Wandertouren

TOUR 120 – 35 KILOMETER DURCHS MITTLERE SAARLAND

Diese späten Tage des Herbstes, oft schon verkappte Wintertage, weit weg bereits vom Leuchtherbst im Oktober, weit weg von der Wärme und der Klarheit kurz nach dem Ende des Sommers. Nebelwälle verbergen die Horizonte, stundenlang, tagelang fällt Regen, man vergisst beinahe, dass es die Sonne noch gibt. Die Abgrenzungen verschwinden, lösen sich auf. Landschaft, Horizont, Himmel, alles ist eins.
Es sind Tage beinahe ohne Gegenwart, irgendwie noch ins endende Jahr hineingezwängt, eine Zwischenzeit von Erinnerungen an das gerade Vergangene und von Hoffnungen auf das Neue.

Und natürlich sind es auch die Tage des Jahres mit der kürzesten Zeitspanne zwischen Sonnenaufgang und Sonnenuntergang. Deshalb mache ich mich bereits kurz nach der Morgendämmerung auf den Weg. Das Licht über den Feldern ist noch ein graues Dämmerlicht, es lässt mehr im Ungewissen, als es erhellt.
Der Himmel ist blassgrau und wirkt einsam wie eine Steppe im Regen. Die Wege sind vollkommen menschenleer, und so ziemlich alles, was ich sehe, sowohl die Landschaft selbst als auch alle möglichen Dinge am Wegrand, sehen aus wie seit ewigen Zeiten unverändert, so, als wären sie einfach hier abgelegt und vergessen worden. Mit zunehmender Helligkeit schwächt sich dieser Eindruck etwas ab, aber das ändert nichts daran, dass auch in den nächsten Stunden noch eine unauflösliche Atmosphäre von Verlassenheit über allem liegt.

Mein Startpunkt ist eine kleine Hütte ein paar hundert Meter von Thalexweiler entfernt, einem Stadtteil von Lebach mitten im Saarland.
Ich trabe erst einmal in den Wald hinein. Vom Oktoberleuchten ist zwar nichts mehr übrig, aber zwischen den Bäumen glänzt es mitunter beinahe silbrig und hier und da säumt noch ein bisschen matt schimmerndes Laub den Weg. Es ist festes, ins Erdreich hineingepresstes Laub, was aber in jedem Fall um einiges besser und angenehmer ist, als die vom Regen aufgeweichten Pfade im November.
Vor einer Woche hat es den ersten Schnee gegeben, aber der ist mittlerweile schon wieder so gut wie völlig verschwunden.

Die Geschichte nicht weniger meiner Wanderungen ist eine Geschichte von der Macht des gegenwärtigen Augenblicks und von der Regie des Zufalls. Und damit folglich auch von einer mal mehr, mal weniger ausgeprägten Ungewissheit, die ich aber gerne in Kauf nehme.
Auch heute ist das der Fall. Im Moment habe ich noch keine detaillierte Vorstellung davon, wie die Wanderung sich gestalten bzw. wohin genau sie mich führen soll. Ich folge mehr oder weniger spontan diesem oder jenem Weg, diesem oder jenem Pfad.

Nach einer Weile wird der Waldboden von Asphalt abgelöst. Der Weg ist noch nass von einem nicht lange zurückliegenden Schauer und das Rinnsal am Wegrand sieht nach vielen Regentagen aus.
Bis zur Ortsmitte von Dirmingen wandere ich nun nur bergab. Niemand ist unterwegs, jedenfalls nicht zu Fuß.
Der Himmel wird allmählich etwas heller und eine Ahnung von Sonne ist plötzlich da, die sich nach und nach sogar noch etwas verstärkt. Es gibt dadurch mit einem Mal sogar so etwas wie Ferne, eine begrenzte Ferne allerdings sozusagen, nicht etwa eine opulente Weite wie an richtig hellen Tagen.

Irgendwo hinter Dirmingen biege ich auf einen steil ansteigenden Pfad ab. Die Sonne hat sich schon wieder verabschiedet. An einem Baumstamm das uralte, verrottende Symbol eines vermutlich längst nicht mehr existierenden Wanderweges.
Kurz darauf wieder Wald.
Dunkle, lichtabweisende Nadelbäume, darüber ein schmaler, staubgrauer Streifen Himmel. Später treten die Bäume weiter auseinander, die Erde ist von rostrotem Laub bedeckt, und zwar keineswegs nur von ein paar Blättern hier und da, sondern von einem lückenlosen Teppich.

Das erste Bild, das sich mir bietet, als ich wieder aus dem Wald heraustrete, ist ein fahler, niedriger Himmel über schemenhaften Hügeln. Noch eine winzige Spur Nebel und man könnte hier den „Hund von Baskerville“ drehen. Im Vordergrund Wiesen, die im Kontrast zu den verschwommenen, blassen Konturen jenseits davon beinahe schon als Leuchtobjekte bezeichnet werden könnten. Alles, was weiter weg ist als ein paar Schritte, ist bereits Hintergrund.

Ich laufe einen flachen Abhang hinab und kurz darauf befinde ich mich auf dem mir wohlbekannten Asphaltweg zwischen den Dörfern Urexweiler und Hüttigweiler.
Der Weg ist nass, aber dennoch gut dazu geeignet, etwas rascher zu gehen.
Die Wiesen am Rand verlieren sich bereits nach wenigen Metern in dunstigem Grau. Die Überreste von Laub, die sich an manchen Bäumen gehalten haben, sind nahezu farblos.

