Wandertouren

TOUR 1: „WANDRERS REGENLIED“

Die Tour beginnt im Regen.
Sie beginnt im Regen und sie endet im Regen und in dem Zeitraum dazwischen gibt es keine zehn Minuten, in denen es nicht regnet. Nur die Stärke des Regens variiert. Der Himmel ist die ganze Zeit wie ein grauer, flacher See.

Die gute Nachricht: Wir sind einigermaßen vorbereitet, nicht nur, was die Ausrüstung betrifft, sondern auch mental. Wir haben uns schließlich die Wettervorhersagen genauestens zu Gemüte geführt.
Außerdem ist Regen doch nichts weiter als Wasser, als shui, der Ursprung des Lebens, ein Urelement vieler Schöpfungsmythen. Nichts, das man zu fürchten oder zu scheuen bräuchte, solange es nicht in unbeherrschbaren Dimensionen auftritt.

Vom Bahnhof aus geht es zunächst einmal bergab in den Ort.
Die Hauptstraße ist so wenig befahren, dass man gefühlt eine 99-prozentige Überlebenschance hätte, wenn man sie einfach blindlings überqueren würde.
Von der gegenüberliegenden Straßenseite springt uns bereits das Hinweisschild BURG ins Auge.
Obwohl man im Prinzip nur wie an der Schnur gezogen geradeaus gehen muss, frage ich die einzige Passantin, die uns bis zur Burg begegnet, nach dem Weg. Sie ist offenbar in Eile und ihre Wegbeschreibung ist knapp, aber präzise: „Geradeaus, geradeaus, geradeaus, dann nach oben.“

Das klingt machbar und tatsächlich sehen wir bereits wenige Minuten später den Burghügel mit dem wie ein dünner, versteinerter Finger gen Himmel ragenden Bergfried vor uns. Im Regen wirkt der Anblick ein wenig trostlos, aber immerhin haben wir so die Burgruine ganz für uns alleine.

Ich zähle die Stufen, die – vom Eingang zum Turm an gerechnet – nach oben führen. Es sind mehr als 120.
Von oben können wir durch vergitterte Fensterluken die Regenlandschaft betrachten.
Der Horizont – ein zerfließendes, konturenloses Nichts.
Der Himmel – eine graue Straße voller Wolkenberge.
Trotzdem rechnen wir immer noch damit, dass der Regen bald enden oder zumindest eine Pause einlegen wird.

Als wir wieder unten auf der Straße sind, umfangen von grauer Trostlosigkeit, regnet es jedoch erst einmal noch heftiger.
Uns beschäftigt jedoch ein anderes Problem – wir finden den Beginn der „Tafeltour“ nicht.

Wir haben noch ein zweites Problem: Ich bin mit meinem GPS-Gerät noch nicht vertraut und meine Begleiterin besitzt keines.
Wir haben ein drittes Problem: Niemand – außer uns beiden – ist draußen auf der Straße.
Aber Kirkel ist zum Glück nicht New York. Wir gehen einfach die erstbeste Straße entlang und wie vom Schicksal gelenkt fällt mein Blick auf ein hölzernes Tor mit der selbst in dem trüben Regengrau unübersehbaren Aufschrift: „Kirkeler Tafeltour“.

Die Wanderung ist auf diversen Wanderseiten als „leicht“ eingestuft worden, aber erst einmal geht es ein Stück bergauf. Hatte ich schon erwähnt, dass es praktisch ununterbrochen regnet?
Die Wege, ohnehin schmal und voller Wurzeln und Steine, werden dadurch an vielen Stellen zu einer Herausforderung für unsere Multifunktionalität. Miteinander reden, auf das Wegesymbol – eine weiße Kochmütze – achten, und dann auch noch die Füße sicher auf dem unsicheren Untergrund aufsetzen.

Trotz des Regens legen wir bald eine Pause ein.
Auf einer Holzbank hockend, eingepackt in unsere Regenjacken, essen wir belegte Brötchen, und ich gönne mir auch noch einen Apfel.
„Auch Rast ist Reise“, heißt es in einem Gedicht von Hans Carossa.
Aus dem Kontext herausgerissen und auf unsere Situation angewandt, könnte man diese Zeilen so deuten: Unsere Körper ruhen sich aus, unsere Gedanken jedoch halten niemals inne.
Wir überlegen nämlich während der ganzen Zeit, ob wir einem der anderen Wegesymbole folgen und gar nicht mehr nach Kirkel zurückkehren sollen. Letztlich bleiben wir jedoch auf unserer ursprünglichen Route.

Die Hoffnung, dass der Regen noch während unserer Tour ein Ende nimmt, haben wir mittlerweile aufgegeben.
An sonnigen Tagen wären an einigen der Felsen, die unseren Weg säumen, vermutlich Kletterer zu beobachten gewesen, und obgleich ich wahrlich nicht zu der Spezies gehöre, denen beim Anblick von Felsvorsprüngen und Überhängen eine innere Stimme befiehlt, die Steilwand zu erklimmen, wäre ein wenig mehr Leben als in einem Mondkrater nicht unangenehm gewesen.
Wir begegnen nur einem Mann mit Hund und einem Mann ohne Hund, einmal jedoch auch völlig unerwartet einer Gruppe von ca. 20 Senioren, ansonsten niemandem.

Ganz zum Schluss passiert es dann doch noch – wir verlaufen uns.
Plötzlich sehen wir uns mit unbekannten Symbolen konfrontiert und der Weg macht auf uns den Eindruck, dass er schnurgerade in ein Nirgendwo führt, aus dem wir nicht mehr herausfinden werden.
Wir kehren um, suchen.
In Anbetracht der Tatsache, dass wir nahen Straßenverkehr hören, kommt mir die Suche ein wenig kafkaesk vor.
Im schlimmsten Fall bleibt uns die Option, quer durch den Wald zu marschieren und uns dabei an den Geräuschen zu orientieren.
Dazu kommt es letzten Endes aber nicht. Wir entdecken die Kochmütze wieder und danach dauert es nicht mehr allzu lange, bis wir es geschafft haben.

Als wir aus dem Wald heraustreten, hat sich doch tatsächlich Sonnenbrillenwetter durchgesetzt. Wir vernehmen menschliche Stimmen, Rufe von Kindern.
Zur Rechten sehen wir die Burg. Im hellen Sonnenlicht sieht sie sehr viel einladender aus als ein paar Stunden zuvor.
Aber wir sind zu müde, um noch einen weiteren Umweg zu machen.

2 Comments

  • Ursula Dahinden-Florinett

    Den Weg nicht auf Anhieb finden, dass liebe ich, jedoch nur bevor die Dunkelheit anbricht, Ich habe zur Sicherheit vorher alles gegoogelt, später gehörte Kafka e s k auch dazu, Den Blog finde ich sehr gut. Gut finde ich auch, dass es unter „Die Touren in Bildern“ noch mehr Fotos gibt, sowie auch während dem Text (weitere Fotos hier).

    • gorm

      Danke, liebe Ursula. Nun, diese erste Tour war noch vergleichsweise kurz, da bestand die Gefahr, von der Dunkelheit überrascht zu werden, noch nicht wirklich.:-)

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