TOUR 55: NECKARGERACH – MARGARETHENSCHLUCHT – EBERBACH
Es ist eine jener Touren, die nicht zu Ende sind, wenn man den letzten Schritt getan hat.
Eine der Touren, bei denen man eine ganze Lagerhalle mit schönen Eindrücken füllen könnte und bei denen noch lange danach immer wieder Bilder und zu Worten gewordene Bilder vor dem inneren Auge erstehen.
Eine der Touren, bei denen sich irgendetwas dagegen sträubt, das Erlebte in Wesentliches und Unwesentliches zu unterteilen.
Jana, mit der ich heute wieder unterwegs bin, kennt die Strecke von Neckargerach nach Eberbach gut genug, um den Weg im Schlaf zu finden. Unser erstes Ziel jedoch ist die Margarethenschlucht, und dazu schlagen wir zunächst ziemlich genau die entgegengesetzte Richtung ein.
Ich habe vorher manches über die Schlucht gelesen und gehört, aber irgendwie ist meine Vorstellung davon, was mich in der Schlucht erwartet, so trübe wie der Blick in den grauen Morgenhimmel über den rauchenden Schloten einer Industrievorstadt.
Was auch immer jedoch ich erwartet haben mag, es kommt anders. Nicht völlig anders, aber doch anders.
Unser Startpunkt ist der Bahnsteig Neckargerach.
Als wir losgehen, ist der Himmel weiß vom Licht einer grellen Mittagssonne.
Wir machen nicht mal ein paar Schritte und schon springt uns das Hinweisschild „Margarethenschlucht-Pfad“ ins Auge.
Die Schlucht ist nicht mehr als einen Steinwurf von hier entfernt. Wir laufen zwischen akkurat nebeneinander aufgereihten Wohnhäusern und kubischen Gewächshäusern hindurch und erreichen eine Weggabelung, an der wir gleich schon auf den nächsten Wegweiser zur Schlucht stoßen.
Ein erster, kaum nennenswerter Anstieg.
Trockener Kies knirscht unter unseren Schuhen. Links ein Hang, verborgen im Waldschatten, rechts ein paar fast fingerschmale Bäume, mattes, farbloses Grün, in das sich aber immer mehr helles Mittagslicht hineinstiehlt.
Von einem Atemzug zum nächsten enden die Bäume. Eingefasst von Steinmauern führt der Pfad um eine Kurve herum, die grauen Baumschatten sind verschwunden und ein schönes, nicht zu grelles Blau ergießt sich über die Landschaft.
Unmittelbar unter uns das Wasser des Neckars, schimmernd wie Seidengarn. Ringsum stille, dunkle Hügel, an beiden Ufern schmale Wiesenstreifen, die leuchten, als hätte man sie gerade frisch gestrichen. Nahezu überall Grün. Hier und da fällt der Blick allerdings auch auf Sträucher, die in erstaunlich unterschiedlichen Farben blühen, eindeutig schon so etwas wie Herbstfarben.
Ich bin ziemlich überrascht.
Eigentlich hatte ich irgendeinen bestenfalls unscheinbaren Zuweg erwartet, den man gleich wieder aus seinem Gedächtnis streichen kann. Mit so einem fast überwältigenden Panorama hatte ich nicht gerechnet. Jana natürlich schon, denn sie kennt die Schlucht ja schließlich und auch den Weg dahin.
Der Pfad wird etwas schmaler. Die Steinmauer, die den Hang trägt, endet abrupt, und die Böschung fließt wieder bis ganz an den Pfad heran.
Noch ein paar Kurven, dann beginnt die Schlucht.
Das Erste, was ich wahrnehme, ist der Wind.
Ein stetiger, warmer, zwischen den Felsen und hohen Bäumen gefangener Wind, ein Wind, den man oft nur als Flüstern im Geäst wahrnimmt, der aber immer vernehmbar ist, bei jedem Schritt.
Vorsichtig tasten wir uns über große, glatte Steine hinweg.
Stehen dann mit einem Mal neben oder vielmehr unterhalb einiger übereinandergetürmter Felsentrümmer, die sich bei näherem Hinsehen als ausgetrocknete Wasserfallstufen entpuppen.
Es existieren insgesamt acht solcher Stufen und auch ohne Wasser sieht das Ganze ziemlich eindrucksvoll aus.
