Wandertouren

TOUR 123 – VON HOMBURG ÜBER JÄGERSBURG NACH BEXBACH

Erster Teil – Schattensonne
Es beginnt mit einem Hauch von Nebel. Dünnem, weißem Nebel, der nur noch ein letzter Überrest des dichteren Morgennebels ist. Befände ich mich in einer Landschaft, in welcher an nebellosen Tagen der Blick vor lauter Weite überhaupt keinen Halt findet, dann würde der Nebel, so dünn er auch sein mag, alles völlig verändern, er würde die Weite eindämmen.
Hier aber, zwischen den Häusern, ist er nicht mehr als eine Randerscheinung, die Umgebung ist nicht hinter grauen, dichten Vorhängen verborgen, und man fühlt sich auch nicht wie in einem Korridor, der von engen, düsteren Wänden begrenzt wird.

Es ist Anfang Oktober, und die Straßen, durch die ich stapfe, sind bereits Herbststraßen. Obgleich der Nebel sich nach und nach auflöst, bleibt ein stumpfes, alles mit einem bleichen, glanzlosen Schimmer ausfüllendes Grau.
Ein paar Minuten lang, während irgendwo in meinem Kopf ein nicht zu Ende gedachter Gedanke vom nächsten abgelöst wird, trabe ich durch die Homburger Fußgängerzone, die sich in unmittelbarer Nähe des Bahnhofs befindet.

Es ist Markttag, so dass trotz der frühen Stunde und trotz des nicht gerade erbaulichen Wetters einige Leute unterwegs sind.
Den Berg hinauf, in Richtung der Schlossberghöhlen, werden die Wege immer belebter. Eine Horde lärmender Schüler kommt mir entgegen und am Eingang zu den Höhlen stehen mehrere große Gruppen, die offenbar auf Einlass warten.

Danach wird es schlagartig ruhiger.
Ich wandere unterhalb der Hohenburg entlang, einem schmalen, etwas düsteren Pfad folgend. Im Moment orientiere ich mich am Bliessteig, der über sechs, sieben Kilometer hinweg jedoch mit der mir wohlbekannten Schlossberg-Tour identisch ist. Es gibt hier noch jede Menge anderer Wanderwege, wie deutlich an den vielen Wandersymbolen zu erkennen ist, die in regelmäßigen Abständen an den Bäumen angebracht sind. Würde ich auf direktem Wege nach Bexbach wandern, hätte ich keine allzu lange Tour vor mir, denn mehr als sieben oder acht Kilometer wären das nicht.
Bexbach liegt westlich von Homburg, aber ich bewege mich zunächst genau in die entgegengesetzte Richtung und schwenke erst ganz allmählich in nordwestliche Richtung um.

Nicht lange und ich befinde mich im Wald.
Neblig ist es zwar nicht mehr, aber von Helligkeit kann trotzdem keine Rede sein. Die Bäume am Wegrand sind dünn wie Zahnstocher, aber sie stehen so dicht beisammen, dass vom Himmel nur punktuell irgendein wässriges, fahles Graublau zu sehen ist. Hier und da ragt ein Felsen in den Weg hinein und Wurzeln durchziehen den Erdboden wie Tentakel.

Vor 250 Jahren war das alles hier der Besitz des Herzogs Karl II. August von Pfalz-Zweibrücken. Von dem prächtigen Schloss, das ab dem Jahr 1778 auf dem Karlsberg errichtet und 10 Jahre später fertiggestellt wurde, ist so gut wie nichts mehr übrig. Nicht mehr als fünf Jahre existierte der Bau, dann wurde er von französischen Truppen zerstört. Manches vom Inventar war allerdings zuvor in Sicherheit gebracht worden und der Herzog selbst war nach Mannheim geflohen, wo er im Jahr 1795 verstarb. Von der das Schloss umgebenden Anlage – der Karlslust – ist immerhin noch manches erhalten, beispielsweise der Schwanenweiher und auch ein Bärenzwinger, in welchem exotische Tiere gehalten wurden.

Lange her, das alles.
Wieder so ein nicht ganz zu Ende gedachter Gedanke: Was, wenn man Erinnerungen längst verstorbener Menschen aus längst vergangenen Zeiten abrufen könnte wie einen Film? Würde es für mehr Klarheit oder für mehr Verwirrung sorgen?
Über die Persönlichkeit Karls II. August ist einiges bekannt, denn sein Architekt bzw. Baudirektor Johann Christian von Mannlich ließ sich in seiner Autobiografie auch über den Fürsten aus. Auf der Schlossberg-Tour und dem benachbarten und teilweise sogar identischen Karl-II.-August-Pfad sind auf Infoschildern Zitate von Mannlich über den Herzog und das Leben bei Hofe aufgeführt, die diesen ganz im Sinne des Selbstverständnisses eines absolutistischen Herrschers als sehr ichbezogenen Charakter erscheinen lassen.

