Tour 34 – 2. Tag: Von Retzbach nach Lohr am Main
Es ist immer noch anders.
Auch am zweiten Tag.
Oder vielmehr gerade am zweiten Tag, denn schließlich ist es das erste Mal überhaupt, dass es einen zweiten Tag gibt.
Noch ist der erste Tag sehr präsent, manchmal nur als Aufblitzen eines Bildes oder einer Empfindung, manchmal aber auch als bewusstes, gelenktes Erinnern. Manches ist bereits jetzt dabei, sich zu verflüchtigen, abzusinken in tiefere Schichten des Vergessens, manches läuft nur noch unterschwellig ab, wird verdrängt und überlagert von den Eindrücken des neuen Tages.
Meine Sinne und Gedanken sind einerseits auf das Erlebte des vergangenen Tages ausgerichtet, zugleich aber auch auf das unbekannte Neue, das vor mir liegt.
Und so oder so ähnlich wird es auch in den kommenden Tagen sein. Es gibt das Alte und das Neue, das Vergangene und das Gegenwärtige. Es ist, als vollziehe sich neben der äußeren Reise mit ihren zahlreichen Stationen und all den Eindrücken gleichzeitig eine innere.
Das Wichtigste aber: Vor Beginn dieses zweiten Tages fühle ich mich so ausgeruht, als hätte es die rund 25 Kilometer des ersten Tages gar nicht gegeben. Das Gehen fällt mir so leicht, als würde ich über Wolken dahinschreiten.
Gegen neun Uhr mache ich mich auf den Weg.
Auf den ersten Kilometern trabe ich sehr gemächlich dahin.
Wiesen. Felder. Blühende Bäume.
Und ein stetig heller werdendes Licht, das jedes Detail der Landschaft deutlich herausarbeitet.
Auch heute spüre ich nicht einen Hauch von Ungeduld oder Rastlosigkeit.
Nirgends, nicht einmal am entferntesten Rande meines Bewusstseins, rotiert der Wunsch, in möglichst kurzer Zeit möglichst viele Kilometer zurückzulegen.
Ich bin im Einklang.
Mit mir selbst, mit allem, was geschieht.
Natürlich ist das kein immerwährender, für alle Zeiten geltender Zustand. Aber an diesem Tag und auf diesen ersten Kilometern ist es so.
Als ich in Karlstadt ankomme, mache ich mich erst einmal auf die Suche nach einem Supermarkt.
Sich ein paar Kilometer lang zu fühlen, als sei man bei einem Meister des Zen in die Lehre gegangen, ist schön und gut, aber ohne Getränke und ohne Wegzehrung käme ich nicht weit, selbst wenn ich von allen Lehren sämtlicher Universen erleuchtet wäre.
In Karlstadt verbringe ich mehr – viel mehr – Zeit als ursprünglich beabsichtigt.
Mehrere Male durchquere ich die Altstadt, streife durch enge Gassen, spaziere über den Marktplatz hinweg, gehe vom Roten Turm am Mainufer entlang zum Maintorturm.
Mehr als eine Stunde lang werde ich zu einem Schlenderer, beinahe schon zu einem Flaneur.
Ich gehe, ich lasse meine Gedanken ziellos schweifen, ich beobachte, und das ist im Großen und Ganzen auch schon alles, was ich tue.
Die ganze Zeit halte ich dabei Ausschau nach dem Symbol des Marienweges, entdecke es aber nirgends.
Statt jedoch Zeit damit zu verschwenden, es zu suchen – und höchstwahrscheinlich vergeblich zu suchen – mache ich mich irgendwann auf zur Karlsburg am jenseitigen Mainufer und vertraue darauf, dass sich das Symbol irgendwo dort wieder auffinden lassen wird.
Und kaum habe ich die Mainbrücke überquert und befinde mich am Anfang des Aufstiegs zur Burg, erblicke ich es auch tatsächlich auf einem Schild über einer schmalen, steilen Treppe.
Auf dem Pfad hinauf zur Karlsburg komme ich aus dem Schauen gar nicht mehr heraus.
Überall um mich herum explodieren Farben, vor allem Grün.
Auf der Karlsburg selbst ist es nicht anders. Aber zu den Farbenexplosionen kommt hier noch die Aussicht über die weite, lichtdurchwirkte Landschaft hinzu.
Bis Lohr habe ich noch fast 30 Kilometer zu wandern.
Ich habe also noch viele, viele Stunden des Gehens vor mir.
