Selten hatte ich zu Beginn einer Tour eine weniger
konkrete Vorstellung davon, was mich erwarten
könnte als diesmal.
Das gilt zumindest für den größten Teil der Wande-
rung, nämlich so ziemlich für jeden einzelnen Schritt
von dem Moment an, als wir uns von der Bergbahn-
station Königstuhl aus auf den Weg machen bis
zu jenem Augenblick, als wir ein paar Stunden spä-
ter nach einem planlosen, aber großartigen Erkun-
dungsmarsch durch den Heidelberger Stadtwald
fast exakt an unseren Ausgangspunkt zurückkehren
und uns dann über die Himmelsleiter auf den Weg
zum Schloss hinunter machen.
Wie bei allen meinen Neckartouren bin ich auch heute
mit Jana unterwegs.
Am Aussichtspunkt auf dem Königstuhl
suchen wir uns erst einmal einen Platz
im Schatten, wobei wir den erstbesten neh-
men müssen, der gerade frei wird, denn
hier oben drängen sich die Leute, als gäbe
es was umsonst.
Gibt es ja auch – nämlich den Fernblick über die Stadt
weit übers Land.
Der Königstuhl ist die höchste Erhebung des Kleinen
Odenwaldes und besser als exakt an dieser geogra-
fischen Position könnte er gar nicht platziert sein.
Man hat fast den Eindruck, sehen zu können, was jen-
seits des Horizontes liegt.
Das Zentrum, das, was den Blick auf sich zieht und
zu dem er immer wieder zurückkehrt, ist der Neckar.
Alles andere verschmilzt nach und nach miteinander
zu einem Bild aus weißem, schimmerndem Dunst
und ein paar Farben. Der Fluss aber bleibt stets als
eigenständiges Detail erkennbar, so deutlich wie
Löwenzahn auf einer Veilchenwiese.
Diesseits des Flusses noch gut voneinander unter-
scheidbare Häuser, unmittelbar unter uns ein Saum
von Hecken und Bäumen und ein fast machhieähn-
liches Gebüsch.
Jenseits des Flusses wieder Häuser und dahinter über-
gangslos Landschaft und Horizont.
Bevor wir überhaupt losgehen, ist noch die Frage zu klä-
ren, welchen Weg wir einschlagen.
Wir wandern erst einmal in Richtung eines Parkplatzes,
weg von dem ununterbrochenen Strom von Menschen,
die sich Heidelberg von oben ansehen wollen und dann
sofort wieder in die Bergbahn oder ins Auto steigen,
um sich aus dem Staub zu machen.
Wir sind unfreiwillig auf mindestens einem halben
Dutzend Fotos verewigt, mehr müssen es jetzt wirk-
lich nicht mehr werden.
Bei dem Parkplatz angekommen, entdecken wir einen
Stein mit Richtungspfeilen und Ortsangaben, die aber
nicht hilfreicher sind, als wenn wir hier auf Inschriften
in sumerischer Keilschrift gestoßen wären.
Die Infotafel am Rande des Parkplatzes bringt uns da
schon weiter.
Es gibt eine blaue, eine rote und eine braune Nordic-
Walking-Strecke, die sich an verschiedenen Punkten
berühren, so dass man immer wieder von der einen auf
eine andere wechseln kann.
Wir beschließen, zunächst zum Kohlhof zu wandern,
von da zum Aussichtsturm Posseltslust und anschließend
wieder zurück zum Königstuhl.
Die Wege sehen zwar so verschlungen aus wie ein Palstek-
Knoten, aber weite Entfernungen haben wir sicher nicht
zu bewältigen.
Wir traben leichten Fußes in den
Wald hinein.
Wie eine leuchtende Fackel hängt die
Sonne zwischen den Baumspitzen. In den
Schatten blasses, mildes Grün.
Es ist warm. Warm und sehr hell. Nicht mal
irgendwo am Rand ein paar Eintrübungen.
Der Weg ist exakt so, wie man sich einen
Spazierweg in einem Stadtwald vorstellt – breit
und flach und belebt wie ein Stück Laubwald-
boden unter dem Mikroskop.
