Wandertouren

TOUR 121 – VON LAUDENBACH NACH HEPPENHEIM

Wie so manches andere sind auch Wanderungen mitunter eine Sache von Erwartungen. Je mehr man sich vorher mit einer Wanderung beschäftigt, desto festgefügter sind diese Erwartungen im Allgemeinen.
Was mich betrifft, so wandere ich oft los, ohne viel mehr als den Startpunkt einer Tour zu kennen, es gibt aber auch nicht wenige Wanderungen, bei denen ich vom ersten Schritt an weiß – oder zumindest zu wissen glaube -, was mich erwartet.
Erwartungen können sich selbstredend auch unabhängig von Planungen, Routen usw. alleine aus der Region ergeben, in welcher man wandert. Und wenn man sich an der Bergstraße befindet, wie Jana und ich am heutigen Tag, dann ist es nicht allzu weit hergeholt, hier und da mit Weinbergen zu rechnen.
Und wir werden sie auch zu sehen bekommen, diese Weinberge, auch wenn wir uns bis ganz zum Schluss gedulden müssen.

Wir wandern los.
Es ist ein Beginn wie manch anderer auch – ein paar eher leere Ortsstraßen, in denen wir erst einmal gemächlich die Umgebung in Augenschein nehmen und uns orientieren.
Wir kennen Laudenbach bereits von einer knapp zwei Jahre zurückliegenden Wanderung, und das eine oder andere erkennen wir auch wieder. Die Skulptur eines Wandersmannes am Straßenrand zum Beispiel oder eine lang gezogene, hohe Mauer, hinter der über einen versteckten Treppenaufstieg der Blütenweg verläuft. Im selben Moment jedoch, in dem wir von der Straße auf einen breiten Schotterweg abbiegen, beginnt vollkommen unbekanntes Terrain für uns, und bis auf den letzten Kilometer durch die Straßen von Heppenheim wird das von nun an auch so bleiben.

Wenn man vom Beginn der Wanderung auf den Rest schließen könnte, dann müssten wir uns auf jede Menge Anstiege einrichten, denn in der ersten halben Stunde geht es nahezu ununterbrochen bergauf. Der Schotterweg ist rasch Geschichte und wird von einem schmalen, serpentinenartigen Pfad abgelöst. Wir gelangen hier natürlich nicht in schwindelerregende Höhen. Die höchste Erhebung im weiteren Umkreis ist mit gut 500 Metern der Melibokus ein paar Orte weiter im Norden.

Noch weiter nördlich, in Darmstadt, nimmt die Bergstraße ihren Anfang. Von da verläuft sie in südlicher Richtung, vom Hessischen ins Badische, ziemlich genau bis Heidelberg.
Georg Büchner wanderte einst über die Bergstraße, ehe er aufgrund verschiedener gegen die Obrigkeit gerichteter Schriften nach Straßburg fliehen musste.
Letzteres geschah im März 1835.
Im Herbst desselben Jahres verfasste er die Novelle „Lenz“, und die Intensität der Landschaftsdarstellung im allerersten Abschnitt dieses Werkes mag durchaus von Eindrücken herstammen, die Büchner an der Bergstraße gesammelt hatte.

Wir warten auf den ersten Fernblick.
Wir müssen uns auch gar nicht allzu sehr gedulden, dann ist er da.
Im Vordergrund wie ein Schutzwall zahlreiche Bäume, dahinter flaches Land mit Häusern und Wiesen. Jenseits davon sieht die Landschaft aus wie abgetrennt, geht unmittelbar in ein weißes oder eher bläuliches Rauschen über.

Wir wandern weiter bergan, in einen immer helleren Vormittag hinein. Um uns herum ist der Frühling erwacht. Blüten in allen möglichen Farben sind zu sehen. Unter all den kahlen Winterbäumen stechen sie umso mehr hervor.
Jana und ich sind ja nicht zum ersten Mal an der Bergstraße. Dass hier die Blütezeit oft sehr früh beginnt, früher als an vielen anderen Orten, scheint tatsächlich zuzutreffen.