Nächster Anstieg.
Ich arbeite mich am Rande einer Stufenkaskade einen Hügel hinauf.
Kaum bin ich oben angelangt, geht es auch schon wieder den Berg hinab. Wenig später überquere ich eine Landstraße und dann bin ich auch schon beinahe am Karlsbergweiher. Die Pfade sind schmal und belebt wie eine Ausfallstraße im Feierabendverkehr. Aber schon am Rand des Weihers sind nur noch wenige Personen unterwegs und danach werden die Wege leer, als hätte ich einen verbotenen Teil des Waldes betreten. Einmal sehe ich eine Pilzsucherin zwischen den Stämmen hindurchhuschen wie einen Geist, das ist dann aber für viele Kilometer die letzte Begegnung.

Während meines Anstiegs zur ehemaligen Orangerie von Schloss Karlsberg sickert immer dunkleres Licht durch die Baumstämme. Dennoch liegt auf den Blättern ein eigenartiger Glanz, der das Halbdüstere etwas abmildert. Aber mit viel mehr an Helligkeit ist heute wohl nicht mehr zu rechnen.

Zweiter Teil – Balance
„Der Herzog war gerade abwesend und wir hatten daher volle Muße, den Carlsberg zu besehen. In der That ist die Pracht, welche da im Schlosse herrscht, unglaublich. Man sagt, der Kaiser Joseph selbst sey darüber erstaunt …“
Das sind Worte des wohlbekannten Freiherrn von Knigge nach einem Besuch des Schlosses.
Von dieser Pracht ist nichts mehr übrig, auch die Orangerie ist nur noch eine Ruine.

An einer Wegkreuzung verabschiedet sich die Schlossberg-Tour und von da an ist das Terrain, sind die Wege Neuland für mich.
Es ändert sich aber zunächst nicht viel. Pfade, meist breit und dunkel, die durch einigermaßen dichten Wald führen, hier und da Gebüsch, über den Wipfeln ein schmaler Korridor, mitunter auch nur eine Linie helleren Lichts. Von einem überwältigenden Farbenrausch keine Spur! Ich erinnere mich allerdings auch an wirklich düstere Herbstwanderungen, bei denen der Regen wie ein Wasserfall herabstürzte und ich mir vorkam, als befände ich mich in einem von allem Übrigen abgetrennten Raum. So gesehen ist das heute beinahe schon ein traumhafter Tag.

Ich wandere jetzt auf den Homburger Stadtteil Bruchhof zu. Von meinem Startpunkt am Homburger Bahnhof aus gesehen liegt dieser in nordöstlicher Richtung. Ich stapfe durch einige Wohnstraßen, die so gut wie menschenleer sind. Von überall her jedoch dringen Geräusche an mein Ohr – Sägelärm aus Vorgärten, Straßenverkehr, zudem das zunächst lauter werdende und dann sich entfernende und abebbende Donnerns eines Zuges, wahrscheinlich des RE 1 von Mannheim nach Koblenz.
Es gibt hier auch noch einen Gutshof. Erbauen ließ diesen der Onkel Karls II. August unter dem Namen „Königsbrucherhof“. Namen und auch Erscheinungsbild haben sich im Laufe der Zeit geändert, aber immerhin hat er im Gegensatz etwa zum niedergebrannten Schloss die Jahrhunderte überstanden.

Hinter Bruchhof wieder Wald.
Einen Augenblick lang, vielleicht auch zwei weichen die Schatten wie auf Knopfdruck zur Seite. Der schmale, rinnsalartige Pfad, den ich entlanglaufe, bekommt dadurch etwas beinahe Märchenhaftes, zumindest wenn man sich das Firmengelände unmittelbar daneben wegdenkt.
Rasch jedoch kehrt das alte Betongrau zurück. Die Hoffnung auf wenigstens etwas Sonne kann ich wohl endgültig aufgeben. Nicht dass das von elementarer Wichtigkeit wäre, aber auf dem Abschnitt, der jetzt folgt, trägt dieses unerschütterliche Grau dazu bei, dass ich mich fast ausschließlich darauf konzentriere, Schritt vor Schritt zu setzen und möglichst rasch voranzukommen. Denn zu dem Grau gesellt sich nun auch noch Verkehrslärm. Ich trabe durch eine Unterführung, die aus Schwärze und Unrat besteht, und danach bin ich unmittelbar unterhalb einer Autobahn.

