Wandertouren

TOUR 24 – VON SAARBRÜCKEN NACH SAARGEMÜND

Es ist ein kalter, windiger, trüber Vormittag, ein Vormittag, an dem man die Inspiration in sich fühlt, eine Geschichte zu schreiben voller Schemen und Schatten und dunklen Visionen.
Novemberatmosphäre.
Der Himmel ist irgendwas zwischen eisblumenweiß und staubgrau.
So wird er allerdings keineswegs für den Rest des Tages aussehen, denn ein Charakteristikum dieser Tour wird das ständig sich verändernde Licht sein.

Der Plan für den Tag ist denkbar unkompliziert: Ich will einfach knapp 20 Kilometer am Saarufer entlanggehen, von Saarbrücken nach Saargemünd in Frankreich.
Ich werde diesen Plan auch in die Tat umsetzen, von der Kleinigkeit abgesehen, dass ich am Ende nicht nur knapp 20 Kilometer, sondern alles in allem über 30 Kilometer gegangen sein werde.

Vom Bahnhof in Saarbrücken trotte ich in Richtung Saar.
Aber ich beginne noch nicht sofort mit der Wanderung. Wenn ich schon mal hier bin, kann ich mir wenigstens das Schloss und die Ludwigskirche anschauen. Sie liegen beide ohnehin fast auf meinem Weg. Ein Lidschlag und ich bin vom Saarufer bei der Ludwigskirche, noch ein Lidschlag und ich bin am Schloss.

Von dort steige ich eine Treppe hinab, überquere eine Straße, gehe ein paar Schritte über eine Brücke, steige wieder eine Treppe hinab und schon befinde ich mich am Saarufer.
Die ersten zweihundert oder dreihundert Meter führt der Uferweg unmittelbar an der Stadtautobahn vorüber. Es ist so laut, dass ich kaum meine eigenen Gedanken höre.
Wolken, so schwarz, als kämen sie direkt aus dem Herzen der Finsternis, jagen über den Himmel.
Dann fängt es auch noch an zu regnen, schlagartig und heftig. Innerhalb weniger Augenblicke verschwindet die nahe Umgebung hinter einem Dunstschleier.
Bluesstimmung.
Ich richte mich auf das schlimmstmögliche Szenario ein – eine Tour im Dauerregen bis zum allerletzten Meter.
Aber glücklicherweise kommt es anders.

Eine Viertelstunde lang komme ich mir vor, als würde ich in einem Boot durch eine fiktive Wasserwelt treiben, in der man die Sonne nur vom Hörensagen kennt.
Aber so plötzlich, wie der Regen begonnen hat, so plötzlich ist er vorüber. Und das Beste: Es wird nicht mehr regnen – und zwar wirklich keinen einzigen Tropfen -, bis ich viele Stunden später in die S-Bahn steige, mit der ich zurück nach Saarbrücken fahre.

Eine ganze Weile stapfe ich noch durch eine urbane Kulisse.
Überall gibt es etwas, das den Blick auf sich zieht.
Ein Spalier von Herbstbäumen, Mauern mit Graffiti, Brücken, eine Insel im Fluss.
Auf der gegenüberliegenden Saarseite das Staatstheater,die Moderne Galerie, später dann ansehnliche Wohnvillen, halb hinter Bäumen verborgen.

Der Himmel hat sich mittlerweile deutlich aufgehellt.
Ganz am Rande des Blickfeldes scheint es, als würden die Wolken wie Bäume aus der Erde emporwachsen.
Meine Schritte beschleunigen sich auf dem ebenen, oft schnurgeraden Asphaltweg wie von selbst.
Es wäre ein noch entspannteres Gehen, wenn ich den Weg für mich allein hätte. Doch davon kann keine Rede sein. Einen Teil meiner Aufmerksamkeit muss ich stets auch auf die entgegenkommenden und vor allem auf die sich nahezu unhörbar in meinem Rücken nähernden Radfahrer richten.

Plötzlich für viele Minuten strahlender Sonnenschein. Es ist, als rolle ein großes Lichtrad übers Wasser und über die Bäume am Ufer hinweg.
Von all dem Flirren und dem explodierenden Gelb, Grün und Rot könnte man fast einen Farbrausch bekommen.

Kurz darauf aber wälzen sich wieder düstere Wolken über den Himmel.
Eine Weile sieht die Landschaft aus wie ein blaustichiges Gemälde, und für Minuten bewege ich mich durch eine Szenerie, die unwirklich und beinahe fantastisch anmutet.

Irgendwann die erste Schleuse.
Auf hundert Metern ist die Strecke gesperrt und ich muss einen kleinen Bogen schlagen.
Nach rechts öffnet sich der Blick auf eine Wiese und hohe Bäume.
Danach stapfe ich an Schrebergärten vorüber, die sich allmählich in ihre Bestandteile auflösen.
Auf dem Boden ein lückenloser Laubteppich, der bis zum Rande des Blickfeldes reicht.

Irgendwann stelle ich fest, dass ich längst in Frankreich bin.
Viele Kilometer bewege ich mich nun durch ein einsames Niemandsland. Es ist so leer wie der Raum zwischen zwei Galaxien.
Mein Blick fängt immer stillere Bilder ein.
Wiesen, Felder, Bäume.
An beiden Flussufern dichte Vegetation.
Ein Kormoran rennt flügelschlagend übers Wasser.
Es ist eine richtige kleine Flusswildnis.

