Wandertouren

TOUR 116 – 35 KILOMETER DURCHS MITTLERE UND NÖRDLICHE SAARLAND

Es gibt eine Reihe von Wanderungen, bei denen mir viele Details noch sehr gegenwärtig sind. Manchmal leuchten sie aus einer Armee verblassender Erinnerungsfragmente hervor wie Bootslichter aus nächtlichem Flussnebel.
Eines dieser Details von meiner allerersten Mehrtageswanderung sieht folgendermaßen aus: Unter einem Himmel, an dem sich allmählich ein Geschwader grauer Regenwolken sammelte, ging ich auf einem schnurgeraden, wie in die Luft hineingemeißelten Weg auf den Horizont zu, und zwar einen Horizont, der in Anbetracht der zunehmenden Düsternis noch erstaunlich hell war. Kurz darauf begann der Regen und binnen eines Augenblinzelns gab es keinen Horizont mehr, jedenfalls nicht so richtig, und auch sonst ziemlich wenig, was sich in dem Wasserfall aus Regen hätte erkennen lassen. Der Regen hörte und hörte nicht auf, aber je länger er andauerte, desto weniger machte er mir aus, und unter all den Gedanken, die mir so durch den Kopf schossen, kehrte einer immer wieder zurück: Man benötigt beim Wandern eine besondere Form von Geduld. Eine, die sich nicht so leicht ins Wanken bringen lässt, auch dann nicht, wenn die Dinge beginnen, unangenehm zu werden und gegen die eigenen Erwartungen zu arbeiten. Ich glaube, das war die Botschaft, die mir dieser letztlich stundenlange Marsch durch den Regen mit auf meine künftigen Wanderpfade gab.
Und wenn ich lange Strecken zu Fuß zurückzulegen beabsichtigte, dann würde ich diese besondere Form von Geduld brauchen, und zwar jede Menge davon.

Wie viel Geduld ich heute aufbringen muss, wird sich noch zeigen, aber bei einer Strecke von etwa 35 Kilometern, die man mit einer denkbar langsamen Fortbewegungsart bewältigen will, tut man gut daran, sich nicht zum Sklaven der Zeit zu machen.
Es ist ein Morgen ohne Sonne.
Trotzdem zeichnen sich die Hügel der näheren Umgebung ziemlich deutlich ab. Es ist weder zu heiß noch zu kalt, die Wege sind einigermaßen trocken, und auch ein paar zwitschernde Vögel lassen sich hören.
Es gibt schlechtere Anfänge.

Die Höchstener Kapelle, bei der meine Wanderung ihren Anfang nimmt, ist ein Magnet für Spaziergänger aus den umliegenden Dörfern, von denen es so einige gibt, und von vielen führen eigens ausgeschilderte Wege hierher.

Auf einem dieser Wege wandere ich weiter Richtung Dörsdorf, einem Stadtteil von Lebach.
Es ist still wie auf der Spitze eines Wellenkamms bei Sonnenaufgang.
Hundert Meter laufe ich über einen vom Regen vergangener Tage feuchten Waldpfad, der aber ziemlich rasch von einem dieser typischen, von Dorf zu Dorf führenden Asphaltwege abgelöst wird, die von jedem genutzt werden, der sich irgendwie vorwärtsbewegt, sei es zu Fuß, mit dem Rad oder mit dem Auto.
Ein paar Spaziergänger sind unterwegs, die sich in der Landschaft verlieren oder aber ganz plötzlich auf nicht nachvollziehbare Weise verschwunden sind, wie beispielsweise zwei Frauen, die eine Weile vor mir hergehen und hinter einer Kurve nirgends mehr zu sehen sind, obwohl es weit und breit nichts gibt, was sie verbergen könnte.

Wahrscheinlich würde mich der Asphaltweg zur Landstraße zwischen Dörsdorf und Scheuern bringen, aber obgleich ich genau dahin auch möchte, schlage ich erst noch einen großen Bogen durch den Wald und lande so zwar auch am Rand ebenjener Landstraße, aber eine Viertelstunde später.
Bis zur Ortsmitte von Scheuern wandere ich nun auf einem zum Glück recht breiten Seitenstreifen an der Straße entlang. Für ein paar hundert Meter beschränkt sich der Ausschnitt der Welt, den ich beachte, im Großen und Ganzen aus dem Asphaltgrau vor meinen Schuhen und aus zwei Metern rechts und links von mir.