Die Wanderung entfaltet sich ganz lang-
sam und verliert nach und nach den
Charakter eines gemütlichen Sonntags-
spaziergangs.
Meist ist der Weg handtellerflach und
rollt sanft wie eine auslaufende Welle vor
uns her. Ab und zu neigt er sich leicht ab-
wärts, ab und zu geht er urplötzlich für ein
paar Meter in einen verschnörkelten
schmalen Pfad über.
Natürlich befinden wir uns hier nicht in
einer weltabgeschiedenen Landschaft, in der me-
ditative Stille praktisch zum Inventar gehört.
Das ist der Heidelberger Stadtwald! Mit anderen Wor-
ten ein Naherholungsgebiet am Rande einer Groß-
stadt, das auf allen Seiten von mehr oder weniger stark
befahrenen Verkehrsadern eingeschlossen ist.
Trotzdem durchströmt uns schon nach kurzer Zeit voll-
kommene Gelassenheit.
Am Rande einer Straße entdecke ich schräg gegenüber
ein Schild mit der Aufschrift „Kohlhof“.
Neben dem Posseltsturm und dem Schloss ist der Kohl-
hof ja eines unserer Etappenziele bei dieser Wande-
rung.
Schön wäre es, wenn wir dort eine Gaststätte finden
würden, in der wir einen Schluck trinken könnten, aber
Jana meint, so etwas habe es dort zwar früher tatsächlich
mal gegeben, mittlerweile aber schon seit vielen Jahren
nicht mehr.
Fürs Erste bleiben wir aber ohnehin
noch im Wald.
Hellgrünes Licht, manchmal auch grelle
Lichtgarben irgendwo über unseren
Köpfen.
Eine Art zerbrechlicher Stille, sekundenlang,
immer wieder von neuem.
Dann stehen mit einem Mal die Bäume so
dicht nebeneinander, dass man den Kopf in
den Nacken legen muss, um überhaupt noch
Licht zu sehen, das nicht von Schatten
verdunkelt ist.
Doch heute wechseln die Szenerien rascher als im
Zeitraffer. Keine drei Atemzüge später laufen wir
schon wieder durch einen lichten Buchenforst und
weitere drei Atemzüge später hört der Wald auf
und wir stehen oberhalb des Kohlhofs an einer
Landstraße. Neben uns ein Wartehäuschen, am
Wegrand wieder einer dieser Wegweisersteine – und
wieder einer, der uns nicht weiterhilft -, in gerader
Richtung vor uns eine Straße ohne Mittelstreifen,
bei der rechts und links so gut wie kein Platz zum
Gehen vorhanden ist. Wenn wir zum Kohlhof wollen,
bleibt uns allerdings nichts anderes übrig, als uns
mit dieser Straße abzufinden.
So schlimm ist es dann aber gar nicht.
Bis zum Kohlhof haben wir nur etwa 300 Meter zu ge-
hen und währenddessen kommen uns gerade einmal
zwei Autos entgegen, die zudem auch noch kaum
schneller fahren als ein Ochsenfuhrwerk.
Irgendwie hatte ich doch gehofft, dass es auf dem Kohl-
hof noch eine Gaststätte gäbe.
Dem ist aber nicht so.
Zehn Wohnhäuser, drei Scheunen und ein paar zu Stier-
weiden umfunktionierte Obstwiesen, alles sehr beschau-
lich und gefällig, aber im Grunde kommt man sich hier
vor wie ein Störenfried.
Verwaltungstechnisch gehört der Kohlhof zwar zu Hei-
delberg, aber es ist ganz offensichtlich ein eigener dörf-
licher Mikrokosmos.
Wir wandern an den ersten Häusern vorüber und kehren
dann wieder um.
Wahrscheinlich hätten wir zum Aussichtsturm Pos-
seltslust, unserem nächsten Etappenziel, einfach nur ge-
radeaus weitergehen müssen, aber stattdessen wählen
wir genau die entgegengesetzte Richtung.
