TOUR 72 – BECKINGER SAARBLICKE & LITERMONT-SAGENWEG
Wenn man so will, beginnt der Prolog der heutigen Wanderung drei Jahre zuvor an einem dieser windigen, sonnigen Oktobertage, die noch beinahe ebenso viel vom Sommer haben wie vom Herbst, und die man allein schon deshalb bis zur letzten halbwegs hellen Minute genießen will, weil es nicht mehr lange dauert, bis die nebelgrauen Krähentage Einzug halten.
Er beginnt auf einem schmalen Bahnsteig, der aus dem Nichts zu kommen und ins Nichts zu führen scheint und bei dem man schon im allerersten Moment den Eindruck hat, dass man nur ein paar wenige Schritte weit gehen muss, um in eine entlegene Waldidylle zu gelangen, in der es nichts gibt außer dem Hämmern eines Spechts, Baumrauschen und Geraschel im Unterholz.
Vor drei Jahren bestand die Tour allerdings nur aus den rund 12 Kilometern der „Beckinger Saarblicke“, während ich heute nach ungefähr sechs Kilometern auf den nicht weit entfernten Litermont-Sagenweg zu wechseln gedenke, so dass am Ende alles in allem gut 30 Kilometer zusammenkommen dürften.
Damals sah der Beginn der Tour ungefähr so aus: Ich lief auf einem schmalen Trampelpfad an dieser verfallenden, alten, von Goldrutenstauden umwucherten Güterhalle vorüber, in die man fast hineinfällt, wenn man aus dem Zug auf den Beckinger Bahnsteig tritt, und kaum war ich um die Ecke gebogen, befand ich mich auch schon im Wald und stieg ich weiß nicht wie viele Treppenstufen hinauf, an deren Ende der Weg dann an einem schwarz aus der Erde hervorwachsenden Bunker vorüber beinahe sofort wieder bergab führte.
Heute aber gehe ich gerade einmal fünfzig Schritte weit – wenn überhaupt -, dann stehe ich vor einer Absperrung, die den Eindruck erweckt, als existiere sie bereits seit dem Perm und als würde sie auch noch für die nächsten hundert Millionen Jahre bestehen, und statt die erwähnten Stufen hinaufzusteigen, bleibt mir nichts übrig, als mich nach rechts zu wenden und über einen abgenutzten Asphaltweg zu trotten.
Zweihundert Meter weiter dann doch der erste Anstieg – nicht über eine Treppe, sondern lassoknotenähnliche Windungen hinauf.
Am Wegrand Farnstauden und Gestrüpp.
Die Bäume sind so dicht belaubt, dass trotz des hellen Sommertages kaum Licht durchs Geäst dringt. Nur ab und zu schafft es der Ausläufer eines verirrten Sonnenstrahls bis fast zum Boden.
Nicht lange und ich stoße auf jenen Bunker, der Teil des von den Nazis errichteten Westwall-Bunkersystems gewesen ist.
Was bedeutet, dass ich nicht länger irgendeiner Umleitung folge, sondern jetzt endlich auf der mir bekannten Route der Saarblicke unterwegs bin.
Wenig später laufe ich über eine Achterbahn von Wanderpfad erst in die mir aus irgendeinem Grund von damals noch deutlich im Gedächtnis verankerte Senke hinunter, um dann danach aber sofort wieder nach oben zu steigen.
Derweil löst sich das Schattendunkel zusehends auf und weicht flirrendem Sonnenlicht.
Noch ein Bunker.
Ein graues Betonungetüm, halb ins Erdreich eingesunken.
Ursprünglich gab es mal sage und schreibe mehr als 150 davon allein in der Umgebung von Beckingen.
Aus den Augenwinkeln bemerke ich eine Bewegung am linken Rand des Bunkers.
Im ersten Moment sieht es aus, als würde sich etwas aus dem dichten Laub hervorwühlen, aber es ist nur ein Windstoß, der ein paar Blätter aufgewirbelt hat.