Erst nachdem ich eine kleine Anhöhe hinter mich gebracht habe, erweitert sich mein Blickfeld wieder auf Normalgröße.
Scheuern ist bereits in Sichtweite. Die weiße Kirche des Ortes werde ich später noch mehrere Male aus verschiedenen Distanzen erblicken. Um das Dorf herum eine beschauliche Leere aus Feldern und Wiesen, weiter entfernt eine Armee von Hügeln, die wohl schon zum Schwarzwälder Hochwald und damit zum Hunsrück gehören.

Ich laufe in den Ort hinein.
Der Himmel ist immer noch grau wie Staub auf zerfallenden Bücherrücken, das Grün ringsum wirkt stumpf und unscheinbar, aber das muss eben reichen, falls es den ganzen Tag so bleiben sollte.
Immerhin habe ich für die nächsten paar Kilometer einen ausgeschilderten Wanderpfad zur Verfügung, an dem ich mich orientieren kann, und zwar den Bohnental-Rundwanderweg.
Das ist nämlich die Gegend, in der ich mich gerade befinde – das Bohnental. Fünf Dörfer, keines mit auch nur 1000 Einwohnern, nicht mal alle demselben Landkreis, geschweige denn derselben Gemeinde angehörig, aber doch eng miteinander verbunden.
Heute bekomme ich zwei dieser fünf Dörfer zu sehen, neben Scheuern zwei Wiesenpfade und einen Asphaltweg später auch noch Neipel.

Die Wege werden jetzt einsamer. Unter dem düsteren Himmel wirkt die Landschaft wie ein riesiges, leerstehendes Gebäude.
Obgleich ich schon mehr als zwei Stunden unterwegs bin, ist das alles irgendwie noch Einleitung oder zumindest so etwas wie das erste Kapitel. Aber wenn man mit der Erwartung losgeht, am Ende 35 Kilometer oder mehr hinter sich gebracht zu haben, dann verändern sich nach und nach die zeitlichen Maßstäbe ohnehin. Vor allem aber verändert sich die Bedeutung, die ich selbst der Zeit beimesse. Ich kann wandern und dabei gar nicht so richtig mitbekommen, wie die Stunden vergehen. Ich gerate zwar nicht in ein Land ohne Zeit, aber ich trete in Gefilde ein, in denen der Rhythmus des Gehens und dessen Abstufungen von Langsamkeit alles bestimmen.

Ich nähere mich Limbach.
Der Ort hat 3 000 Einwohner und damit mehr als alle fünf Dörfer des Bohnentals zusammen.
Von hier aus werde ich später zurück nach Höchsten laufen, aber bis dahin wird noch eine Weile vergehen, denn zunächst will ich zum Weg des Wassers, der irgendwo nördlich von Limbach verläuft.

Plötzlich ist die Sonne da.
Am Ortseingang noch graue Wolkenschichten, in der Ortsmitte dann zwar immer noch Wolken, aber nur kleine Inseln hier und da.
Die Straßen und Wege außerhalb der Dörfer erscheinen dadurch ein paar Nuancen weniger einsam, was nichts daran ändert, dass sie leergefegt sind wie verlassene kalifornische Goldgräberstädte.

Hinter Limbach trabe ich eine Weile über einen nach und nach immer steiler ansteigenden Asphaltweg, aber ich habe Glück, denn genau an der Stelle, an der dieser Weg in eine Art Abschussrampe übergeht, biege ich auf einen sonnenüberfluteten, flachen Feldweg ab.
Okay, sonnenüberflutet stimmt zwar, aber von diesem Moment an kann ich dabei zusehen, wie der Himmel Minute um Minute wieder dunkler wird, bis von neuem ein bleiernes Grau sich breitgemacht hat.

Viel wichtiger aber ist, dass ich nach der Bewältigung eines ziemlich abschüssigen und als solchen kaum erkennbaren Waldpfades endlich beim Weg des Wassers angekommen bin. Was abschüssige Pfade betrifft, so werde ich später noch ein ganz anderes, erheblich krasseres Exemplar zu überwinden haben, aber davon ahne ich im Moment natürlich noch nichts.

Ich stehe am Rande eines etwas düster anmutenden Weihers, der aber dennoch ganz einnehmend aussieht. Am Ufer eine einsame Trauerweide, der Wald an sich ist zu beiden Seiten ein paar Meter entfernt.
Auf einem unmittelbar neben dem Weihergelände gelegenen Parkplatz steigt gerade eine Frau aus ihrem Auto und macht sich gemächlich zu einem Spaziergang mit Hund auf. Für Stunden ist sie der einzige Mensch, dem ich begegne. Auf dem gesamten Weg des Wassers bekomme ich niemanden zu Gesicht. Keinen Wanderer, keinen Spaziergänger, nicht einmal von weitem.