Trotten zehn Minuten oder länger einen
stetig, aber nicht steil ansteigenden Weg
hinauf, der wie geschaffen für ein ganz
gleichmäßiges Gehen ist.
Schlagen dann, auf einer Kreuzung mit
Schutzhütte, einen Haken und laufen auf
irgendwelchen Wegen in irgendeine Rich-
tung.
Es ist warm, die Luft steht still wie über
einem Weizenfeld im Hochsommer.
Ab und zu ein rasch wieder verebbendes, nicht
zuzuordnendes Geräusch.
Es fühlt sich fast an wie in einem richtig großen Wald
weit weg von jeder menschlichen Behausung. Dabei
sind wir gerade einmal zwei Kilometer vom Aussichts-
punkt Königstuhl entfernt.
Aus einer Minute werden zwei, aus zwei Minuten drei,
bis der Weg nach einer Viertelstunde um ein paar
Kurven driftet und wir wieder einmal am Rande einer
Landstraße landen.
„Oberer Haberschlagweg“ steht als einzige Ortsangabe
auf einem von Moos bedeckten Wegweiserstein. Von
einem Hinweis auf den Aussichtsturm Posseltslust
keine Spur. Weit kann es bis dahin trotzdem nicht mehr
sein.
Und kaum haben wir die Landstraße überquert, ent-
decken wir ihn auch schon zwischen den Bäumen.
Von der Seite sieht der Turm ein wenig
aus wie ein Abbild des Rapunzelturms aus
dem Märchen der Gebrüder Grimm. In der
Frontalansicht stellt sich bei mir dann aller-
dings eher die Assoziation einer kleinen
Tempelanlage ein.
Wir steigen eine dunkle, enge Wendeltreppe
hinauf und oben stehen wir gefühlt fast un-
mittelbar in den Wolken.
Der Turm ist nicht mehr als 15 Meter hoch,
aber über die Baumwipfel hinweg haben wir
einen Fernblick wie aus einem Adlerhorst.
Es ist ein geräuschvoller Ort – ein paar
Meter entfernt eine Straße, unmittelbar
unterhalb des Turms ein Parkplatz -, aber
diese Geräusche treten immer mehr in
den Hintergrund, je länger wir da oben
stehen und auf die weite Landschaft schauen.
Eine optische Stille stellt sich ein, welche die Ge-
räusche ganz allmählich überlagert.
Es gibt Augenblicke, die bleiben.
Nicht unbedingt für immer, aber für so lange, bis
man sich von selbst von ihnen verabschiedet.
Gut möglich, dass das jetzt ein solcher Augenblick
ist.
Auf dem Rückweg von Posseltslust zum Aussichts-
punkt Königstuhl überlegen wir uns, auf welchem Weg
wir überhaupt von da hinunter zum Schloss gelangen
sollen.
Natürlich wäre die sogenannte Himmelsleiter, die
eine Art Direttissima vom Königstuhl zum Schloss
darstellt, die naheliegende Lösung.
Wenn man mal davon absieht, dass es sich um
mehr als 1200 Stufen handelt und jede einzelne davon
so eine Art Eigenleben zu führen scheint.
Man kann da nicht einfach hinuntersteigen wie irgendeine
x-beliebige Treppe, sondern muss buchstäblich auf
Schritt und Tritt aufpassen, wohin man seine Füße setzt.
Die Alternative allerdings wäre, uns über breite Wald-
schneisen in riesigen Schleifen nur nach und nach
dem Schloss anzunähern, und deshalb entscheiden
wir uns nach kurzem Überlegen doch für die Himmels-
leiter.
Jana und ich kennen die Himmelsleiter
schon, das ist ein gewisser Vorteil.
Wir erwarten nämlich nicht jedesmal,
wenn wir einen der breiten Waldwege
kreuzen, dass wir endlich unten ange-
kommen seien.
Wir wissen, dass diese komische Treppe
oder Leiter schier kein Ende nimmt.
Von oben betrachtet sehen manche
Abschnitte aus wie Kaskaden aus mehr
oder weniger zufällig verstreuten Stein-
trümmern.
