TOUR 126 – AUF DER HOCHEBENE ZWISCHEN HEILBRONN UND WEINSBERG
Da ist diese Klarheit überall. Als stünde man in einem aus nichts als Lichtfäden umgebenen Raum, der frei in der Luft schwebt. Und immer mehr, Atemzug für Atemzug, manifestiert sich die Klarheit auch in den eigenen Gedanken, bis zu dem Punkt, an dem man gar nicht mehr so sicher ist, ob das alles tatsächlich von der Außenwelt ausgeht oder ob nicht vielmehr die eigene innere Klarheit jene äußere erst hervorbringt.
Es ist ein Sommertag im Mai. Selbst wenn man einen Herzschlag lang die Augen schließt, bleibt es hell. Und wenn man in die Ferne schaut, hat man das Gefühl, dass es gar keinen richtigen Horizont gibt, keinen scharf vom unbekannten Nichts dahinter abgetrennten Blickfeldrand, sondern lediglich ein eher verschwommenes weißliches Schimmern. Alles, was diesseits des Horizonts ist, hat dagegen absolut nichts Diffuses, es ist so deutlich erkennbar, als sei es mit einem Skalpell in die Luft geritzt worden.
Ja, es ist ein Sommertag im Mai. Da ist auch nichts mehr in der Schwebe oder verharrt in einem Zwischenstadium, und es gibt auch keinen noch so kümmerlichen Überrest der kalten Jahreszeit. Das liegt hinter uns.
Es ist sehr warm. So warm, dass Jana und ich schon nach kurzer Zeit um jeden Zentimeter Schatten froh sind, der sich uns bietet. Viel gibt es zunächst allerdings nicht davon. Wir laufen durch leere, von der Sonne aufgeheizte Stadtstraßen, wenngleich es hier am östlichen Rand von Heilbronn, drei Kilometer von der Innenstadt entfernt, nicht mehr allzu großstädtisch aussieht.
Unser Startpunkt ist der Straßenbahn-Haltepunkt Trappensee, benannt nach einem kleinen See, den wir bei unserer Wanderung aber nicht zu Gesicht bekommen, da er etwas abseits von unserer Wanderstrecke liegt.
Am Ufer des Sees steht ein gegen Ende des 16. Jahrhunderts erbautes Schlösschen, das wie so viele Gebäude dieser Art erst wesentlich später sein heutiges Erscheinungsbild erhielt. Das Literaturhaus samt Kleist-Archiv, das heute darin beheimatet ist, stellt die vorläufig letzte von etlichen Nutzungsvarianten dar, die sich im Laufe der Jahrhunderte angesammelt haben.
Vor 150 Jahren war die Gegend hier noch Umland, gehörte also gar nicht direkt zum Stadtgebiet. Ein Nachklang der damaligen Zeit ist noch existent, denn wie bereits angedeutet ist von der Geschäftigkeit und dem Lärm der Innenstadt hier nicht das Geringste zu spüren. Wir laufen durch eine schmale Straße, in der es schon nach Pferden riecht, bevor wir welche sehen, und danach wandern wir eine breitere Straße entlang, auf der zwar von Pferden nichts zu sehen ist, von Menschen oder Autos jedoch auch nur sehr wenig.
Nicht lange und wir lassen die Stadt endgültig hinter uns. Auf dem breiten Fußweg zwischen Landstraße und Weinbergen lässt es sich komfortabel gehen, und Stück für Stück, je höher wir kommen, weitet sich die Landschaft vor unseren Blicken.
Heilbronn wird halbkreisförmig von nicht wenigen Hügeln umgeben. Keinen gewaltigen Gebirgszügen natürlich, sondern von 300 bis knapp 400 Meter hohen Erhebungen, die zu den Heilbronner Bergen gehören. Es sind nichtsdestoweniger oft grandiose Aussichtshügel, von denen aus man die Umgebung wie ausgerollt vor sich sieht.
Von Beginn an sind Jana und ich von einer gewissen Leichtigkeit beseelt, einer Mischung aus Freude aufs Gehen und auf das, was wir zu sehen bekommen werden, sowie einem allgemeinen Wohlbefinden, das teilweise sicher dem schönen Frühlingstag zuzuschreiben ist.
Leichtigkeit hin oder her, wir sind dennoch beide froh, als wir aus der immer mehr sich aufstauenden Hitze in die erheblich kühleren Schatten des Waldes gelangen. Es ist zwar nicht gerade so, als würden wir einen dunklen, kalten Kellerraum betreten, aber es ist doch um einiges weniger heiß als in der prallen Sonne.