Ich umkurve den Weiher und gelange auf einen Weg, der breit ist wie eine Baustellenauffahrt. Das ändert sich jedoch sehr rasch und mit einem Mal ist da nur noch ein ganz schmaler Pfad zwei Schritte neben einem Bach. Die Böschung zur Rechten ist sehr steil und an vielen Stellen sind umgestürzte Bäume nahe an den Pfad herangerutscht. Ich erinnere mich, dass der Weg des Wassers letztes oder vorletztes Jahr über mehrere Monate hinweg gesperrt war, wahrscheinlich wegen Windbruchs.
Solange der Pfad an diesem Bach entlangläuft, ist er, von winzigen Dellen abgesehen, tischeben.
Er würde sich hervorragend eignen, um sehr schnell vor sich hin zu gehen, viele Kilometer weit – um zum Beispiel über Wut und andere unschöne Emotionen Herr zu werden, wie es die Inuit mitunter angeblich tun.

Von Wut kann bei mir im Augenblick allerdings nicht die Rede sein.
Der Pfad hat, zusammen mit dem stetigen und immer gleichen Geräusch des Wassers, etwas Meditatives. Eine Reihe für sich genommen unscheinbarer Momente der Stille summieren sich zu etwas beinahe Erhabenem.
Wenn ich Stille schreibe, ist das in diesem Fall auch genau so zu verstehen. Zunächst ist da natürlich noch das Geräusch des Wassers, dann aber führt der Pfad weg vom Bach und damit bleiben nur noch vereinzelte Vogellaute in einer ansonsten vollkommen geräuschlosen Umgebung.
Der Pfad bleibt schmal und ist so akkurat gegen das Gras und das Gestrüpp am Rand abgegrenzt, als würde hier eine Büffelherde ständig auf und ab rennen und keinen Zentimeter nach links oder rechts abweichen.

Historischer Rückblick: Ziemlich genau hier verlief von 1919 – bzw. wenn man den Tag des Inkrafttretens des Versailler Vertrags zugrundelegt – von 1920 bis 1935 die Grenze zwischen dem als „Saargebiet“ bezeichneten Territorium und dem Deutschen Reich.
Das Saargebiet war ein nach dem Ende des 1. Weltkriegs neu geschaffenes Gebilde, das vom Deutschen Reich abgetrennt und dem Völkerbund unterstellt wurde. Es war ein Schwerindustrierevier, mit großen Vorkommen an Steinkohle, die nun nicht mehr Deutschland, sondern Frankreich zugutekamen.
Das Saargebiet von damals ist nicht identisch mit dem heutigen Saarland, sondern war deutlich kleiner. Die nördlicheren Gegenden des heutigen Saarlands um Losheim und Weiskirchen herum beispielsweise gehörten nicht zum Saargebiet, ebensowenig die Region an der luxemburgischen Grenze zwischen Merzig und Perl.
Am 13. Januar 1935 erfolgte nach einer lange vorbereiteten Volksabstimmung die Rückkehr des Saargebiets zum Deutschen Reich.

Mittlerweile ist es früher Nachmittag und ich habe mehr als die Hälfte der Wanderung hinter mir.
Verschiedene Anstiege haben mich auf eine Art Hochfläche gebracht, auf der ich den Blick endlich mal ein wenig in die Ferne richten kann.
Es ist und bleibt ein dunkler Tag.
Die Wiesen sehen aus wie verblichene Teppiche, die Hügel sind grau wie Pottwalrücken.
Abseits der Straße ein einsames Gehöft.
Als ich weiterlaufe, wird die allgemeine Farblosigkeit immerhin durch ein paar blühende Schlehenbüsche am Wegrand ein bisschen aufgehellt.
Ich hätte nichts dagegen, noch eine Zeit lang so weiter vor mich hinzumarschieren, umgeben von offener, wenngleich etwas trüber Landschaft, aber es dauert nicht lange und ich bin wieder im Wald.

Der Pfad führt bergab und wird dabei schmal wie ein Rinnsal. Ich habe den Eindruck, dass die Wolken sich allmählich ein wenig lichten, aber ich kann mich auch täuschen. Oft laufe ich wie auf einer beinahe wie mit dem Lineal gezogenen Wegelinie geradeaus. Irgendwann gelange ich zurück ans Wasser, und zwar an einen kleinen Bach, danach arbeite ich mich eine häuserwandsteile Rampe empor, der ein wesentlich moderaterer Anstieg folgt, und letztendlich bin ich ungefähr wieder auf der gleichen Höhe wie eine Stunde zuvor.
Immerhin kann ich jetzt mal zwischen dünnen Baumgerippen hindurch einen Blick in die Ferne werfen.
Im Vordergrund sehe ich die Häuser eines Dorfes, wahrscheinlich Bardenbach, einem der südlichen Stadtteile von Wadern. Die Hügelwelle im Hintergrund, die aussieht wie ein in der Bewegung erstarrter Tsunami, veranschaulicht den Mittelgebirgscharakter der Gegend. Die höchste Erhebung im Stadtgebiet von Wadern weist 529 Meter auf, das ist Spessartniveau.