Wir bewegen uns so rasch wie irgendwie möglich,
denn langsam kippt das Wetter.
Ungefähr auf halber Höhe beginnt der Wind.
Und es ist kein warmer Frühlingswind mehr wie noch
eine Viertelstunde zuvor, es ist ein kühler Luftstrom,
der Regen ankündigt.
Als wir das Schloss erreichen, sieht der Himmel über
Heidelberg aber immer noch einigermaßen freundlich
aus.
Für ein paar Minuten setzen wir uns auf eine Bank
und können zusehen, wie schwarze Wolken immer
mehr Bereiche des Himmels erobern.
Dann ein Blitz, und von einem Augen-
blinzeln zum nächsten stürzt der Regen
herab wie ein Wasserfall.
Die eine Hälfte des Himmels ist schwarz
wie Asche.
Über dem Fluss jedoch ein helles, dunstiges
Schimmern.
Wir laufen durch den Regen.
Die meisten Spaziergänger haben sich unter die Bäume
geflüchtet.
Keine Blitze mehr, immerhin.
Binnen Minuten wird es dunkel wie in einem Tunnel
unter der Erde.
Und wir beide sind nass, als hätten wir gerade den
Neckar durchschwommen.
Wir verlassen das Schlossgelände und steigen in die
Stadt hinunter.
Unten angekommen, lässt der Regen auch schon nach
und kurz darauf nieselt es nur noch ganz leicht.
Aber die Sonne wird heute nicht mehr zurückkom-
men.
Noch eine Tour am Neckar:
Tour 62 Von Hirschhorn nach Eberbach
Es ist Mitte Februar, aber allzu viel erinnert nicht
mehr an den Winter.
Der Himmel wirkt unendlich weit und so hoch, als
würde man an einem warmen Sommertag irgendwo
im Gras liegen und den träge dahintreibenden Wolken
nachschauen.
Es ist wie in einem… weiterlesen Bildergalerie
Wieder eine Schilderung in der dir eigenen, besonderen Sprache, mit vielen Sprachbildern und so, dass man mittendrin ist im Wandergeschehen aus deiner Sicht. Es macht immer wieder Spaß.
Grüße, Mata
Das gesamte “Ensemble” Altstadt – Schloss – Stadtwald stellt eine gute Kombination dar. Ist manchmal natürlich etwas überlaufen, das liegt aber in der Natur der Sache. Richtung Posseltslust wird es dann immer weniger. Es stimmt, dass der Blick vom Turm Richtung Kraichgau fantastisch ist bei klarem Wetter, aber es ist auch etwas eng da oben. Danke für den schönen Text.
Für mich ist es immer besonders spannend, lieber Torsten, wie du im Nachhinein unsere gemeinsamen Wanderungen in Worte kleidest. Ganz toll ist dir das hier wieder gelungen! Beim Lesen habe ich mich sofort an jede Einzelheit erinnert – an unser anfängliches Suchen eines bestimmten Wandersymbols, an die wunderschönen breiten Waldwege, die fantastischen Aussichten und den Regenguss zum Schluss. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass der Stadtwald so dermaßen weitläufig ist. Dort können wir sicher irgendwann noch weitere schöne Wege erkunden. Nur der Abstieg über die Himmelsleiter muss kein drittes Mal sein, haha.
Liebe Grüße
Jana
Es war mal eine Tour der etwas anderen Art. Stadtnah, im Grunde ein Naherholungsgebiet für gestresste Großstädter, aber es hatte dann nach einer gewissen Zeit doch das Flair einer richtigen Wanderung. Wir sind ziemlich spontan vorgegangen, was dort aber ohne Probleme möglich war, und letztlich haben wir alles gefunden, was wir gesucht haben.:-) Highlight dann natürlich der Blick vom Schloss hinunter auf die Stadt, wegen des strömenden Regens mit einer Atmosphäre wie im London des 19. Jahrhunderts, aber das hatte was.:-) Unter dem Strich eine schöne und lohnenswerte Wanderung.
Liebe Grüße
Torsten