Der Pfad durch die Margarethenschlucht ist alles andere als ein Sonntagsnachmittagsspaziergang im Park. Es geht fast ununterbrochen bergan, und das oft recht steil. Manchmal müssen wir uns riesige Felsstufen hinaufhieven oder uns irgendwie über Miniatursteinlandschaften hinwegbugsieren. Mitunter wird der ohnehin meist sehr schmale Pfad auf kaum mehr als Fahrradspeichenbreite zusammengepresst, so dass es höchste Präzision erfordert, zwischen entgegenkommenden oder erschöpft innehaltenden Wanderern und in den Pfad hineinwachsenden Baumbestandteilen hindurchzugelangen.
Die Schlucht ist eine eigene kleine Welt, ein ungebändigtes Chaos von Baumstämmen und auseinandergebrochenem Gestein.
Alles wirkt wie mitten in der Bewegung erstarrt. Die Zeit bleibt nicht stehen hier, aber sie verstreicht langsamer, sie versteinert gleichsam, es ist nur noch ein Fragment, eine Ahnung der Zeit, die man gewohnt ist.
Ungefähr nach der Hälfte des Weges steigen wir endlich mal ein paar Meter hinab und nicht hinauf.
Über ein paar von kühlem, klarem Wasser umspülte Steine überqueren wir eben jenen Bach, der später dann eigentlich in Kaskaden die Schlucht hinabstürzen sollte, aber schon bei der allerersten der acht Wasserfallstufen kommt nicht mehr als ein kümmerliches Tröpfeln zustande. Uns wird jetzt erst so richtig bewusst, wie angenehm kühl es die ganze Zeit ist. Das grelle Sommerlicht ist irgendwo weit über uns, jenseits der Baumkronen, und es ist nur noch als schwaches Glitzern wahrnehmbar. Über das graue Gestein huschen einzelne Lichtpunkte.
Für einen Moment, kürzer als die Ahnung eines Gedankens, fasst eine helle Lichthand in die Schatten hinein und auf dem Wasser des Baches flirren tausend kleine Sonnen.
Wir arbeiten uns wieder einmal über ein paar monströse Steinquader hinweg, dann trägt uns der Pfad weiter hinauf, er flacht dabei immer mehr ab, immer helleres Licht strömt uns entgegen, und als wir dann aus dem Wald treten, sticht uns die Helligkeit im ersten Moment so in die Augen, dass wir eine halbe Minute lang aus dem Blinzeln nicht herauskommen.
Wir laufen einen wie mit einem feinen Pinsel in die Landschaft hineingemalten Asphaltweg hinauf. Die samtene Stille eines Spätsommertages liegt über den Feldern am Wegrand. Ein Hauch von Vergehen, von nahendem Jahresende haftet ihr an.
Jana kündigt an, dass uns gleich schon der nächste besondere Wegpunkt erwartet.
Wir traben einen Kiesweg hinunter und wenige Augenblicke später befinden wir uns auf einer Aussichtswiese oberhalb des Neckartals, von wo aus wir unsere Blicke in eine schier endlose Ferne richten können. Trotzdem wirkt irgendwie alles ganz nah, so, als ob man sich einfach nur kurz zu bücken bräuchte, um es von der Erde aufheben zu können.
Wir sind noch keine sechs Kilometer gewandert und schon könnten wir die schönen Eindrücke aneinanderreihen wie Bücher in einem Regal.
Und was noch vor uns liegt, das ist beileibe nicht weniger erbaulich.
Nach Neckargerach zurück laufen wir durch einen Wanderertraum von Waldpfad.
Im Geäst, in den Wipfeln, ja, in den flatternden Schatten selbst spielt ein ganz helles, ganz mildes Licht. Wir schweben über kleine Treppenstufen, um kleine Biegungen herum, an einer malerisch unter einem Baum platzierten Bank vorüber, und irgendwann bringt uns der Pfad exakt zu der Weggabelung zurück, an der wir vor gut anderthalb Stunden den Wegweiser zur Margarethenschlucht entdeckt haben.
Es ist richtig heiß geworden.
Immerhin haben wir mit der Schlucht den Anstieg des Tages schon hinter uns gebracht. Von jetzt an wartet höchstens noch die eine oder andere kleine, vernachlässigbare Kuppe auf uns.