Ich laufe weiter.
Der Weg des Wassers ist beinahe zu Ende, aber ehe es so weit ist, passiert noch zweierlei: Erstens habe ich einen Abstieg zu bewältigen, wie ich ihn auf einem saarländischen Wanderweg noch nicht erlebt habe. Zweihundert, dreihundert Meter über Stock und Stein und Wurzeln den Hang hinunter, glücklicher- und sinnvollerweise mit einem Seil gesichert. Zweitens finde ich mich, unten angekommen, am Ufer der Prims wieder, die verglichen mit den Bächen, die ich bisher heute zu Gesicht bekommen habe, geradezu gigantisch breit wirkt.

Ein kurzes Stück wandere ich am Flussufer entlang, aber ehe ich mich versehe, befinde ich mich fernab vom Fluss im Wald, und damit ist alles, was mit Wasser zu tun hat, für heute Geschichte.
Mit einem Mal ist die Sonne wieder da.
Ein paar halbdüstere Wolken treiben noch verloren am Himmel, aber binnen weniger Minuten verschwinden auch sie.
Der Horizont rückt dadurch weit nach hinten, die Hügel wirken in der Entfernung nun beinahe flach und sie sehen verschwommen blau aus, nicht grün.
Im Vordergrund helle Wiesen, zwei Häusergruppen, eine Straße.
Ein ruhiges Bild, ohne sichtbare Bewegung, ohne sekundenschnelle Veränderung.

Wenig später bin ich zurück in Limbach.
Die Sonne hat viele Leute auf die Straße gelockt. Ich trabe durch ein paar Dorfstraßen, aber es dauert kaum eine Viertelstunde, bis ich die letzten Häuser des Ortes hinter mir gelassen habe.
Ein einsam daliegender Weg führt bergan in einen einsam daliegenden Wald. Überrascht stelle ich fest, dass es mich auf den Erzgräberweg verschlagen hat, den ich von einer früheren Wanderung her kenne. Früher bedeutet in diesem Fall gut fünf Jahre.
Damals ein frostiger, dunkler Wintertag, überall hartes Eis und knöcheltiefer Schnee, im Wald kaum mehr Licht als in einer abgedeckten Fallgrube, aber dafür eine wunderbare Stille, tief wie aus dem Inneren der Erde kommend, und ab dem frühen Nachmittag dann sogar eine schöne, nicht zu grelle Wintersonne.

Still und hell ist es jetzt auch, aber dieses unterschwellig Düstere, das damals im Grunde bis zum Schluss gegenwärtig war, das gibt es heute nicht. Es ist mittlerweile einfach nur ein milder, uneingeschränkt schöner Frühlingstag.

Ich verlasse den Erzgräberweg sehr bald wieder und damit beginnt der letzte Teil dieser Wanderung.
Kilometerweit ist um mich herum jetzt nur noch Luft und Landschaft. Es gibt keinerlei Hindernis mehr für den Blick.
Der Weg rollt manchmal über kleine Kuppen hinweg, aber ich bin ja bereits oben auf der Hochfläche, deshalb brauche ich mich mit steileren Anstiegen nicht mehr zu beschäftigen.
Ich bin mittlerweile mehr als 30 Kilometer gegangen und trotzdem fühlt sich das Gehen über diesen im Nachmittagslicht schimmernden Asphaltweg ebenso sehr nach Anfang an wie nach Abschluss.

Einmal, an einer Bank am Rande des Weges, von der aus man einen schönen Blick ins Tal und auf die angrenzenden Hügellinien hat, halte ich kurz inne.
Der Sonnenuntergang ist noch zwei, drei Stunden entfernt und nirgends ist auch nur eine Ahnung abendlicher Schatten auszumachen.
Überall auf den Wegen verteilt, nah wie fern, Menschen.
Einen Moment lang ist ein Lachen zu hören. Ich kann es nicht genau orten, es ist, als schwebe es irgendwo über dem Erdboden. Dann ist der Moment vorüber und Stille setzt wieder ein.

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