Aber jetzt, in diesem Augenblick, und hier, an diesem Ort, kommt jede Bewegung zum Stillstand wie ermatteter Flügelschlag.
Es ist nur dieser eine Augenblick.
Aber er ist vielschichtig, dieser Augenblick, zusammengesetzt aus unzähligen Wahrnehmungsfragmenten, die noch nicht wirklich Bilder und noch nicht wirklich Geräusche sind, sondern Empfindungen. Eigentlich sogar noch weniger.
Von der Karlsburg aus bewege ich mich auf einem breiten Pfad in einen lichten Wald hinein.
Auf dem Boden zu meinen Füßen fein gesponnene Muster aus Schatten und Licht.
Immer noch diese Farbenexplosionen und immer noch vorwiegend in unterschiedlichen Variationen von Grün.
Dazu das sanfte Blau des Himmels über mir.
Das einzige Geräusch außer dem meiner Schritte ist das Rauschen in den Wipfeln der Bäume.
Ich schlage jetzt ein deutlich zügigeres Tempo an als bisher, denn es ist mittlerweile nach 13 Uhr und ich bin nicht auf einem weglosen Weg ins Nirgendwo unterwegs, sondern muss bis spätestens 20 Uhr in dem Hotel in Lohr eintreffen, in dem ich heute übernachten will.
Dann hat der Wald ein Ende und ich trabe auf einem Schotterweg dahin.
Später dann wieder Asphalt.
Felder, Äcker, Wiesen, so weit das Auge reicht.
Der Pfad verliert sich irgendwo in der schimmernden Weite.
Manchmal eilt mein Blick kilometerweit voran, doch immer wieder löst er sich vom Horizont, wandert über die Wiesen am Wegesrand oder fängt das Schattenspiel der Bäume ein.
Nach und nach löst sich jede noch so kleine Anwandlung von Dringlichkeit auf, wird einfach ausradiert von etwas viel Größerem, viel Stärkerem.
Man kann dieses viel Größere, viel Stärkere als innere Zufriedenheit bezeichnen oder als das Zusammenwirken verschiedener ähnlicher Empfindungen, aber ich muss auch nicht unbedingt allem eine unveränderbare und ewiggeltende Bezeichnung geben.
Nicht jetzt jedenfalls.
Nein, ich fange nicht an, den Bäumen Namen zu geben oder mit den Wolken zu sprechen, aber ich beginne, die Welt mit anderen Augen zu betrachten, nämlich mit den Augen des Wanderers, der nichts anderes tun möchte, als was er gerade tut – zu gehen.
Eine Bank, irgendwo im Niemandsland.
Ich lege eine kurze Rast ein. Die Landschaft leuchtet hell wie ein Galaxienkern. Ich horche kurz in mich hinein. In meinen Gedanken hallen diese letzten Kilometer noch nach wie ferne Echos.
Vor allem aber: Ich spüre noch immer nicht die geringste Müdigkeit. Es wäre auch wenig erbaulich, wenn sich mein Vorhaben mitten in einem abgeschiedenen Nirgendwo plötzlich als die übereilte Ausführung einer verschrobenen Laune entpuppen würde.
Kurz darauf trotte ich eine Landstraße entlang auf ein Dorf zu.
Unmittelbar hinter dem Ortsschild entdecke ich das Marienweg-Symbol an einem Straßenschild und nur wenig später, als ich von einer nicht allzu breiten Dorfstraße auf eine noch weniger breite Dorfstraße abbiege, sehe ich endlich auch mal einen Hinweis auf Kloster Mariabuchen, Wallfahrtsort Nummer fünf des Marienweges.
Wie weit ich bis dorthin noch zu gehen habe, steht allerdings nicht da.
Ein paar hundert Meter stapfe ich an Wiesen und Äckern vorüber, dann ein kurzes Stück bergauf.
Den Wald, den ich dann durchwandere, habe ich hinter mir, kaum dass ich so richtig realisiert habe, dass ich mich in einem Wald befinde, und danach ist da wieder diese Weite und ein Pfad, der am entferntesten Punkt des Blickfeldes in den Wolken endet.
Eine Viertelstunde später trotte ich über eine Wiese.
Mit halber Aufmerksamkeit bemerke ich das Marienweg-Symbol an einem Baum.
Vor mir das schmale, graue Band einer Landstraße.
Zu meiner Linken ein Dorf und rechts, irgendwo zwischen Feldern und einem Wald, ein zweites, erheblich kleineres Dorf.
