TOUR 35: MERZIG BHF – SCHLOSS FELLENBERG – WOLFSWEG
Stille liegt über dem Wald.
Eine Stille, so vollkommen, dass jegliche Bewegung zur Ruhe gekommen ist.
Ich gehe sehr langsam.
Die Erde schmiegt sich an meine Schuhe, fast, als würde der Pfad unter meinen Füßen lebendig werden.
Die Sonne über den Bäumen ist weiß und warm und hell wie ein Gammastrahlenblitz.
Dann kommt ein ganz leichter Wind auf. Kaum spürbar streicht er durch die Wipfel der Bäume und zwischen den Stämmen hindurch.
Ich verharre einen Moment.
Lausche auf etwas, das einen Herzschlag lang jenseits der Stille zu sein scheint oder vielleicht auch ein Teil davon ist, so als hätten plötzlich all die Farben um mich herum Stimmen bekommen.
Ich bin schon eine ganze Weile unterwegs.
Mehr als sieben Kilometer habe ich bereits hinter mir.
Vom Bahnhof in Merzig bin ich um Schloss Fellenberg gewandert, habe mir kurz den unmittelbar neben dem Schloss liegenden Skulpturenpark zu Gemüte geführt, und von da bin ich unter einem Himmel so blau wie das Wasser in der Lagune von Bora Bora kilometerweit zum Wolfsgehege am Rande der Stadt marschiert.
Auch diesen Wolfspark habe ich bereits durchschritten.
Der Park ist nach seinem mittlerweile verstorbenen Gründer Werner Freund benannt, dessen Wirken internationale Beachtung gefunden hat. Auf seinem Grabstein steht schlicht „Wolfsforscher“, womit wohl hinreichend zum Ausdruck kommt, was im Leben dieses Mannes das Wichtigste gewesen ist.
Ein paar Wölfe habe ich tatsächlich zu Gesicht bekommen, immerhin, darunter sogar zwei weiße. Aber Viertelstunde um Viertelstunde vor einem Gehege lauern und mit dem Blick jeden Quadratzentimeter absuchen, stets in Lauerstellung, um nur ja keine Bewegung zu verpassen, das ist nichts für mich.
Es ist Tour eins nach den vier Etappen des Marienweges.
Vier Etappen, vier Tage.
Vier Tage lang ein fortwährendes Einlassen auf das Unbekannte.
Vier Tage, in denen ich unablässig mit dem Gehen beschäftigt war und in denen nahezu alle bewussten Gedanken wenigstens ganz entfernt mit dem Gehen zu tun hatten.
Vier Tage, die ich so intensiv erlebt habe, als wären es in Wahrheit zehn Tage gewesen.
Und sie wirken noch nach in mir, diese vier Etappen.
Während ich im Hier und Jetzt über einen schmalen Waldpfad wandere, ergänzen die inneren Bilder die äußeren. Ich durchforsche nicht etwa die Katakomben meiner Erinnerungen, sondern sie leuchten einfach auf hinter meiner Stirn wie Lichtbündel im Dunkel.
Ich befinde mich jetzt ein paar hundert Meter vom Wolfspark entfernt.
Steige über ein Gewirr von Ästen und dünnen Stämmen hinweg.
Laufe dann eine ganze Weile durch einen Wald, in dem das Spiel von Licht und Schatten und Farben eine Atmosphäre schafft, als bewegte ich mich durch die ausufernden Visionen eines Naturlyrikers.
Es ist vor allem das Grün.
Es füllt alles aus, nimmt alles ein, sickert von allen Seiten in das Landschaftsgemälde hinein.
Ab und zu muss ich einen kurzen Anstieg bewältigen, meistens aber trabe ich auf ebenen, geschwungenen Pfaden zwischen Bäumen, niedrigen Sträuchern und wucherndem Gras dahin.
Man kann nicht gerade sagen, dass die Wanderer hier umherschwirren wie Gesteinsbrocken in einer Kometenwolke.
Ich begegne so gut wie niemandem.
Für einen oder zwei Kilometer erhöhe ich jetzt ein wenig das Tempo.