Vor uns ein breiter, leicht ansteigender Weg, der wie eine langgezogene, in der Bewegung erstarrte Welle aussieht. Erst nach einigen Sekunden begreifen wir, dass das gar nicht der Weg ist, den wir einschlagen müssen, denn unsere Route führt nicht geradeaus, sondern nach links über einen schmalen, im ersten Moment kaum erkennbaren Pfad.
Schon nach wenigen Metern sind wir von einem verschwenderischen, beinahe überbordenden Grün umgeben. Einem Grün, das eine Wand ist, ohne wirklich eine Wand zu sein. Einerseits schirmt es ab, andererseits ist es durchlässig, es begrenzt, schafft zugleich jedoch eine Verbindung zu dem, was sich jenseits des Grüns befindet.
Fast noch auffälliger als dieses Grün sind die Felsen. Ab dem 14. Jahrhundert, vielleicht sogar schon früher, wurde hier Sandstein abgebaut, Schilfsandstein, um genau zu sein. Einige Jahrhunderte lang dauerte der Abbau an, und im Laufe dieser langen Zeit entstanden optisch wenig ansprechende Abraumhalden.
Um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert herum wurde deshalb damit begonnen, eine der Abraumhalden zu begrünen und 1000 Meter Promenadenwege für Waldbesucher anzulegen. Erst im Jahre 1968 wurde der Steinbruchbetrieb schließlich eingestellt, ein paar Jahre später wurde das Gelände als Naturschutzgebiet ausgewiesen, und das ist es heute noch.
Der Pfad, das Licht, die Sandsteinfelsen, das Grün – viel mehr Idylle geht in der Nähe einer Großstadt nicht.
An einem anderen Ort – einem vielleicht ebenso schönen, aber mehr der Sonne ausgesetzten und dadurch ziemlich heißen Ort – wären wir vielleicht weniger an den Details unserer Umgebung interessiert gewesen, unsere Aufmerksamkeit wäre eher oberflächlich oder aber unbestimmter, umfassender gewesen. Es ist nämlich immer auch die Frage, wie Dinge sich durch verschiedene Umstände verändern, und wie sich damit zugleich auch unser Eindruck von den Dingen wandelt. Ein etwas dunkleres oder helleres Licht genügt bereits und die Umgebung ist eine gänzlich andere. Wie auch immer, hierher passen die schmalen Schattenwege wie Pflastersteinstraßen ins antike Rom.
Nach ungefähr einem Kilometer gelangen wir aus den Schatten zurück ins Licht. Einige Atemzüge lang ist es, als würden wir von einer Woge aus Licht überflutet werden, dann aber haben sich unsere Augen an die größere Helligkeit gewöhnt und die Dinge ordnen sich wieder.
Wir sehen Weinberge, eine Ebene mit Wegen und Häusern und am Horizont eine niedrige Hügellinie, vermutlich den Heuchelberg.
Wir bleiben aber nicht in den Weinbergen, sondern steigen eine Treppe hinauf, die uns gleich wieder in den Wald zurückbringt. Wieder ist da dieses typische Schatten-Licht-Spiel auf dem Pfad, wie so oft an hellen Frühlingstagen. Hier und da können wir zwischen den Bäumen hindurch auf die gerade erwähnte Szenerie aus Weinbergen und Hügeln schauen. Der Pfad ist so schmal, dass man nicht nebeneinanderher gehen kann, ohne in die üppig wuchernde Vegetation am Wegrand zu geraten. Dennoch müssen wir an mehreren Stellen entgegenkommenden oder uns überholenden Radfahrern ausweichen.
Jana, die sich vor der Wanderung ein wenig mit dem Tourverlauf beschäftigt hat, kündigt an, dass bald ein Aussichtspunkt kommen wird, und der lässt auch nicht lange auf sich warten.
Wieder ist da dieser weite Horizont, im Vordergrund Wege, geschwungen wie kalligraphische Schnörkel, kreuz und quer durch die Weinberge führend, am Rand der Wege Weinberghäuschen wie dort abgestellt und dann vergessen. Nirgends eine Regung, die Landschaft ruhig wie ein Gebirgssee im Mondlicht, nur weit hinten ein leichtes, so gut wie nicht wahrnehmbares Zittern der Luft.
Wenig später, vom früheren Galgenberg aus, haben wir nochmals einen ähnlich grandiosen Fernblick.
Bis zum Jahr 1811 stand hier tatsächlich auch der Galgen der Stadt Heilbronn. Zu der Zeit, als Kleist das „Käthchen von Heilbronn“ schrieb (1807/1808) oder als Goethe (1797) bzw. Schiller (1793) in Heilbronn weilten, war der Galgen also noch in Gebrauch.