Ich lege eine Rast ein.
Für Minuten versinkt meine Aufmerksamkeit in einem tiefen, lichtlosen Schacht, ist nur auf das Sammeln all der Eindrücke ausgerichtet.
Es ist jedoch zu kalt, um längere Zeit fast reglos stehenzubleiben, deshalb setze ich meinen Weg nach ungefähr zehn Minuten fort.

Der Himmel hat sich mittlerweile endgültig für eine düstere Variante entschieden. Dräuende Finsterwolken werden mich von nun an begleiten.
Wieder eine Schleuse.
Danach stapfe ich an der hier kanalisierten Saar entlang.
In Zeiten, in denen Deutschland und Frankreich noch alle paar Jahrzehnte Krieg gegeneinander führten, hieß der Kanal Saar-Kohlen-Kanal. Gebaut wurde er von 1862 bis 1866, um Kohle aus den saarländischen Gruben nach Frankreich und umgekehrt Eisenerz aus Lothringen in die saarländischen Hüttenwerke zu transportieren. Dass diese ursprüngliche Bestimmung des Kanals sei vielen Jahrzehnten so gut wie nicht mehr vorhanden ist, liegt auf der Hand. Dafür ist der Leinpfad zu einem komfortablen Rad- und Fußweg ausgebaut worden. So ändern sich die Zeiten.

Ich passiere Großblittersdorf.
Oder vielmehr Grosbliederstroff.
Das Pendant am deutschen Saarufer, unmittelbar gegenüber, heißt Kleinblittersdorf.
Das eine Dorf also französisch, das andere deutsch, verbunden durch eine Brücke über die Saar.
Von der Brücke aus mache ich einige Fotos.
Zwei Männer, die von der deutschen Seite kommen, grüßen auf Deutsch.
Zwei Frauen, die von der französischen Seite kommen, grüßen ebenfalls auf Deutsch.
Als ich wieder auf der französischen Seite bin, grüßt ein Jogger auf Französisch.
Und ein alter Mann, den ich kurz darauf überhole, grüßt in dem hier teilweise immer noch gesprochenen Lothringer Platt.

Die letzten Kilometer.
Je näher ich Saargemünd komme, desto mehr Radfahrer und Spaziergänger begegnen mir wieder.
Der Weg windet sich an einem kleinen Dorf vorüber, dann marschiere ich unmittelbar an der Landstraße entlang.
Wenig apäter die ersten Häuser von Saargemünd.
Am Ufer uralte Flusskähne, visuelle Entsprechungen des Wortes „schippern“.

Ich streife ziellos durch die Straßen.
Eigentlich hatte ich vor, mir den Keramikgarten anzusehen, den es hier geben soll, aber ich finde ihn nicht.
Dafür entdecke ich in einer Nebenstraße ganz in der Nähe des Bahnhofs ein Keramikmuseum, das ich mir kurzentschlossen anschaue.
Ich bin der einzige Besucher und habe das Museum ganz für mich allein.
Teller, Vasen, Büsten, Gemälde, ein toller Wintergarten.
Als ich das Museum verlasse, bin ich gefühlt so etwas wie ein Keramikexperte.

Im Grunde wäre das ein guter Abschluss der Tour, aber wieder einmal kann ich nicht genug bekommen vom Gehen.
Ich muss dafür auch nicht zwanghaft nach irgendeiner Erklärung suchen.
Manche Dinge sind eben so, wie sie sind.

Dämmerung.
Die Lichter der Stadt spiegeln sich im Fluss.
Ich stapfe sieben Kilometer zurück nach Kleinblittersdorf.
In die Dunkelheit und in die Kälte der Nacht hinein.

8 Comments

  • Ursula Dahinden-Florinett

    Wunderschöne Aufnahme mit dem Baum im Vordergrund und mit dem Teich oder der Saar. Die Graffitis haben mir auch gefallen. Wir haben in Zürich einige solcher Kunstwerke.
    Wie immer spannend erzählt, meisterhaft beschriebenes Wetter, einfach super!

  • Jana

    Wie schön, lieber Torsten, dass ich dank dir Ecken in Deutschland kennenlerne, die mir noch unbekannt sind. Aus all deinen Worten kann ich wieder entnehmen, welche Freude dir diese Tour gemacht hat! Und: Deutschland kann auch im tristen Monat November schön sein, wie man anhand der tollen Bilder unschwer erkennen kann 🙂
    Viel Spaß weiterhin, liebe Grüße von Jana

    • gorm

      Vielen Dank, liebe Jana.:-) So ein positives Feedback ist für mich natürlich auch eine zusätzliche Motivation. Und die Wanderstrecken gehen mir bestimmt nicht aus.:-) LG

  • Jana ~ zuFussunterwegs

    Hi Torsten,

    welch‘ wunderbarer Bericht. Ich bin virtuell mitgewandert. Sehr eindrücklich sind sie, Deine Worte.

    Ich kann meist auch nicht genug bekommen vom Gehen. Manche Dinge sind auch bei mir, wie sie sind. Tolle Wortwahl. Darf ich mir die merken?

    Fussige Grüsse, Jana

    • gorm

      Hi Jana, vielen Dank für Dein positives Feedback.:-) Ich kann nur sagen, dass mir das Lesen Deines Blogs ebenfalls viel Spaß macht und mir schon manche Inspiration gebracht hat und sicher auch weiterhin bringen wird.:-) LG Torsten

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