Allmählich häufen sich die flacheren Geländeabschnitte. Hier und da tut sich ein Blick in eine Mulde zwischen niedrigen Hügeln auf. Aber bestimmend ist immer noch der Wald, nur dass wir jetzt über richtig breite Wege laufen. Was unter anderem zur Folge hat, dass die zuvor auf den schmaleren Pfaden sehr dichten Schatten sich nahezu auflösen.

An einer Hütte legen wir eine erste Rast ein.
Von da führt der Weg noch ein Stück weiter hinauf, durch immer helleren Wald. Am Wegrand Bäume mit weißen Blüten, vielleicht Pflaumenbäume. Mit beinahe jedem Blick nehmen wir etwas Neues auf. Ganz von selbst wird das Wahrnehmen dadurch vorübergehend kleinräumiger, es konzentriert sich auf das innerhalb eines Augenblicks Erfassbare, reiht Beobachtung an Beobachtung.
Wiesen und Einzelkämpferbäume bestimmen die Szenerie, alles wirkt noch ein wenig karg, dennoch ist es gegenüber den betongrauen, verregneten Untoten-Tagen der vergangenen Wochen ein unübersehbarer Schritt Richtung Frühling.

Dann wieder Bäume, und zwar natürlich immer noch diese kahlen Gebilde, die nur aus Wurzeln, Stamm und Ästen bestehen. Schwache Schattenlinien auf den Wegen, die immer weiter sich ausbreitende Lichträume abgrenzen.
Am Wegrand, bis tief in den Wald hinein, sehen wir jetzt einzelne kleinere Felsbrocken. Das ist aber noch nicht das sogenannte „kleine Felsenmeer“, dieses befindet sich erst jenseits des Heppenheimer Stadtteils Juhöhe, den wir kurz darauf durchqueren.
Offenbar war das Felsenmeer bis zum Jahr 2019 als Naturdenkmal ausgewiesen, 2019 verlor es diesen Status allerdings und soll nun, wie es aussieht, einer Steinbruch-Erweiterung weichen.

Nach und nach manifestiert sich eine ausgewogene, stille Beschaulichkeit in der Art, wie wir auf die Landschaft um uns herum blicken.
Sonnenüberflutete Wege am Wald entlang, auf denen uns hier und da Spaziergänger begegnen, Wiesen wie Teppiche, auf denen jeder einzelne Schattenumriss bis in seine kleinsten Verästelungen zu erkennen ist, Dörfer, die aus der Ferne wie unbewohnte Kulissen aussehen – alles vermittelt eine friedvolle Ruhe. Das mag eine Ruhe sein, die keinen Bestand hat, es mag eine Ruhe sein, die nur wir beide als solche empfinden, dennoch ist sie auf den letzten Kilometern der Wanderung sehr gegenwärtig.

Kaum merklich verliert das Nachmittagslicht an Kraft. Die Farben, soweit noch vorhanden, werden stumpfer.
In der Ferne erkennen wir schon die Umrisse der Starkenburg, was erstens bedeutet, dass wir uns schon ziemlich nahe an Heppenheim befinden, und zweitens, dass nun auch die Weinberge sicher nicht mehr lange auf sich warten lassen.

Es dauert auch nur noch ein paar Minuten, da befinden wir uns oberhalb der ersten Rebzeilen, über die hinweg wir weit in die Ebene schauen können. Exakt auf diese Art von Fernblicken haben wir gewartet. Freier Blick nach allen Seiten und eine breite, in einem blauen Nichts sich auflösende Horizontlinie.

Auf einem abschüssigen Pfad wandern wir nun mitten in die Weinberge hinein, sind aber recht bald bereits wieder zurück auf dem Asphaltweg.
Wenig später erreichen wir den Stadtrand von Heppenheim.
Es ist immer noch sehr warm. Sehr viel wärmer kann es an einem Märzabend vermutlich gar nicht werden. Es gibt keinen Zweifel daran, dass der Frühling begonnen hat.

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