Eines der beiden Dörfer muss Erlenbach sein, denn das liegt auf meinem Weg nach Mariabuchen.
Ich vermute, dass es das kleinere der beiden ist.
Wieder ein Symbol.
Der Pfeil darunter deutet nach links, also in Richtung des größeren Dorfes.
Mein erster Gedanke ist: Das kann nicht sein.
Mein zweiter: Das kann absolut nicht sein.
Doch auch wenn es sich für mich so falsch anfühlt, als würde ich bei völliger Finsternis mit einem Rucksack voller Steine in einen Fluss springen, folge ich dem Wegweiser und gehe nach links.
Während ich an der Straße entlang vor mich hinstiefele, suche ich mit meinem Blick jeden Winkel der Landschaft nach jemandem ab, bei dem ich mich nach dem Weg erkundigen könnte.
Irgendwann bemerke ich in einiger Entfernung eine Frau geschäftig in einem Schrebergarten herumwerkeln.
Ich beschließe, der Stimme meines Zweifels zu folgen und mich bei ihr zu vergewissern, ob ich tatsächlich in der richtigen Richtung unterwegs bin oder ob ich mal wieder einen Wegweiser falsch gedeutet habe. Oder was auch immer.
Manchmal ist es gut, auf die Stimme des Zweifels zu hören, manchmal nicht.
Diesmal jedenfalls rettet sie mich, diese Stimme.
Der Clou ist, dass die Entscheidung, nach links zu gehen, allen meinen Zweifeln zum Trotz im Grunde vollkommen richtig gewesen ist.
Zunächst.
Nur dass mir in der Komplettfokussierung auf die Frage, ob ich rechts oder links abbiegen sollte, keine Sekunde lang der Gedanke kommt, dass es auch noch eine andere Möglichkeit geben könnte, nämlich: Erst links, dann aber nach hundert oder zweihundert Metern doch rechts.
An dem Symbol, das mir den richtigen Weg gewiesen hätte, marschiere ich einfach achtlos vorüber.
Zu meinem Glück kennt die Frau in dem Schrebergarten sich bestens aus und so fällt der Umweg erträglich aus.
Alles in allem habe ich aber doch eine gute Viertelstunde verloren und allmählich wird es zeitlich eng.
Von nun an existieren im Grunde zwei Ebenen in meinem Denken.
Die eine Ebene ist die der Beobachtungen und der Wahrnehmungen.
Auf der zweiten Ebene, die immer mehr Raum einnimmt, reduziert sich alles auf den Weg, das Gehen und den Wunsch anzukommen.
Erlenbach besteht aus Bauernhöfen, Wohnhäusern, einer kleinen Kapelle und einer Hauptstraße, die kürzer ist als das Mittelschiff des Kölner Doms.
Bis Mariabuchen laufe ich dann wieder durch Wald.
Es wird allmählich Abend.
Kein ferner Horizont mehr, keine Weite.
Keine klaren Linien, nur langsam verwischende Konturen.
Mein Blick verfängt sich im Geäst der Bäume, bricht sich an Stämmen und Steinen wie die Brandung an einer Klippe.
Ich erreiche Kloster Mariabuchen.
Ein letztes Mal halte ich inne in meinem Gehen.
Betrachte. Sammle Eindrücke.
Verblassende Farben.
Zwischen den Bäumen schon das grausamtene Licht der langsam herabsinkenden Dämmerung.
Und ein ganz plötzlich aufkommender Wind, der nach allen Seiten zugleich zu strömen scheint.
Die letzten Kilometer bis Lohr.
Zweimal frage ich noch nach dem Weg, aber ich tue es nur, um auch wirklich jeden Restzweifel zu beseitigen.
Am Ende dieses Tages habe ich fast 40 Kilometer hinter mich gebracht. Es ist die längste Etappe meiner viertägigen Tour.
An Tag 3 werde ich dann von Lohr nach Gemünden am Main wandern.
10 Comments
Mata
Sowohl Teil eins als auch Teil zwei sind wieder eine wunderbare Lektüre. Es macht jedes Mal viel Freude, Deine Wanderberichte zu lesen.
Mata.
gorm
Vielen Dank für den Kommentar!:-) Feedback, insbesondere natürlich poitiver Art, tut immer gut.
Grüße
Torsten
Jana
Fast 40 Kilometer als Tagesmarsch – alle Achtung!