Ein paar Meter weiter schon wieder eine Absperrung, wie beim ersten Mal auch wegen Windbruchs.
Ich trabe zum Wald hinaus und gelange auf einen asphaltierten Weg, an den ich mich ebenfalls noch gut erinnere.
Windstille.
Ein Himmel, nicht blau, nicht grau, nicht weiß, aber von allem etwas.
Wiesen, die Richtung Horizont zehn Zentimeter von den Wolken entfernt zu sein scheinen.
Mein Blick gleitet von einer Seite zur andern, den Wegrand entlang, verliert sich in der Landschaft.
Nichts rührt sich.
Es ist, als würde ich mir einen Film anschauen und jemand hätte das Bild angehalten.
Kurz nachdem ich Kilometer eins passiert habe, endet der Asphalt und wird von einem beschaulichen Wiesenpfad abgelöst, der zwischen Hecken, Büschen und Bäumen den Hügel hinaufführt.
Manchmal begrenzt auch struppiges, dürres, strohartiges Gras den Pfad.
Immer noch regt sich kein Lüftchen.
Aber es wird stetig wärmer und heller.
Letzteres ist allein schon deshalb von Vorteil, weil sich von nun an immer wieder mal der eine oder andere Fernblick bietet.
Ich erkenne Dutzende von Hügelsträngen, je weiter entfernt, desto blasser und desto weniger wirklich.
Ganz weit hinten dann nur noch Himmel.
Von weiter oben sieht das Ganze um einiges reliefartiger aus, so, als hätte jemand einzelne Teile der Landschaft mit einem Schnitzmesser bearbeitet. Man muss nicht einmal allzu genau hinschauen, um die topografischen Details voneinander unterscheiden zu können.
Im Augenblick kommt es mir bei den Fernblicken aber nicht allzu sehr auf Einzelheiten an. Es genügt mir, den Blick schweifen und das, was ich sehe, auf mich wirken zu lassen.
Die feste Erde unter meinen Füßen zu spüren, den allmählich aufkommenden leichten Wind zu registrieren und so weiter.
Von mehreren Punkten aus sieht man nicht allzu weit entfernt Rauch aus den Hochöfen der Dillinger Hütte aufsteigen.
Der helle Streifen weiter rechts ist die Saar, die von hier oben ziemlich schmal wirkt. Gut zwanzig Kilometer flussabwärts bei der Saarschleife sieht das schon ein wenig anders aus.
Irgendwie ist das alles aber immer noch Prolog.
Einfach deshalb, weil ich bis jetzt gerade mal zwei Kilometer gewandert bin, und zwar auf einer Strecke, die ich bereits kenne.
Kurz hinter Kilometer zwei stoße ich auf den historischen Kohlemeiler, bei dem ich bei der Bietzerberger-Tour im Winter des vergangenen Jahres darüber nachgedacht habe, ob ich auf dem Bietzerberger weitergehen oder auf die Beckinger Saarblicke wechseln soll.
Damals war es ab dem frühen Nachmittag so düster wie in einem Eisenbahntunnel.
Heute dagegen blüht und leuchtet überall der Sommer.
Damals: Bis kurz nach Mittag ein stürmischer, böiger Wind, so dass ich mir mitunter vorkam wie in einem Paddelboot bei schwerer See.
Heute: Ab und zu ein sanfter Luftzug, kaum stark genug, um die Grashalme zu biegen.
Von dem Kohlenmeiler aus wandere ich weiter zum Fischerberghaus hinauf, einem Ausflugslokal, und dahinter habe ich endlich das Gefühl, den Prolog abgeschlossen zu haben und richtig mit der Wanderung zu beginnen.
Da ist dieser von den Wurzelspitzen bis zu den Baumwipfeln mit intensivem Licht angefüllte Wald, durchzogen von sich ständig auflösenden und wieder erneuernden Schattenlinien.
