Wandertouren

TOUR 12 – SAARHÖLZBACHPFAD

In einigen Jahren – ob ich dann noch unterwegs sein sollte oder nicht – werden mir diese ersten Touren vielleicht seltsam vorkommen. Vermutlich, weil die meisten Anfänge irgendwie seltsam sind, wenn man später darauf zurückschaut. Es spielt natürlich keine große Rolle. Viel wichtiger als den Eindruck, den ich in ferner Zukunft von den Anfängen meiner Wanderungen haben werde, ist die Tatsache, dass es diesen Anfang überhaupt gegeben hat.

Heute bin ich im äußersten Nordwesten des Saarlands, in Saarhölzbach.
Die Steilhänge an der Saar am jenseitigen Flussufer gehören teilweise schon zu Rheinland-Pfalz. Im Süden ist die Saarschleife nicht weit. Bis Trier im Norden von hier sind es rund 30 Kilometer, bis ins luxemburgische Schengen um die 20.
Es ist eine Grenzregion, immer schon gewesen. Bereits 1778 war Saarhölzbach Zollgrenzstation, nachdem zwischen dem Kurfürstentum Trier und Frankreich ein Teilungsvertrag geschlossen worden war, der die Dörfer am linken Saarufer Lothringen zuteilte, während Saarhölzbach und die anderen Dörfer am rechten Saarufer beim in den letzten Zügen liegenden Heiligen Römischen Reich verblieben.

Es ist ein gleißend heller Tag, ein Tag ohne Schatten, jedenfalls außerhalb des Waldes.
Flirrendes Mittagssonnenlicht leuchtet jeden Winkel aus.
Ich stehe am Fuße einer langen, steilen Straße. In der Ferne, hoch oben, aber irgendwie doch auch zum Greifen nah, ein Felsen von urwüchsiger Schönheit, der Vogelfelsen.
Der erste Eindruck könnte besser kaum sein.

Ich blicke mich um und bemerke, dass meine Anwesenheit bereits registriert worden ist.
Eine alte Frau, die gerade aus einer Bäckerei kommt, durchlöchert mich mit ihrem Blick.
Eine etwas jüngere Frau, die in einer schmalen, engen Gasse dabei ist, die Straße zu fegen, fixiert mich ebenfalls.
Ein alter Mann schlurft an mir vorüber und behält mich dabei die ganze Zeit im Auge.
Viel fehlt nicht und ich hätte mich im Seitenspiegel eines Autos vergewissert, dass mir nicht etwa ein zweiter Kopf gewachsen ist oder irgendetwas in dieser Art.
Von abgeschiedenen Dörfern im Hunsrück oder sonstwo kenne ich dieses Anstarren von Fremden zur Genüge, hier aber hätte ich es nicht unbedingt erwartet.

Da ich die Wanderung gerade erst beginne, kann die Straße so lang und so steil sein, wie sie will, sie kann mir nichts anhaben.
Ich weiß nicht ganz genau, wo der Saarhölzbachpfad beginnt, nur, dass es bei einem Wanderparkplatz sein soll.
Vorsichtshalber frage ich einen Mann, der auf der Treppe seines Hauses eine Zigarette raucht, nach dem Weg, und er bestätigt mir, dass ich einfach nur jene lange, steile Straße geradeaus weitergehen müsse.

Genauso ist es auch.
Ich finde den Parkplatz ohne Schwierigkeiten, schaue mir kurz den Streckenverlauf auf der Karte an und dann marschiere ich los.
„Sie betreten ein Waldgebiet von besonderer Schönheit“, lese ich auf einem Schild.
Nun gut, denke ich, mal sehen, ob diese großen Worte von der Realität bestätigt werden.

Um es gleich zu sagen: Sie werden bestätigt.
Die ersten drei Kilometer wandele ich durch einen Märchenwald, durchwirkt von Fäden goldenen, tanzenden Sonnenlichts.
Der Pfad, schmal und verwunschen, fließt gleichsam unter meinen Füßen dahin, wechselt dabei ständig die Richtung, kreuzt immer wieder einmal breitere Wege, führt jedoch jedes Mal wieder zwischen die Bäume hinein.

Dreimal werde ich mich auf dieser Tour verlaufen, zweimal gleich auf dem ersten Kilometer. Meine von den vielfältigen Eindrücken abgelenkten Sinne weigern sich offenbar, sich mit solch profanen Dingen wie Wegweisern abzugeben.
Beim dritten Mal liegen die Dinge anders, aber darauf komme ich später zu sprechen.

