TOUR 125 – VON ESSLINGEN ZUR KATHARINENLINDE UND ZURÜCK
Es ist Mittag.
Irgendwo am äußersten Rande des Blickfeldes geht die feste, wie in den Horizont hineingeritzte Hügellinie in ein diffuses, helles Blau über, bei dem man nicht unterscheiden kann, ob es Teil der Landschaft oder Teil des Himmels ist. Es ist wie eine unhörbare, in verschwommene Farben verwandelte Musik. Je länger man hinsieht, desto mehr manifestiert sich der Eindruck vollkommener Reglosigkeit. Für ein paar wenige Augenblicke, ein paar wenige Atemzüge, ist die Horizontlinie wie die Grenze zu einem Land ohne Zeit und ohne Bewegung, in dem alles stillsteht, so, als sei es von der übrigen Welt abgetrennt worden.
Es ist gar nicht einmal so unwahrscheinlich, dass Jana und ich beim Start zu dieser kleinen Wanderung zwei Stunden zuvor bereits eine recht konkrete Vorstellung davon hätten, was uns im Verlauf der Tour erwartet – wenn wir denn darüber nachdenken würden. Aber in den ersten Minuten richten wir unsere Aufmerksamkeit erst einmal darauf, uns zurechtzufinden, und damit haben wir genug zu tun, denn zweimal müssen wir wieder umkehren, weil wir drauf und dran sind, eine falsche Richtung einzuschlagen.
Es ist ein strahlend heller Sonntagmorgen.
Die Straßen von Esslingen sind leer wie Badestrände im Januar. Aber so leer die Gassen sind, durch die wir wandern, so ansprechend sind sie auch. Jede Menge Fachwerkhäuser springen ins Auge, manche davon aus dem 14. Jahrhundert, eines sogar aus dem 13.
Optisch fast noch beeindruckender sind die Neckarkanäle, die in jedem Spätmittelalterfilm als Kulisse dienen könnten. Das ist denn auch die Ursprungsepoche dieser Kanäle, das Spätmittelalter. Vielleicht waren sie irgendwann einmal Nebenarme des Neckars, nicht auszuschließen ist jedoch auch, dass sie vor Jahrhunderten sogar den Hauptarm des Flusses bildeten.
Noch eine ganze Weile laufen wir durch Stadtstraßen, die – je weiter wir uns von der Innenstadt entfernen – desto verlassener wirken. Wir haben keine Eile, gehen weder schnell noch langsam. Der Weg führt bergan, allmählich steiler und schmaler werdend. Hanggrundstücke lösen die Stadthäuser ab. Überall schon viel Grün, aber mitunter auch noch herbstlich anmutendes Laub am Wegrand. Es wird immer wärmer, am Himmel verschwindet nach und nach jede andere Farbe als Blau.
Ein Spaziergänger – vielleicht ist es auch ein Wanderer – überholt uns fast im Laufschritt, während wir unsere scheinbar ziellose Langsamkeit beibehalten und uns die Zeit nehmen, hier und da innezuhalten und die Umgebung zu betrachten.
Die ersten Fernblicke: Häuser, zwischen niedrigen Hügeln verstreut, im Vordergrund Kleingärten, alles noch irgendwie beengt, wenngleich der Himmel eine Ahnung von Weite vermittelt, von Weite und von Ruhe. Helles, frühlingshaft klares Licht, die Schatten auf den Wegen ganz akkurat abgetrennt von den schattenlosen Bereichen. Nichts Unruhiges, nichts Hektisches haftet dieser Wanderung an.
Der Stadtteil, den Jana und ich gerade durchwandern, ist Serach. Hier gibt es ein Schloss, das sich mittlerweile in Privatbesitz befindet, das aber Mitte des 19. Jahrhunderts Treffpunkt des Seracher Dichterkreises war, dem so bekannte Leute wie Ludwig Uhland, Justinus Kerner und Nikolaus Lenau angehörten.
Uhland und Kerner waren oft auf gemeinsamen Wanderungen unterwegs, selbstredend auch in der Stuttgarter Region. Bei beiden Dichtern sind denn auch so einige Gedichte mit Bezug zu diesen Wanderungen vorhanden.
Wir wandern weiter den Berg empor. Für mich sieht es gewaltig danach aus, dass der Anstieg jeden Moment vorbei sein wird, und tatsächlich befinden wir uns mit einem Mal auf einer Anhöhe, auf welcher die Wege wie glattgebügelt sind. Aus allen Richtungen strömen Leute herbei – Jogger, Radfahrer, Spaziergänger – und auf unserem Weg von hier zur Katharinenlinde werden es stetig mehr.
Aber es ist doch noch nicht das Ende des Anstiegs, sondern lediglich ein Intermezzo. Nach zweihundert flachen Metern zwischen Wiesen und Baumspalieren hindurch geht es weiter bergan.