Da sind die stillen und dauerhaft in der Stille verharrenden Waldwege und die fußbreiten Pfade an Wiesen und Weiden vorüber.
Da sind diese weit in einer unbestimmten Ferne sich verlierenden Waldgürtel, die wellenförmigen kleinen Anstiege, auf deren Spitze man zuläuft wie auf den Scheitelpunkt einer erstarrten Brandungwelle.
Und da ist diese Linie im Ungefähren irgendwo zwischen mir und dem Rande meines Blickfeldes – diesseits davon Variationen von Grün, jenseits davon optisches Rauschen.
Allzu weit bin ich jetzt nicht mehr von der Stelle entfernt, an der ich die Beckinger Saarblicke verlassen und mich auf den zweiten Wanderweg des Tages – den Litermont-Sagenweg – begeben will.
Ich wandere an einer Koppel vorüber, und zum ersten Mal an diesem Tag gibt es so etwas wie spürbaren Wind.
Kurz darauf zwängt sich der Pfad zwischen streichholzdünnen Bäumen hindurch und zwei Herzschläge später wird es mit einem Mal dunkel wie im Innern einer Höhle.
Nach ein paar Sekunden allerdings merke ich, dass es zwar nicht gerade hell, aber doch nicht ganz so dunkel ist, wie ich im ersten Moment angenommen habe.
Der Pfad führt ziemlich steil bergab.
Gut so, denn so komme ich ziemlich rasch voran und bin hoffentlich sehr bald wieder heraus aus diesem Wald.
Denn allzu erbaulich ist es nicht, was ich zu sehen bekomme. Überall liegen abgebrochene, zerfetzte Äste herum, geborstene und umgeknickte Baumstämme ragen in den Pfad herein oder wölben sich wie kleine Brücken von einem Rand der schluchtähnlichen Hänge zum anderen.
Nach einem gut instandgehaltenen Wanderweg sieht das nicht gerade aus.
Erst als ich die Passage ohnehin schon hinter mir habe, wird mir klar, dass sie gesperrt ist. Nur dass sich die Absperrung und der entsprechende Warnhinweis lediglich am unteren Ende der Schlucht befinden, wo sie mir nichts nutzen, wenn ich aus der entgegengesetzten Richtung komme.
Sieben Kilometer und schon drei gesperrte Streckenabschnitte. Da darf ich ja gespannt sein, was mich in dieser Hinsicht auf dem Litermont-Sagenweg erwartet.
Es geht auf zwölf Uhr zu.
Mittlerweile ist es so warm, wie man es an einem Tag im August erwarten kann.
Das Licht scheint dünn, aber fast grell durch das Blattwerk hindurch.
Gut möglich, dass es am Nachmittag noch richtig heiß werden wird, aber das ist immer noch besser als irgend so ein trübseliger, finsterer Tag, an dem es keine Hoffnung auf den kleinsten Lichtstrahl gibt und alles aussieht wie der Drehort für einen dystopischen Alienfilm.
Auch dann kann das Gehen selbstredend funktionieren.
Es funktioniert im Grunde immer, solange man selbst bereit ist, sich auf die Dinge einzulassen.
Nach ziemlich genau der Hälfte der Beckinger Saarblicke mache ich mich auf in Richtung Litermont-Sagenweg.
Dazu muss ich allerdings gut einen Kilometer an einer Straße entlangmarschieren, auf der die Autos dahinrasen, als wären die Fahrer auf der Flucht vor einer angreifenden Armee von Untoten.
Der Seitenstreifen, auf dem ich mich bewege, ist zwar recht breit, aber wann immer es geht, halte ich mich noch weiter links, auch wenn sich da meine Füße durch alle möglichen Bodengewächse kämpfen müssen.
Ich gehe so rasch wie nur möglich, und als ich es endlich überstanden habe, bleibe ich erst einmal ein paar Sekunden am Waldrand stehen und atme kräftig durch.
Fünf Minuten später ist das unangenehme Intermezzo schon wieder vergessen.