Während Goethe allerdings nur zwei Tage in Heilbronn verweilte und dabei eine Art touristisches Programm abspulte, blieb Schiller vier Wochen in der Stadt und hatte dabei alles, nur keine touristischen Ausflüge im Sinn.
Elf Jahre zuvor, im Jahre 1782, war sein Drama „Die Räuber“ in Mannheim uraufgeführt worden, und um dem Ereignis beizuwohnen, hatte Schiller sich ohne Erlaubnis von dem Grenadierregiment, in dem er als Arzt diente, entfernt. Im Mai desselben Jahres kam es zu einer zweiten Reise nach Mannheim, wieder ohne Erlaubnis, woraufhin Schiller mit 14 Tagen Arrest bestraft wurde. Kurz darauf untersagte Herzog Carl Eugen von Württemberg ihm jede Art von Schriftstellerei, die sich nicht auf etwas Medizinisches bezog.
An einem Tag im September 1782 – während Herzog Carl Eugen gerade ein Fest zu Ehren des russischen Prinzen Paul auf Schloss Solitude geben ließ – floh Schiller aus Württemberg nach Mannheim und damit in kurpfälzisches Herrschaftsgebiet, womit er als Deserteur galt.
Schillers Aufenthalt in Heilbronn elf Jahre später hatte durchaus auch gesundheitliche Gründe, denn seine körperliche Verfassung war – wie eigentlich stets – alles andere als gut und von seinem Hausarzt war ihm der Heilbronner Arzt Gmelin empfohlen worden. In erster Linie aber hatte Schiller die Absicht, von Heilbronn aus in aller Ruhe auszuloten, ob die Möglichkeit bestand, wieder in seine württembergische Heimat zurückzukehren. Von Freunden erfuhr Schiller schließlich, dass Carl Eugen seine Anwesenheit in Württemberg zwar nicht ausdrücklich gestatten, sie jedoch komplett ignorieren würde.
Schiller verließ Heilbronn also wieder und reiste mit seiner schwangeren Frau Charlotte weiter nach Ludwigsburg.
Zurück in die Gegenwart.
Vom Galgenberg aus wenden wir uns allmählich wieder in Richtung unseres Ausgangspunktes. Wie zuvor wandern wir mal über Asphaltwege, mal über weichen Waldboden. Über uns oft ein dichtes, baldachinartiges Blätterdach, das uns vor der Hitze schützt.
Irgendwo in diesem Wald zweigt ein abschüssiger, holpriger Pfad vom Hauptweg ab, der uns zu einem Aussichtspunkt führt, von dem aus wir die Burgruine Weibertreu sehen können. Bzw. das von ihr, was auf die Entfernung hin erkennbar ist, also in erster Linie die Burgmauer.
Der Name „Weibertreu“ geht auf eine Begebenheit aus dem Jahr 1140 zurück, als nach einer Belagerung die Frauen der Burg ihre Männer vor der Hinrichtung bewahrt haben sollen, indem sie diese auf dem Rücken den Hügel hinabtrugen. Im Gegensatz zu den Männern war den Frauen nämlich freier Abzug zugesichert worden und zudem wurde ihnen erlaubt, „dass jede forttragen dürfte, was sie auf ihren Schultern vermöchte“. So heißt es jedenfalls.
Justinus Kerner, Arzt und Dichter – und als solcher u. a. Mitglied des Seracher Kreises – machte sich um den Erhalt der verfallenden Burg verdient. 1823 gründete er den Weinsberger Frauenverein, dem zunächst sechs Frauen angehörten, darunter seine Ehefrau, im Jahr 1823 sicher ein eigenartig anmutendes Unterfangen, zumal der Verein sich nicht etwa mit kirchlichen oder karitativen Dingen beschäftigte, sondern sich eben bemühte, die Burg zu erhalten. Geld sammelte, Schutt wegräumte, Sträucher anpflanzte usw., kurz, den Verfall der Burg stoppte.
Wir kehren auf den Hauptweg zurück und setzen unsere Wanderung fort.
Bereits zu Beginn, kaum dass wir aus der Straßenbahn ausgestiegen waren, hatte Jana erwähnt, dass wir eine Heidelandschaft zu sehen bekommen würden, und der nähern wir uns nun allmählich.
Bald schon liegt der Wald hinter uns. Die Schatten, die bislang oft beinahe die gesamte Breite der Pfade einnahmen, ziehen sich zurück. Nur am Wegrand gibt es für eine Weile noch dünnen, durchlässigen Baumschatten. Es ist so hell, dass man den Eindruck haben könnte, durch einen Bach aus Licht zu waten. Es ist eine völlig andere Helligkeit als frühmorgens oder auch vormittags, wenn noch ein Überrest der Dämmerung mitschwingt, so schwach er auch sein mag. Es ist eine Helligkeit ohne den geringsten Ansatz von Eintrübung. Eine Helligkeit, wie geschaffen für Fernblicke.