An einem Bach zwischen Kilometer zwei und drei lege ich eine Rast ein.
Ich bin auf diesen ersten Kilometern so langsam unterwegs gewesen wie noch nie auf einer Tour in diesem Jahr. Wenn ich in diesem Tempo weitergehe, kann ich mir schon mal einen Platz im Wald zum Schlafen suchen.

Ich setze meinen Weg erst nach einer ganzen Weile fort.
Nachdem ich den schmalen Holzsteg überquert habe, der über den Bach führt, ändert sich der Charakter der Strecke von jetzt auf gleich.
Ich stapfe einen schmalen und an vielen Stellen von Wurzeln fast jeder erdenklichen Größe übersäten Pfad hinauf. Links neben mir eine jäh abfallende Böschung.
Mein zweites Ich heißt jetzt Aufmerksamkeit, denn Stolpern könnte hier sehr unangenehme Folgen haben.

Wurzeln und immer wieder Wurzeln.
Manchmal aus mehreren Richtungen gleichzeitig.
Und Grenzsteine.
Für ein paar Kilometer ist der Verlauf des Saarhölzbachpfades nun identisch mit dem einer anderen Wanderstrecke, dem Steinhauerweg.

Eine Erinnerung arbeitet in mir.
Steinhauerweg? Grenzsteine?
Dann fällt es mir ein.
Ich bin diesen Steinhauerweg im Frühling vergangenen Jahres mit einem Freund zusammen abgewandert. Und kaum ist die Erinnerung daran zurückgekehrt, schieben sich die Bilder in meinem Gedächtnis und die Bilder der gegenwärtigen Realität übereinander und werden deckungsgleich.
Kurz vor Kilometer 6 biegt der Saarhölzbachpfad dann allerdings wieder in eine andere Richtung ab.

Ich marschiere über eine breite Schotterpiste und mit einem Mal habe ich den Wald hinter mir und für meinen Blick gibt es nur noch den Horizont als Grenze.
Wiesen, Weite.
Keine Weite, in der sich der Blick verliert, aber immerhin.
Über mir ein Vogel, vielleicht ein Milan, der seine Kreise zieht.
Auf einer Weide ungefähr ein Dutzend wiederkäuender Kühe.
Wieder einer der Orte auf meinen Wanderungen, die mir hinterher vorkommen werden wie zu einer Parallelwelt gehörig, deren Existenz zwar bewiesen, die aber dennoch irgendwie nicht vorhanden ist.

Plötzlich infernalischer Lärm.
Ein Ungetüm von einem Mähdrescher frisst sich durch ein Kornfeld, reißt die Stille in winzige Fetzen.
Ich stapfe weiter, an drei Windrädern vorüber, wieder in den Wald hinein.
Ein paar hundert Meter weiter halte ich aber schon wieder an.
Nachdem ich auf den ersten Kilometern nicht gerade zügig unterwegs gewesen bin, habe ich danach, um voranzukommen, auf das Trinken verzichtet.
Inzwischen fühlt es sich an, als hätte ich den Mund voller Staub.
Erst nachdem ich fast eine ganze Flasche Wasser getrunken habe, verflüchtigt sich das Staubgefühl.

Ich gehe weiter.
Die Schotterpiste, auf der ich dahinstapfe, endet bald und wird zu einem recht gut begehbaren Waldweg, nur dass das nicht so bleibt.
Schon bald überwuchert stellenweise Gras den Pfad.
Immer mehr Gras.
Die Bäume, zunächst noch mit schönen, aussichtsfreundlichen Lücken, treten immer dichter zusammen zu einem wenig märchenhaften Dunkelwald.
Nicht lange und das Gras ist so hoch, dass ich schon fast wie der Mähdrescher von vorhin hindurchpflügen muss.
Dann eine Biegung.
Dahinter sehe ich nur noch ein überwuchertes, beinahe dickichthaftes Überbleibsel von etwas, das mal ein Pfad gewesen ist und das mitten hinein in den Dunkelwald führt.

Ich bleibe stehen.
Eigentlich müsste ich längst Kilometer 7 passiert haben.
Aber seit wann genau habe ich jetzt kein Wegesymbol mehr gesehen?
Dabei gab es doch nur diesen Weg und nirgends eine Abzweigung.
Falscher Gedanke.
Der richtige lautet: Es gab diese Abzweigung sehr wohl, aber sie ist so unscheinbar, dass man sie ohne Beschilderung unmöglich erkennen kann.
Und sie ist nicht beschildert!
Ich muss mehrere hundert Meter zurückstapfen und entdecke oder vielmehr errate den richtigen Weg nur deshalb, weil ich die 7-Kilomter-Markierung zufällig an einem Baum entdecke.
Verlaufen bei Wanderungen ist fast schon Teil meiner Natur, aber diesmal liegt es definitiv nicht an mir.