Um mich herum tiefe Stille, die sich nach und nach in Blattrauschen, Vogelgezwitscher und menschliche Stimmen auflöst.
Ein paar hundert Meter laufe ich einen breiten Waldweg entlang, aber mit dem ersten Schritt auf dem Sagenweg wird daraus so etwas wie ein kalligraphisches Kunstwerk.
Verschnörkelte schmale Pfade, an vielen Stellen von Wurzeln übersät, immer wieder kleine Kurven und Schleifen.
Grünes Licht überall, mal hell, mal dunkel, manchmal hüllt es die Baumstämme ein bis hinab zum Erdreich, dann wieder weht es für Sekunden über die Baumwipfel davon wie Staub, den der Wind mit sich trägt.
Der Boden ist trocken, aber trotzdem ganz weich, wie nach einem länger zurückliegenden Regen.
Kniehoher Farn am Wegrand.
Darüber oft ein erstaunlich dichtes Blätterdach.
Dadurch wirkt der Wald fast wie ein geschlossener Raum.
Die erste halbe Stunde auf dem Litermont-Sagenweg könnte großartiger kaum sein.
Danach wird es dann allerdings erst einmal um einiges profaner.
Wieder so eine Absperrung, diesmal sogar mit dem Hinweis Achtung Lebensgefahr.
Ich laufe einen riesigen Halbkreis, aber danach bin ich immer noch nicht wieder zurück auf dem Sagenweg, sondern muss noch eine ganze Weile länger den weißen Schildern mit dem Umleitungspfeil folgen.
Der asphaltierte Feldweg, auf dem ich irgendwann lande, hat etwas von Endstation totes Gleis.
Weite Felder, ein wolkenverhangener, tiefer Himmel, und eben dieser Asphaltweg.
Allzu sehr überrascht wäre ich nicht, wenn irgendwann mitten auf der Straße ein Prellbock mit der Aufschrift Kein Durchgang stehen würde.
Kurz darauf entdecke ich allerdings, zwischen Bäumen versteckt, ein einsam stehendes Haus.
Ziemlich genau dort endet der Asphaltweg und die nächsten zweihundert oder dreihundert Meter wandere ich über eine holprige Wiese, die eine ganz willkommene Abwechslung darstellt.
Viel wichtiger aber – ich bin endlich zurück auf dem Sagenweg.
Und kaum ist das der Fall, ist es vorbei mit Waldwegen, die so breit sind wie Autobahnen, und mit Toter-Gleis-Atmosphäre.
Ich wandere durch ein Prachtexemplar von Forst, in dem die Bäume mal nicht so weit auseinanderstehen wie die auseinandergebrochenen Pfeiler einer Tempelruine. Im Innern des Waldes sieht es aus wie in einem erleuchteten Aquarium.
Es dauert auch nicht lange und schon laufe ich wieder einen dieser malerischen Pfade entlang, bei denen man wie von selbst vorankommt.
Von Atemzug zu Atemzug wird es jetzt heller.
Binnen Minuten ist so ziemlich jeder farblose Flecken vernichtet. Aus Blassgrün wird Zitronengrün, aus Fahlgelb irgendetwas Leuchtendes.
Für einen Augenblick stelle ich mir das alles in verschwenderischem Herbstlicht vor, oder vielmehr, es ist einfach ein Bild, das für Sekunden vor meinem inneren Auge entsteht und sich beinahe sofort wieder in Nichts auflöst.
Mit einem Mal fällt mir auf, dass es so geräuschlos ist, als hätte jemand den Lautstärkeregler auf null gedreht.
Ich wandere in leichte, beinahe durchsichtige Schatten hinein.
Durchschreite eine Mulde, die kaum breiter ist als ein Bachbett.
Trage die Stille dieses Augenblicks weiter mit mir.
Am Wegrand eine kleine Schutzhütte, eigentlich wie geschaffen für eine Rast, aber mir steht im Moment der Sinn nicht danach, eine Pause einzulegen.