Nach und nach, je mehr der Lärm abebbt, treten die optischen Eindrücke wieder stärker in den Vordergrund.
Ich wandere einen Weg entlang, der einer vom Sturm geschlagenen Schneise ähnelt. Zu den Seiten hin sieht es aus, als sei der Wald überall von grauen Wänden eingeschlossen, aber am Himmel zeigt sich zu meiner Überraschung eine Ahnung von Aufhellung. Ein paar Minuten später ist daraus bereits ein beinahe freundliches Wolkenweiß geworden und mit jedem Atemzug wird es nun heller. Es ist, als werde das Grau von etwas aufgesogen, das die ganze Zeit darunter verborgen gewesen ist und nun zum Vorschein kommt. Einen Moment lang oder vielleicht auch etwas länger ist da eine brüchige Balance zwischen dem sich auflösenden Grau und dem sich ausbreitenden Sonnenlicht. Dann, innerhalb einer Minute, verschwindet das Grau und nichts davon bleibt übrig.

Dritter Teil – Waldwege
Von nun an hat diese Wanderung etwas Leichtes, fast schon Friedvolles. Ich komme mir vor wie ein Wanderer an der Schwelle zweier vollkommen unterschiedlicher Welten. Die Trostlosigkeit liegt hinter mir, das Schöne erwartet mich. Das ist natürlich völlig übertrieben, denn es war bisher alles andere als eine trostlose Wanderung. Aber die Wärme und das Licht bringen ein gewisses Wohlbefinden hervor.

Ich laufe am Ufer eines recht großen Weihers entlang.
Plötzlich herrscht reges Leben auf den Wegen. Das Wasser des Weihers dagegen ist ruhig wie das eines Bergsees bei Windstille im Mondlicht. Äste wie kleine Tiere treiben über die Spiegelwolkenwelt im Wasser hinweg.
Ich trotte halb um den Weiher herum und befinde mich dann am Rande des zu Homburg gehörenden Ortes Jägersburg.

Es zeigt sich rasch, dass es hier mehr als nur einen Weiher gibt.
Das Gewässer vorhin war der Möhlwoog, mit 7,4 Hektar der größte von allen Weihern hier um Jägersburg herum. Erwähnenswert sind auch noch der fast ebenso große Brückweiher und der Schlossweiher, an dessen Rand sofort ein großes Gebäude ins Auge springt – Schloss Gustavsburg.
Die Historie der Burg reicht erstaunlich weit zurück, nämlich bis in die Zeit der Salier, also bis ins Hochmittelalter.
Es ist schön hier.
Wäre es noch so grau wie zuvor, würden die Weiher vermutlich eher Sümpfen in der Morgendämmerung ähneln und das Schloss wäre nichts weiter als ein wuchtiges Gemäuer, das als Kulisse in einem Vampirfilm dienen könnte, so aber ist das alles hier beinahe so etwas wie ein kleines Paradies.

Dann bin ich wieder im Wald und laufe einen breiten Weg entlang, an dessen Rand sich ein fast lückenloser Laubsaum hinzieht. Der Atem des Waldes geht ganz ruhig, und obgleich die Sonne nun wie ein großes Lichtrad durch die Baumstämme leuchtet, durchbrechen nur hier und da einmal ein paar vereinzelte schmale Lichtfurchen die Schatten.
Noch ein Weiher, nicht wirklich verborgen, aber eher dunkel anmutend. Der Pfad wird schmaler, an manchen Stellen ist er kaum mehr als ein Riss im Gelände und ich weiche auf die Böschung daneben aus. Das Sonnenlicht ist jetzt wie eine Hintergrundbeleuchtung, ich wandere durch halbdunkle Schattenräume, in denen der leiseste Windhauch Bewegungen hervorbringt, die in der ansonsten vollkommenen Reglosigkeit des Waldes wirken, als würden Schattengestalten lebendig werden.

Für eine Weile werden die Wege kurz darauf wieder breiter und von Zeit zu Zeit begegne ich nun auch Spaziergängern. Irgendwann biege ich auf eine Art schmale Rinne ab, die in eine Senke hinabführt, und von da an folge ich verschiedenen, immer mehr der Dunkelheit anheimfallenden Pfaden.

Außerhalb des Waldes ist es aber immer noch so hell, dass ich selbst mit Sonnenbrille oft nur unscharfe Konturen erkennen kann.
Zwei Kilometer weit, vom Rande Bexbachs bis zum Bahnhof in der Innenstadt, laufe ich unter gleißendem Sonnenlicht dahin. Erst als ich auf dem Bahnsteig angelangt bin, ziehen wieder Geschwader dunklerer Wolken herauf, bis der Streifen Helligkeit, der noch übrigbleibt, nicht breiter erschein als meine Hand.

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