Was mich betrifft, so könnte ich jetzt einen richtig schönen Pfad am Neckar entlang gebrauchen, aber hinter Neckargerach wandern wir erst einmal auf einem Radweg an der Landstraße entlang. Der Fluss ist in Sichtweite, immerhin.
Ein paar Minuten lang kommt böiger Wind auf, in dem die Ahnung eines nahen Gewitters liegt, tiefdunkle Wolken dräuen über den Hügeln, aber dann ist der Spuk auch schon wieder vorbei und die Sonne kehrt zurück.
Nach der Enge der Schlucht – so großartig sie auch war – hat es jetzt fast schon etwas Befreiendes, unter einem weiten, blauen Himmel dahinwandern zu können. Es dauert auch nicht allzu lange und wir gehen nicht mehr unmittelbar an der Landstraße entlang, sondern zwischen Bäumen mit hellgrünem Laub hindurch und an Wiesen vorüber. Später reiht sich Apfelbaum an Apfelbaum.
Spätsommeridylle, angereichert mit einem Schuss Herbstleuchten.
Dass der Weg kurz vor Zwingenberg wieder unmittelbar neben der Landstraße verläuft, macht überhaupt nichts.
Es sind ohnehin nur ein paar hundert Meter, dann überqueren wir eine Brücke und setzen unsere Wanderung am gegenüberliegenden Ufer fort.
Fast im Vorbeilaufen bemerken wir ein Warnschild mit dem Hinweis, dass der Radweg in Richtung Eberbach teilweise gesperrt sei.
Okay, zur Kenntnis genommen, aber weder Jana noch ich beschäftigen uns länger als einen Augenblick mit diesem Schild. Wenn alle Stricke reißen und der Pfad tatsächlich nicht mehr begehbar sein sollte, dann müssen wir eben umkehren oder uns einen anderen Weg suchen oder was auch immer.
Eine ganze Weile haben wir jetzt die Zwingenburg im Blick, in deren unmittelbarer Nähe ein der Margarethenschlucht offenbar ziemlich ähnliches Kerbtal beginnt, nämlich die Wolfsschlucht.
Dann doch noch ein kleiner Anstieg, aber nicht mehr als ein paar Meter. Die Nachmittagssonne taucht die Wiesen und Bäume in ein schönes, rätselhaftes Licht.
Ganz plötzlich sind wir im Wald.
Altes Laub bedeckt den Pfad, wie im Herbst.
Altes Laub auf alten, kleinen Steinen.
Aber es ist ein gutes Gefühl, nach dem harten Klang des Asphalts wieder dieses Schaben und Knirschen von Erde und Laub und Kies unter den Stiefeln zu hören.
Nur so ein Gedanke: Man kann sich vielleicht von viel mehr Dingen lösen, als man glaubt, wenn man nur einen gangbaren Weg unter den Füßen hat und sich ganz auf den Augenblick konzentriert. Und nach und nach gewinnt man dann vielleicht eine ganz eigene, übergeordnete Perspektive, die es einem erlaubt, auch gedanklich neue Wege zu gehen, nicht nur buchstäblich auf irgendwelchen Wanderrouten.
So ganz können wir uns des Eindrucks nicht erwehren, dass es mit dem schönen Spätsommertag bald ein Ende haben wird. Allmählich, beinahe unmerklich, verabschiedet sich das Leuchten aus dem Wald, immer mehr und immer dunklere Schatten entstehen, Schatten, in denen die Umrisse von Stämmen, von Steinen, von allem, was eine feste Form hat, langsam verschwimmen.
Und irgendwann setzt der Regen ein.
Der Wald wirkt mit einem Mal grau und leer wie ein altes, seit langer Zeit verlassenes Haus.
Eine halbe Stunde lang gießt es in Strömen.
Es prasselt, schüttet, rauscht, trommelt.
Wir stellen uns unter einen Baum mit dichtem Geäst. Eine Minute lang beobachten wir den Regen, als würden wir uns einen Film anschauen, der auf einer riesigen Leinwand gezeigt wird. Aber dass der Baum, unter dem wir stehen, allzu viel Nässe abhalten würde, kann man nicht gerade behaupten.
Wir beschließen, einfach weiterzugehen.
Jetzt würde nur noch fehlen, dass irgendwo irgendetwas uns den Weg versperrt, wie es ja auf dem Warnschild in Zwingenberg angekündigt worden ist.