Der Pfad steigt wieder ganz leicht an, wird jedoch stetig steiler und führt in eine Zwischenwelt wuchernder Farne hinein.
Ich wandere über die Kuppe des knapp 400 Meter hohen Wehlenberges hinweg, und nachdem ich ein Dickicht aus Büschen und Bäumen durchquert habe, stehe ich ziemlich unvermittelt auf einer Straße, die wie mit dem Messer geschnitten den Wald durchschneidet.
Links eine Gaststätte mit ein paar parkenden Autos.
Am gegenüberliegenden Straßenrand eine niedrige, fast im Gesträuch verschwindende grüne Ortstafel mit der Aufschrift „Litermont“.
Ich überlege kurz, wie da wohl die genauen Zusammenhänge sind.
Eine eigenständige Gemeinde Litermont existiert nicht, das zeigt ja schon die grüne Ortstafel. Wahrscheinlich gehören die Gaststätte und die Straße zur Gemarkung Nalbach.
Ebenso wie der auf etwas über 400 Meter ansteigende Höhenzug Litermont, nach dem der Litermont-Sagenweg und auch die benachbarte Litermont-Gipfeltour benannt sind.
Der Litermontgipfel ist nur ein paar hundert Meter von hier entfernt und ich könnte eigentlich einen kleinen Abstecher dorthin machen, verzichte aber darauf.
Ich halte mich jetzt nicht länger mit Überlegungen auf und setze meinen Weg fort.
Zwei Wanderer trotten ein paar Meter weiter über die Straße und verschwinden auf dem Pfad, auf dem ich hierhergekommen bin. Es sind die beiden einzigen Wanderer, die mir auf der gesamten Tour begegnen.
Mit dem ersten Schritt von der Straße herunter bin ich wieder im Wald.
Leichter Wind, irgendwo zwischen kaum spürbarem Luftzug und einer Art Flüstern im Geäst.
Es ist mittlerweile ein nahezu perfekter Hochsommertag.
Nicht zu heiß, klares, helles Licht, und dazu ein paar vereinzelte Ingredienzen des nahen Indian Summers.
Ich laufe ein paar Treppen hinauf und hinab, treibe wie ein Ruderer in der Morgensonne ins Licht hinein, kurz darauf aber schon wieder in ein spärliches, rätselhaftes Halbdunkel. Schattentüren öffnen und schließen sich, manchmal ist über mir ein breites, grelles Stück Himmel, manchmal scheinen sich Stämme und Astwerk mehrerer Bäume zu einem einzigen Organismus zusammenzuschließen und es wird buchstäblich von einem Schritt zum nächsten so dunkel, als würde ich ein Kellergewölbe betreten.
Und während ich gehe und gehe, wandelt sich mein Denken.
Nicht spektakulär, nicht alle Dinge, die bisher Geltung hatten, von Grund auf und für immer verändernd.
Aber eine Spur mehr Leichtigkeit ist darin, eine Spur mehr Unbefangenheit, vielleicht auch Unvoreingenommenheit.
Das genügt mir schon.
Ich weiß gar nicht, wie oft ich inzwischen bis auf die Spitze eines der vielen Hügel hier ringsum hinaufgestiegen und danach so lange wieder bergab gelaufen bin, bis ich mich wieder in irgendeiner Senke befunden habe, aus der es dann natürlich sofort wieder nach oben ging.
In einer dieser Senken stoße ich auf einen Stollen des historischen Kupferbergwerkes Düppenweiler, dessen Anfänge weit ins 18. Jahrhundert zurückreichen und das immerhin erst nach fast 200 Jahren zu Beginn des 1. Weltkrieges endgültig stillgelegt wurde.
Der Stollen erlaubt so etwas wie einen geglätteten Blick in eine Vergangenheit, in der es normal war, 12 Stunden und länger in einem dunklen, engen Loch schwerste körperliche Arbeit zu verrichten, zu der teilweise selbst Kinder herangezogen wurden.