Schön und für mich als gebürtiger Mecklenburgerin gut nachvollziehbar, dass dir diese Weite gefallen hat. Diese Kombination – Wandern in der Natur mit Einflechtung von Stadtbesichtigungen und Sehenswürdigkeiten – ist sehr abwechslungsreich, bietet den Augen und Sinnen stets was Neues, das es erst mal zu verarbeiten gilt. Das hast du wieder wunderbar und sehr poetisch beschrieben rübergebracht, lieber Torsten. Dein Wandertagebuch ist wirklich was Besonderes! Ich freue mich bereits auf den nächsten Eintrag.
Liebe Grüße aus dem Odenwald
Jana
gorm
Vielen Dank für Deinen Kommentar, liebe Jana.:-)
Ja, bei einer Strecke von 40 Kilometern kann man eine Menge unterbringen an Sehenswertem. Dieser zweite Tag war insgesamt gesehen der schönste Gehtag. Städte, Wald, dann diese wirklich großartige Passage über freies Gelände, dazu dann noch die Karlsburg und Kloster Mariabuchen – viel besser geht es eigentlich gar nicht. An diesem zweiten Tag war dann auch das Gefühl sehr präsent, etwas Besonderes zu machen. Dieses Gefühl hat sich am dritten und vierten Tag dann noch einmal verstärkt.
Liebe Grüße
Torsten
Caroline
Ein Weg wie ein Gedicht. Es gibt das geschriebene Wort und den Gedanken dahinter. Schön, dass du mich auf deine Reise mitgenommen hast😊, liebe Grüße Caroline
gorm
An diesem zweiten Tag hat es an Eindrücken wahrlich nicht gemangelt. Und trotz der langen Wegstrecke von knapp 40 Kilometern war die Etappe nicht zu schwer. Bis auf die letzten Kilometer, als ich ein wenig in Zeitnot geriet – aber eigentlich auch da noch – konnte ich alles von Anfang bis Ende genießen.
Vielen Dank für Deinen Kommentar:-), LG Torsten
Ursula Dahinden-Florinett
Tag 2 unmittelbar folgend – noch kaum alle Eindrücke des 1. Tages verarbeitet – und dann noch 40 km Fussmarsch, das ist eine grosse Leistung Torsten.
Die Wanderung in der Natur mit der Abwechslung von Karlstadt, mit dem durch die Gassen und die Altstadt schlendern, finde ich genial.
Das Neue, die Eindrücke, die Empfindungen, die eindrucksvollen Landschaftsbilder, all das musstest Du wieder zu einem Ganzen zusammenfügen, um es abermals in einer bemerkenswerter Sprache zu erzählen. Das ist Dir wieder sehr gut gelungen.
Ich freue mich auf Deine Bilder!
gorm
Vielen Dank, liebe Ursula!
Tag zwei brachte eine Vialfalt unterschiedlichster Eindrücke. Grundvoraussetzung, diese Eindrücke auch wirklich wahrzunehmen ist natürlich, dass man nicht gegen körperliche Schwäche ankämpfen muss.:-) Tag zwei war die längste und für mich auch intensivste und schönste Etappe.
Im Laufe der Woche veröffentliche ich jetzt noch Tourtext drei, wobei ich Tag 3 und 4 zusammenfasse. Danach folgen dann die Bilder aller vier Tage.
Sylban70
Fast 40 Kilometer, alle Achtung! Wie war denn der Schwierigkeitsgrad der Strecke? Und hat das Wetter gehalten?
Gruß,
Sylban
gorm
Also, zu den fast 40 Kilometern ist zu sagen, dass ich den Marienweg ja bei Kloster Mariabuchen verlassen habe. Das Hotel, in dem ich übernahctet habe, liegt ca. 6 Kilometer vom Marienweg entfernt. Ganz grundsätzölich stellt der Marienweg auch lediglich eine Orientierung, eine Richtschnur dar, von der ich aber immer wieder abweichen werde, wenn es abseits der Strecke etwas zu sehen gibt. Deshalb stimmen die Kilometer, die ich zurückgelegt habe, auch nicht mit den offiziellen Kilometerangaben des Marienweges überein.
Die Strecke war auch an diesem zweiten Tag im Großen und Ganzen flach. Der Anstieg zur Karlsburg war eine Ausnahme. An Tag 4 – im Spessart – hat sich das dann geändert, wobei die richtigen Spessartetappen ja erst noch kommen.
Was das Wetter betrifft, so hatte ich wirklich Glück. Ich schätze mal, dass an allen vier Tagen zusammen nicht mehr als zwanzig Regentropfen fielen.:-)
Grüße
Torsten