Ich überquere eine Landstraße, die ganz unvermutet meinen Weg kreuzt, stapfe ein paar flache Stiegen empor und dann wandere ich wieder Minute um Minute auf einem tischebenen Waldpfad dahin.
Mit einem Mal dunkleres Licht, stumpfere Farben.
Die eben noch in allen möglich Abstufungen leuchtende und schimmernde Landschaft sieht jetzt aus wie ein uraltes, verblichenes Urlaubsfoto.
Wieder ein paar Stiegen hinauf.
Dann offenes Gelände.
Das Auge ist dankbar, dass es mal ein wenig in die Ferne blicken darf.
Auf den nächsten Kilometern ändert sich kaum etwas.
Wiesen, Sträucher, Fernblicke.
Nichts, das ein bleibendes Echo hervorruft in mir, aber auch nichts, das völlig unbeachtet bleibt.
Während der ganzen Zeit hoffe ich, dass die Sonne sich endlich wieder zeigt, denn ich nähere mich dem Garten der Sinne, und den würde ich eigentlich gerne bei richtiger Frühlingsatmosphäre erleben und nicht unter einem Himmel, der so schwarz ist wie Draculas Seele. Ganz so schlimm ist es natürlich nicht, doch die Sonne bleibt fürs Erste verschwunden.
Etwa eine Stunde lang halte ich mich im Garten der Sinne auf.
Jeder Atemzug hier bedeutet einen neuen Duft, jeder Blick ein neues Bild. Bei nahezu jedem Schritt, den ich dem Pfad durch den Garten folge, entdecke ich etwas, das auf irgendeine Art und Weise meine Aufmerksamkeit in Anspruch nimmt.
Nach dieser einen Stunde und dem Durchschreiten der verschiedenen Gartenabschnitte wie etwa dem Wassergarten oder dem Meditationsgarten fühle ich mich innerlich vollkommen ausbalanciert, verankert in mir selbst sozusagen.
Kaum habe ich den Garten verlassen, meldet sich die Sonne zurück.
Ich laufe an blühenden Kirschbäumen vorüber auf ein blaues Himmelsmeer zu.
Kurz darauf trabe ich eine Anhöhe hinauf und dann endlich wieder in den Wald hinein.
In irgendeinem Winkel meines Gehirns blitzt der eigenartige Gedanke auf, dass ich auf meinen Wanderungen ein mit jedem Schritt deutlicher hervortretendes Design erschaffe, ein unverwechselbares, auf niemanden sonst zutreffendes Muster all der Orte, die ich berührt, all der Richtungen, die ich eingeschlagen habe, all der Wege, die ich gegangen bin.
Nichts in mir denkt heute jedoch auch nur eine einzige Sekunde lang darüber nach, worauf ich mit dem Gehen hinauswill. Irgendwie ist dafür nicht der richtige Zeitpunkt.
Wie weit der Himmel durch das helle Licht plötzlich wieder erscheint! Wie fest und scharf die Konturen und Linien der Landschaft.
Aber dann steige ich in eine Kerbschlucht hinab und die Konturen lösen sich nach und nach auf, verlieren ihre Schärfe.
Ein beinahe unwirkliches Feenlicht flirrt unter den Bäumen und zwischen den Blättern, ein schimmerndes Gespinst aus hellem Grün und einigen dunkleren Farbtönen.
Ich sehe oder erahne vielmehr, wie die Schatten in der Schlucht sich ein klein wenig tiefer herabsenken.
Ich spüre die Stille einer Abgeschiedenheit, die aber nicht etwa Isolation bedeutet, sondern Entspannung, Loslassen.
Das sind die Augenblicke beim Gehen, in denen ich mich fühle, als hätte ich nach zahllosen vergeblichen Versuchen eine uralte, aus seltsamen Zeichen bestehende Schrift endlich entziffert.
Danach stapfe ich über viele Stufen wieder nach oben und laufe noch eine Zeitlang durch einen Frühlingswald, wie er im Buche steht, begleitet von der unhörbaren Musik der Landschaft.
Es ist die Musik des hellen Grüns der Wiesen und des dunkleren Grüns der Bäume, des weiß leuchtenden Sonnenrades und des zum Horizont hin stetig heller werdenden Blaus des Sommerhimmels.