Zwanzig oder dreißig Meter bewege ich mich durch ein von Lampen erleuchtetes, niedriges Gewölbe, in dem es wahrscheinlich nicht einmal halb so finster und beengend ist wie zu den Zeiten, als hier wirklich noch nach Kupfererzen gegraben wurde, aber den Zweck, Interesse an der Thematik allgemein und diesem Bergwerk im Speziellen zu wecken, den erfüllt dieser Stollen voll und ganz.
Zurück im Licht, kommt mir eine halbe Minute lang alles besonders hell vor.
Ich muss mich erst einmal orientieren.
Laufe einen kleinen Abhang hinauf bis zu einer Kapelle, die ebenfalls zu dem Bergwerk gehört bzw. gehörte, dann wieder zurück.
Wenn mich nicht alles täuscht, dann ist das hier der offizielle Startpunkt des Sagenweges.
Ich selbst bin um Kilometer neun herum eingestiegen, habe auf dem Sagenweg also exakt die fehlenden neun Kilometer noch vor mir.
Ich steige mal wieder eine Treppe hinauf. Die Stufen folgen unregelmäßiger aufeinander als die Buchstaben auf mittelalterlichen Ritzinschriften, aber sie fügen sich trotzdem ganz dekorativ in die Umgebung ein.
Ich wandere über eine weitere Kuppe hinüber und danach durchstreife ich für ein paar hundert Meter einen Wald, der fast so etwas wie die exakte Kopie des Abschnitts ganz zu Beginn des Sagenwegs ist.
Wurzeladern, kleine Steine am Wegrand, Moos, das in der Nachmittagssonne glänzt, ein Licht wie aus anderen Sphären.
Auch die eine oder andere Treppe darf natürlich nicht fehlen.
Später werden die Treppen von gewundenen hölzernen Stegen abgelöst, die optisch ganz ansprechend wirken, wenn man von den Stellen absieht, an denen ich morsche oder zerbrochene Bretter umkurven muss.
Später Nachmittag.
Eine kleine Kapelle im Nirgendwo.
Lied des Sommers.
Wiesen, Weiden, Hügel, so weit das Auge reicht.
Mein Blick wandert über den Himmel bis zur Horizontlinie.
Man möchte in die Sonne hineinwandern.
Man möchte gehen, wohin die Füße einen tragen.
Die Welt scheint in alle Richtungen offenzustehen.
Ich trotte über eine Asphaltstraße, wahrscheinlich einer dieser versteckten Verbindungswege zwischen zwei Dörfern.
Einmal oder zweimal muss ich einem entgegenkommenden Auto ausweichen, trotzdem wirkt die Gegend kaum weniger einsam als ein Hochmoor im Nebel.
Nur dass sie um einiges einladender aussieht.
Nichts fehlt, nichts Wesentliches jedenfalls.
Immer wieder lese ich, dass Wanderer so begeistert von einem Weg oder einem Fernblick sind, dass sie alles um sich her vergessen, aber ich zumindest will gar nicht alles um mich herum vergessen, es gibt nichts, was ich weniger möchte. Wenn ich alles um mich herum vergesse, dann ist es gleichgültig, wo ich bin.
Eigentlich hätte ich nichts dagegen, auf diesem Asphaltweg noch ein bisschen länger gemächlich dahinzurollen, aber nach einer Weile zweigt der Sagenweg nach links ab.
Ich überquere eine zum Glück leere Weide, laufe über einen jener in den Wald hineingebauten Stege, und danach über einen wie ein Teppich unter meinen Füßen ausgerollten Wiesenpfad.
Die Sonne steht nur noch eine Handbreit über den Bäumen. Es ist heiß, aber nicht so, dass man am liebsten den Schatten nicht mehr verlassen würde.
Während ich das Gelände des Wilscheider Hofes überquere, fasse ich den Entschluss, auf die zweite Hälfte der Beckinger Saarblicke zu verzichten und zum Bahnhof zu marschieren.