Als Entschädigung komme ich nun eine ganze Weile in den Genuss, bergab wandern zu können. Mein Gehen ist fast schon ein Traben, ein Dahingleiten. Ich könnte ein Jahr lang so unterwegs sein, ohne müde zu werden.
Waldpfad, Schotterweg, Schotterweg, Waldpfad.
Dann mal eine Abwechslung fürs Auge, nämlich ein Weiher.
Hunderte tanzende Lichtpunkte auf der Wasserfläche.
Über mir ein blauer Himmel mit weißen Wolkensegelschiffen.

Wieder bergab, an einem Bach vorüber.
Dann eine tief eingeschnittene Schlucht.
Auf der gegenüberliegenden Seite ein Felsenriese als Blickfang.
Ein paar Minuten lang schlage ich Wurzeln und überlasse mich stillen, nicht allzu sehr ins Detail gehenden Beobachtunge

Noch etwa zwei Kilometer. Ich rechne eigentlich nicht mehr mit irgendetwas Besonderem, bin in erster Linie darauf bedacht, möglichst schnell vorwärtszukommen, um den 18-Uhr-Zug noch zu erreichen.
Ein Pfad voller Steine – einer hinter dem anderen – macht mir das Leben schwer.
Ich stoße gegen einen Stein, stolpere, gehe ein paar Schritte. Stoße gegen einen Stein, stolpere, stoße gegen einen Stein, stürze beinahe.
Bleibe stehen, sammle mich.
Als ich dann weitergehe, hebe ich die Füße so hoch, wie es eben sein muss.

Dann schimmert und blinkt plötzlich ein heller Wassersaum durch die Bäume.
Wenig später hemmt Überraschung meine eiligen Schritte.
Tief unter mir sehe ich das in der Sonne glitzernde Wasser der Saar.
Und im Vordergrund ebenjenen urwüchsigen Felsen, den ich bei meiner Ankunft vom Bahnhof aus entdeckt habe.
Ich kann mich kaum sattsehen an diesem Anblick.
Ob ich den 18-Uhr-Zug noch bekomme oder nicht, ist mir mit einem Mal gar nicht mehr so wichtig.
Eine Stunde später fährt schließlich der nächste.
Ich schaue, staune, nehme auf.
Musik, umgesetzt in Landschaft.
Wenn ich die Augen kurz schließe, dann bleibt das Glitzern.
Es ist noch heißer und noch heller als am Vormittag.
Alles ist, wie es sein soll, denke ich.
Besser könnte eine Wanderung kaum enden.

6 Comments

  • Mina

    Du hattest absolut recht, mit Deiner Aussage, dass das eine wunderbare Wanderstrecke war, lieber Torsten!
    Und es wie immer große Freude gemacht, Deine Schilderungen dazu zu lesen.

    Ich bin schon neidisch auf die Wanderung durch den Feenwald und den herrlichen Blick auf die Saar!
    Herzlichst,
    Mina

    • gorm

      Vielen Dank, liebe Mina.:-) Mit Premiumwegen ist das ja manchmal so eine Sache. Manchmal weiß man gar nicht so recht, weshalb ein Wanderweg dieses Prädikat erhalten hat. Bei diesem hier war es vom ersten Schritt an klar. Und dieser Aussichtspunkt am Ende veredelte eine ohnehin schon tolle Strecke noch.

    • gorm

      Für Wanderer, die sich in der Natur bewegen wollen, ist das eine großartige Strecke. Schwierigkeitsgrad? Mittel, würde ich sagen. 13 Kilometer, jeweils gut 400 Meter Auf/Ab. Bei der Passage an der steilen Böschung vorüber ist Trittsicherheit keine leere Floskel. Bei Regen ist da höchste Vorsicht geboten.

    • gorm

      Es war – eben aufgrund dieses „Feenwaldes“ – eine der schönsten Wanderungen dieses Jahres. Vielleicht baue ich einen Teil der Strecke noch einmal in eine Wanderung ein, mal sehen. Dir natürlich wieder einmal vielen Dank für die netten Worte!:-)

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