so kenne ich ja auch vom Marienweg durchaus Passagen, die etwas weniger angenehm zu gehen sind, allerdings waren die doch kein Vergleich zu dem. was zwischen Forbach und Morsbach teilweise los war, überhaupt kein Vergleich. Ich kenne mich leider im Detail vor Ort zu wenig aus, um zu sagen, ob eine andere Streckenführung möglich wäre. Man muss allerdings berücksichtigen, dass Baustellen normalerweise ja nur temporäre Hindernisse sind, insofern relativiert sich da manches.
Beste Grüße
Torsten
Jana
Bereits die einleitenden Worte lösen bei mir sofort das Kopfkino aus – das setzt sich im Weiteren, wieder so schön von dir Beschriebenen, wunderbar fort. Saarbrücken scheint also auch ganz schöne Ecken zu haben, wie eigentlich so gut wie jede Stadt.
Diese Wegemarkierung ist wirklich, wie du sagst: schlicht und genial. Wie oft habe ich mich schon mangels verständlicher Markierung verlaufen! Na, wem sage ich das.
Die schönen Fotos zeugen von herrlichem Wetter. Und abwechslungsreich war die Tour auch: Neben der Natur gab es noch Tiere und Geschichtliches zu sehen. Schön!
Liebe Grüße
Jana
gorm
Also über mangelnde Abwechslung kann ich mich diesmal wahrlich nicht beklagen. Das war ja einer der Gründe, warum ich diese Strecke ausgewählt hatte. Ein gewisser Reiz lag natürlich auch darin, eine Tour über eine Ländergrenze hinweg durchzuführen. Das Saarland und Lothringen haben wahrlich eine wechselvolle Geschichte, beide. Als Grenzgebiete waren beide häufig deutsch, häufig französisch. Beide verbindet auch die Geschichte als „Kohlegebiete“.
Was der Wanderung den letzten Schliff gegeben hat, das war natürlich der fast immer makellos blaue Frühlingshimmel, der gerade auch die Waldstrecken perfekt in Szene gesetzt hat.
Vielen Dank auch diesmal für deinen Kommentar.:-)
Liebe Grüße
Torsten