Ich habe das Gefühl, als hätten sich für heute alle Teile so zusammengefügt, dass nichts mehr fehlt, und etwas Besseres kann man schließlich zum Abschluss einer Wanderung kaum sagen.
Von einer nicht allzu langen Passage abgesehen, bei der ich unmittelbar an der Landstraße entlanglaufen muss, besteht der Rest des Sagenweges aus schönen Waldpfaden, die das Nachmittagslicht besonders gut in Szene setzt, dem einen oder anderen Bergrücken und aus einsamen Wiesen, über die federleichte Sommerwolkengebilde hinziehen.
Irgendwann höre ich an dem stetig anwachsenden Autolärm, dass ich mich wieder der Landstraße nähere, auf der ich vor ein paar Stunden von den Saarblicken zum Sagenweg gelangt bin. Es bleibt mir nichts anderes übrig, als wieder daran entlangzumarschieren, wobei ich eher noch rascher gehe als am Vormittag.
Kaum habe ich den Ortsrand von Beckingen erreicht, wird es schlagartig entspannter.
Die gut zwei Kilometer, die ich von hier an noch zum Bahnhof zurückzulegen habe, sind im Grunde nur noch so etwas wie ein Auslaufen, ein Epilog.
Noch eine Tour von Beckingen aus:
Tour 20 „Beckinger Saarblicke“
Bereits vor dieser Tour ist eine wichtige Entscheidung ge-
fallen: Im April nächsten Jahres werde ich meine Ankündigung
wahrmachen und den 930 Kilometer langen Fränkischen
Marienweg in Angriff nehmen. Mir schwebt vor, das Ganze
in 5 x 5 Etappen hinter mich zu bringen, vielleicht auch in
5 x 6. Ein wenig Flexibilität muss ich mir da gestatten. Für
die erste Sequenz… weiterlesen Bildergalerie
4 Comments
Mata
Ganz toller Text wieder und eine wunderbare Wanderung, der Schilderung und den Fotos nach zu urteilen. Bin gespannt, wohin es dich im Herbst zieht.
Grüße,
Mata
gorm
Vielen Dank für den positiven Kommentar, freut mich sehr.:-)
Eine Wanderung im Herbst steht schon fest, nämlich eine weitere Tour auf dem Lahnwanderweg. Es wird sicher noch mehr Herbstwanderungen geben, aber welche, ist noch offen.
Beste Grüße
Torsten
Jana
Lieber Torsten, ich habe es ja schon öfter mal gesagt: Nach dem Lesen deiner wunderbaren Texte, die deine Touren stets so anschaulich beschreiben, möchte ich immer sofort meine Wanderschuhe anziehen und loslaufen! Hier hattest du dir wieder eine sehr schöne, abwechslungsreiche Tour zusammengestellt – die Bilder ergänzen deine Beschreibungen sehr gut. In diesen Stollen konnte man tatsächlich einfach so hineingehen?
Vielen Dank für diesen ausführlichen, wieder sehr gelungenen Blogtext, ich freue mich schon auf den nächsten.
Liebe Grüße
Jana
gorm
Hallo, liebe Jana.:-) Es war insgesamt eine gelungene Tour mit sehr hohem Waldanteil. Man kann ín den Stollen tatsächlich einfach so reingehen. Am Eingang ist lediglich ein Schild angebracht, man solle doch bitte die Tür richtig schließen. Zu dem Besucherbergwerk gehört wohl auch ein richtiger Schacht, in dem Führungen gemacht werden, aber den habe ich nicht zu Gesicht bekommen. Alles in allem eine schöne Tour, aber jetzt lege ich erst einmal eine Pause ein, was das westliche Saarland betrifft, nachdem mich ja schon die Cloef-Tour in die Gegend dort geführt hat.
Vielen Dank für deinen Kommentar & liebe Grüße
Torsten