Dann bin ich zurück am Wolfspark, wo der Rundweg endet.
Von dort laufe ich ganz gemächlich in den beginnenden Abend hinein zurück zum Bahnhof.
8 Comments
Silbia
Also auf zum 2. Versuch, dir einen Kommentar zu hinterlassen…
Dass alles gelöscht wird, wenn der Chapta Code angeblich nicht übereinstimmt, ist heftig.
Dabei war er klar und groß geschrieben und ich bin mir sicher, es so auch eingetippt zu haben.
Brauchst du diese Sicherung so dringend?
Schön, deine Beschreibung des gehens, des Lichtes, der Stille und Sinne.
An jedem Punkt können die Gedanken anknüpfen und sich weitertragen lassen – und meine tun es auch.
Der Garten der Sinne ist sicher interessant. Ich denke an den Naturerlebnispfad hier im Naturschutzgebiet.
Liebe Grüße,
Silbia
gorm
Ja, der Code kann nerven und ich werde mir eine Lösung überlegen.
Der Wolfsweg an sich war gar nicht besonders lang, mit dem Garten der Sinne zusammen vielleicht 11 bis 12 Kilometer, aber es war ein teilweise wunderbarer Weg durch schönen Frühlingswald. Es kommt immer auch ein wenig auf die Umstände an. Bei Tour 37 z. B., die ich in den nächsten Tagen veröffentlichen werde, war der Pfad eigentlich sogar noch deutlich schöner, aber im zweiten Teil der Strecke musste man zeitweise alle paar Meter stehenbleiben, um auf dem schmalen Pfad entgegenkommende Wanderer vorüberzulassen.
Ich freue mich, dass meine Schilderung Dich anspricht.:-)
LG
Torsten
Katrin Mämpel
Wieder eine tolle Wanderbeschreibung. Ich habe dann immer Lust, deine Wege nach zu wandern. Machst du dir während deiner Wanderung Notizen oder schreibst du aus dem Bauch raus? Danke für den tollen Bericht.
gorm
Vielen Dank für diesen positiven Kommentar!:-) Nein ,ich mache mir keine Notizen, jedenfalls nicht eigens für die Wanderung. Ich habe grundsätzlich ein Notizbuch dabei, in das ich ganz allgemein Formulierungen eintrage, die mir einfallen. Als Gedächtnisstüze mache ich sehr viele Fotos.
Diesmal war das Problem, dass ich durch den Marienweg etwas hinterherhinke. Ich habe heute schon Tour 38 hinter mich gebracht, aber erst Tour 35 veröffentlicht. In der nächsten Woche will ich alles auf den neuesten Stand bringen.
Grüße
Torsten
Ursula Dahinden-Florinett
Wunderschön geschilderte Tour 35. Die Stille, die Sonne, der Wind, der Himmel, die Landschaft die Fernblicke mit dem Licht und Schatten der Natur ist für mich so gut und vorstellbar erzählt.
Es ist einfach ein Vergnügen Deine Wanderungen zu lesen – ein literarischer Schmaus – den ich mir nicht gerne entgehen lassen würde.
Ein Bericht für die Sinneswahrnehmung der eigenen Empfindungen, natürlich auch mit Schwerpunkt deiner gesetzten Ziele.
gorm
Vielen Dank, liebe Ursula!:-)
Letztlich hat der Pfad die Vorlage geliefert mit dem, was er dem Wanderer bietet. Meine Touren setzen sich mittlerweile ja häufig aus sehr unterschiedlichen Streckenabschnitten zusammen. Das war diesmal wieder genauso. Erst der kurze Gang durch die Stadt, dann dieser Premiumwanderweg. Und der war nicht zuletzt durch die Frühlingsatmosphäre ein Fest für die Sinne.
Wenn es so weitergeht, werde ich die Premiumwege hier im Saarland bald alle abgwandert haben.:-)
LG Torsten
Mata
Einfach wieder toll geschrieben!
Grüße,
Mata
gorm
Und ich sage wieder einmal vielen Dank für das positive Feedback!:-)