Schon bald aber wandern wir wieder durch einen Wald, in dem das Grün einem nur so in den Augen flimmert, es ist, als sei den ganzen Tag kein einziger Tropfen Regen gefallen. Und davon, dass der Weg an irgendeiner Stelle unpassierbar sein soll, kann auch keine Rede sein.
Die Sonne kommt wieder hervor, aber die Hitze des Mittags kehrt nicht mehr zurück. Der Wind ist abgeflaut, nur noch die Spitzen der dünnsten Äste bewegen sich ganz leicht. Geräusche, fein wie der Flügelschlag eines Schmetterlings, um uns herum.
Dann trägt uns der Pfad doch noch ganz nahe an den Fluss heran.
An einer Schleuse stoßen wir auf den hier in der Gegend offenbar nahezu omnipräsenten Neckarsteig, der allerdings über die Schleusenbrücke hinüberführt, während wir weiter geradeaus laufen.
Bevor wir Eberbach erreichen, durchqueren wir noch den kleinen Ort Rockenau, von dem mir nicht mehr in Erinnerung bleibt, als dass uns eine Frau von ihrem Balkon herab freundlich grüßt. Danach liegen nur noch ein paar hundert Meter Landstraße im Gegenlicht der langsam sinkenden Spätsommersonne vor uns.
Das letzte Kapitel der heutigen Chronik: Es besteht in einem Spaziergang in Eberbach, vom Blauen Hut zum Pulverturm.
Beide Türme sind ziemlich ansehnlich und zumindest den Pulverturm würde ich mir irgendwann gerne auch mal etwas näher ansehen.
Wobei sich das von vielen Dingen sagen lässt.
Noch eine Wanderung am Neckar:
Tour 68 Heidelberg: Königstuhl – Kohlhof – Schloss
Selten hatte ich zu Beginn einer Tour eine weniger
konkrete Vorstellung davon, was mich erwarten
könnte als diesmal.
Das gilt zumindest für den größten Teil der Wande-
rung, nämlich so ziemlich für jeden einzelnen Schritt
von dem Moment an, als wir uns von der Bergbahn-
station Königstuhl… weiterlesen Bildergalerie
4 Comments
Roxanne
Deine Schilderungen ziehen einen immer wieder ins Geschehen hinein und es gelingt dir auch immer wieder, neue Worte zu finden. Die Schlucht sieht sehr „wüst“ aus, andererseits erkennt man ja die Absperrseile. Was da hindurchführt, scheint also schon ein ordentlicher Wanderweg zu sein.
Roxanne
gorm
Vielen Dank für deinen positiven Kommentar.:-)
Die Schlucht stellt schon gewisse Anforderungen an die Fitness, man muss sich teilweise an den Seilen große Felsblöcke hinaufziehen. In vielen Passagen lässt sie sich aber auch sehr gut und einfach gehen, nur sollte man definitiv keine übermäßige Höhenangst haben, sonst hat man keinen Spaß dort.
Grüße
Torsten
Jana
Das war eine sehr schöne, abwechslungsreiche Wanderung, die du wiederum in dem dir eigenen, wunderbaren Schreibstil beschrieben hast, lieber Torsten. Die Schlucht ist wirklich nicht ohne, das habe ich erneut festgestellt. Und ohne Wanderschuhe – wie uns doch tatsächlich trotz Warnhinweis Leute begegnet sind – sollte man sie keinesfalls betreten. Eine gewisse Kondition benötigt man auch. Wir haben sie bezwungen und das fehlende Wasser beim Wasserfall hat unseren positiven Eindruck über die wildromantische Schlucht nicht getrübt. Und die Wolfsschlucht erobern wir auch noch!
Liebe Grüße aus dem Neckartal
Jana
gorm
Tja, es war von Anfang bis Ende eine gelungene Tour, liebe Jana. Die Schlucht war zwar zweifellos das Highlight, aber der Rest der Wanderung hatte ebenfalls jede Menge zu bieten – einen tollen Aussichtspunkt, eine Burg, schöne Waldabschnitte und noch einiges mehr. Auch die Dramaturgie stimmte. Erst die teilweise steilen Pfade in der Schlucht, dann das eher mühelose Gehen auf den tischebenen Wegen zwischen Neckargerach und Eberbach. Nahezu parfekt.
Und die Wolfsschlucht wird folgen.:-)
Liebe Grüße
Torsten