Nach und nach verschwinden die Schatten von den Wegen und den angrenzenden Wiesen wie Licht in einer mondlos finsteren Winternacht. Zunächst noch dichtes Gestrüpp und eng beieinander stehende Bäume entlang des Weges, dann aber von einer Sekunde zur nächsten völlig freie Sicht den Berg hinauf. Und mit jedem Schritt erweitert sich nun unser Blickfeld, es ist, als würde die Landschaft sich wie ein Teppich in Richtung Horizont entrollen.
Mitten auf einer Wiese unübersehbar die Katharinenlinde. Obgleich ihre Äste noch völlig ohne Blätter sind, ist etwas Erhabenes an ihr, so, als wären wir urplötzlich auf ein Artefakt aus einer untergegangenen Epoche gestoßen. Das hängt sicher auch damit zusammen, dass sie gewissermaßen mitten im Nirgendwo steht, umgeben von nichts als Helligkeit und Weite.
Um die Linde rankt sich eine Sage mit religiösem Charakter, von der allerdings etliche Variationen existieren. Nach einer dieser Variationen sollte eine Gräfin namens Katharina die überaus grausame Hinrichtungsart des Räderns erleiden, weil sie Schüler und Schülerinnen im christlichen Glauben unterrichtet habe. Ein Blitz habe jedoch das Rad zerschmettert, bevor die Hinrichtung durchgeführt werden konnte, woraufhin Katharina plötzlich als Heilige angesehen worden sei. Nach ihrem späteren Tod sei sie unter der Linde begraben worden.
Der Turm, der im Jahre 1957 nicht allzu weit entfernt von der Linde errichtet wurde, ist der Katharinenlindenturm. Bestimmt wäre die Aussicht von da oben großartig, aber leider ist der Turm gesperrt.
Im Grunde aber tut das den Fernblicken keinen Abbruch.
Der Tag ist so hell, dass die Hügel aussehen, als seien sie aus Licht gesponnen. Nur weit draußen, wo die Landschaft nicht mehr im Detail zu erkennen, sondern nur noch zu erahnen ist, gibt es eine dünne, verschwommene Schattenlinie. Von den Menschen abgesehen, die ab und zu durch unser Blickfeld laufen, tut sich nicht das Geringste. Keine Nuance am Himmel oder in der Landschaft verändert sich. Wir könnten ebenso gut ein Gemälde betrachten.
Nach einer Weile machen wir uns an den Abstieg.
Der Weg, den wir dafür wählen, führt zwischen Wiesen hindurch bergab und einige Minuten lang bleibt uns der freie Blick in so ziemlich sämtliche Himmelsrichtungen noch erhalten. Ein wenig ist es, als würden wir vom Wind den Berg hinabgetragen werden.
Leichten Fußes traben wir nach Esslingen hinein, genauer gesagt in den Stadtteil Rüdern.
Später kaufen wir uns an einem Automaten Speiseeis und vertilgen es in aller Ruhe an einer Bushaltestelle.
Erst jetzt stellen wir fest, dass wir von unserer geplanten Route abgekommen sind, und zwar ein gutes Stück. Würden wir unseren Weg fortsetzen, hätten wir keinen einzigen Meter außerhalb bebauten Gebiets mehr zu erwarten, sondern nur noch mehr oder weniger stark befahrene Stadtstraßen. Deshalb beschließen wir, zumindest ein kleines Stück zurückzulaufen und einen Bogen zu schlagen, um wenigstens die letzten ein, zwei Kilometer doch noch auf der ursprünglich vorgesehenen Route wandern zu können.
Einen Kilometer oder mehr trotten wir nun wieder bergauf, dann gelangen wir in offenes Gelände. Die Wege sehen aus wie in die Landschaft hineingemalt, jeder einzelne von ihnen. Es ist ein völlig müheloses Gehen, bei dem man das Gefühl hat, es ewig fortsetzen zu können, ohne zu ermüden.
Ab einem bestimmten Zeitpunkt geht es, bis wir Esslingen erreicht haben, nur noch bergab, teilweise ziemlich steil und über Kopfsteinpflaster. Unten der Neckar, in der Mittagssonne leuchtend. Horden von Spaziergängern kommen uns nun entgegen. Es ist ein völlig anderes Bild als einige Stunden zuvor in den sonntäglich leeren Straßen der Innenstadt.
Durch das Neckarhaldentor kehren wir schließlich in die Stadt zurück. Es ist eines von ehedem 28 Stadttoren, von denen allerdings nur noch fünf übriggeblieben sind. Außerhalb der Häuserschatten ist es warm wie im Mai. Der Frühling hat Einzug gehalten.