Da ist die Ebene des auf den allerersten Blick Sichtbaren. Das ist eine vordergründige, naturgemäß auf recht oberflächlicher Wahrnehmung beruhende Ebene. Man wirft im Vorbeigehen oder bei einer kurzen Rast einen Blick in die Landschaft und das war´s.
Die zweite Ebene ist eine Ebene detaillierter Betrachtung. Man unterteilt, was man sieht, in einzelne Sektoren und Streifen. Mitunter wechselt die Einteilung von kleinräumigem Erfassen zu größeren Einheiten, hier und da ziehen auch verschiedene auffällige Punkte irgendwo in der Landschaft die Aufmerksamkeit auf sich. Das ist keine Ebene, die sich im Vorübergehen eröffnet, es ist eine Ebene, auf die man sich einlassen und für die man sich etwas Zeit nehmen muss. Aber weder ist diese zweite Ebene besser noch schlechter als Ebene Nummer eins.
Und wie so oft, findet auch bei dieser Wanderung ein steter Wechsel zwischen beiden Ebenen statt.
Dann sind wir am Rande der Heide.
Vor uns ein schmaler Weg, beinahe wie ein Steg.
Links und rechts dürre Wiesen, später jedoch ansehnliches, hohes Gras.
Ein Gürtel aus Wald um die Heide herum, auf der Heide selbst allerdings nur einige wenige Einzelbäume.
Stille.
Nicht etwa eine irgendwie unangenehme, bedrückende Stille, sondern eine Stille als Ruheoase. Es ist auch keine wirklich vollkommene Stille, aber alles, was man an Geräuschen hört, ist so unaufdringlich, dass es als Teil der Stille akzeptiert wird.
Wir laufen den Weg entlang.
Irgendwo auf der Wiese entdeckt Jana drei Heuballen und spätestens jetzt hat die Atmosphäre hier etwas von Spätsommer, von bereits ausklingender Hitze, von Herbstnähe. Wahrscheinlich ist es nicht zuletzt die Kargheit der Landschaft, die diesen Eindruck hervorbringt.
Der heutige Name der Heide lautet Waldheide. Bis ins 20. Jahrhundert hinein hieß sie Angerheide. Zunächst lange Zeit lediglich Weide- und Ackerland, begann ab dem Jahr 1883 die militärische Nutzung des Geländes. Für Jahrzehnte wurde die Waldheide während des Kaiserreichs ein Exerzierplatz, in der Nazizeit dann ein Truppenübungsplatz und irgendwann nach dem 2. Weltkrieg übernahm das US-Militär das Gelände und stationierte hier Atomraketen. Die Explosion einer Raketenstufe kostete im Januar 1985 drei US-Soldaten das Leben. 1991 gaben die Amerikaner das Gelände auf, einige Jahre später folgte die Renaturierung des Areals.
Es ist ein schöner, irgendwie beinahe entrückt wirkender Ort.
Ein Ort, an dem die Sekunden zu Minuten und die Minuten zu Viertelstunden werden, ohne dass man es so richtig bemerkt. Und ohne dass es von großer Wichtigkeit wäre.
Kaum Menschen.
Wir sehen lediglich eine Frau über die Wiesenflächen spazieren und eine andere plötzlich aus dem hohen Gras auftauchen wie ein aufgescheuchtes Wild.
Im Wald ändert sich das mit der Stille schlagartig.
Mit einem Mal sind die Wege voller Menschen. Und zwar wirklich richtig voll.
Am Wegrand viele kleinere und größere Dinge, die offensichtlich dazu bestimmt, sind, die Waldbesucher zu unterhalten – ein Steinkreis beispielsweise, ein Labyrinth aus abgesägten Baumstämmen und einiges mehr.
Es dauert nicht sehr lange und wir sind wieder dort, wo wir Stunden zuvor den Wald betreten haben und dem schmalen Pfad durch die Schlucht gefolgt sind.
Von hier aus machen wir uns auf den Weg zurück zur Haltestelle Trappensee. Es ist heiß und Waldschatten gibt es nun natürlich nicht mehr. Aber das ist jetzt auch nicht mehr so wichtig.
One Comment
Gundelkeks
Das ist ja mal ein toller Wanderbericht. Wanderung selbst scheint abwechslungsreich gewesen zu sein, das ist immer gut.