Ich schlage einen kurzen Bogen durch den Wald und kehre dann wieder auf den Asphaltweg zurück.
Allmählich kämpft sich nun doch die Sonne hervor. Wo die Blickfeldränder vor wenigen Minuten noch die Landschaft wie aufeinanderzurückende Wände zusammenzupressen schienen und alles eingehüllt war in einen konturenauflösenden Krähennebel, da gibt es jetzt zumindest ein paar hundert Meter freie Sicht.
Ich durchwandere Hirzweiler, und während ich einem zunächst steil, später aber nur noch sacht ansteigenden Weg in Richtung eines Gehöftes folge, wird es heller und heller. Die Motivation, meine Wanderung noch etwas weiter auszudehnen, wächst dadurch mit beinahe jedem Schritt.

Immer mehr Spaziergänger lassen sich jetzt blicken, hervorgelockt von der Sonne. Die meisten von ihnen dürften nur eine kurze Schleife vollziehen und dann wieder zu ihrem jeweiligen Ausgangspunkt zurückkehren. Die Asphaltwege zwischen den Dörfern bieten sich sowohl für kurze Gänge als auch für ausgedehnte Fußmärsche an.
Ich könnte nach Westen abbiegen und wäre dann recht bald in Urexweiler, aber eigentlich steht mir der Sinn eher danach, noch ein paar unbekannte Wege zu entdecken. Also biege ich nicht nach Westen, sondern nach Osten ab und lande auch sofort auf einem Weg, den ich noch nie gegangen bin.

An Wiesen und Weiden vorüber trotte ich weiter. Der Weg schneidet schnurgerade durch die Landschaft. Nicht allzu weit entfernt ein paar Hügel, die aussehen wie in der Bewegung erstarrte Brandungswellen.
Eine Landstraße kommt in Sichtweite. Links Mainzweiler, rechts Welschbach, beides Orte mit rund 1 000 Einwohnern.
Am Rande der Landstraße kommt plötzlich etwas Eigenartiges in Sicht, das ich zunächst nicht einordnen kann. Von weitem sieht es irgendwie römisch aus. Ich überquere die Landstraße und stelle fest, dass der erste Eindruck mich nicht getäuscht hat. Ein Stück römische Straße ist hier gebaut worden, unmittelbar am Wegrand, zehn Meter lang vielleicht. Daneben ist ein römischer Meilenstein errichtet worden und ein paar Infotafeln sind auch zu sehen. „Via Romana“ heißt die Rekonstruktion, und offenbar gab es in dieser Gegend tatsächlich eine Römerstraße, die von Straßburg nach Mainz führte.

Ich wäre schon mit einem – verglichen mit einer solchen Römerstraße – weitaus weniger komfortablen Pfad zufrieden, wenn er mich nur auf direktem Weg zum in Sichtweite gelegenen Mainzweiler bringen würde, aber da ist nur die Landstraße und direkt daneben befinden sich ein Straßengraben und eine Wiese.
Ich stapfe also geradeaus weiter, etwas anderes bleibt mir nicht übrig.
Ich gehe höchstens zweihundert Meter und schon muss ich die nächste Landstraße überqueren. An Mainzweiler bin ich längst vorüber, und allmählich sieht es fast so aus, als müsste ich bis Ottweiler marschieren.

Der Wald, in den ich kurz darauf gelange, wirkt seltsam öde. Die Wege sind menschenleer, am Rand finstere Nadelbäume, hier und da Schneereste auf den Zweigen und im Unterholz.
Ich trabe einen schnurgeraden Pfad entlang bis zu einer Gabelung, an der mir keine der beiden Wegvarianten wirklich zusagt. Später biege ich auf eine schmale, kaum erkennbare Furche ab, die so gut wie vollständig unter rostrotem Laub verschwindet.
Schritt für Schritt, Atemzug für Atemzug löst sich das Finstere auf.
Ein ganz bestimmter Gedanke dämmert herauf und setzt sich schließlich unverrückbar fest.
Wenn man viel zu Fuß unterwegs ist, von Punkt zu Punkt, von Ort zu Ort, dann ergibt es sich von selbst, dass jede Wanderung, auch wenn sie ein in sich abgeschlossenes Ereignis darstellt, Teil von etwas Umfassenderem ist. Sie ist ein Kapitel in einem Buch, wenn man so will.
Die Verbindung Gehen – Buch gefällt mir, aber sie ist natürlich nicht neu.
Schon Jean Paul hat das Lesen von Büchern als „wandern gehen in ferne Welten“ bezeichnet.

Keine Ahnung, wie lange ich durch diesen Wald trotte, aber irgendwann ergibt sich doch noch die Möglichkeit, einen Weg einzuschlagen, der zumindest ungefähr in Richtung Mainzweiler führt.
Wieder einmal überquere ich eine Landstraße, und kaum ist das geschehen, finde ich mich mit einem Mal auf einem wunderbaren, schmalen Pfad wieder, der für mich so aussieht, als könnte es sich um einen offiziellen Wanderweg handeln. Deshalb kommt es nicht ganz unerwartet, dass ich nach ein paar Minuten an einem Baum das Wandersymbol irgendeines lokalen Rundweges entdecke, und eigentlich kann der von hier aus nirgendwo sonst hinführen, als nach Mainzweiler.

Es dauert auch tatsächlich nicht lange und ich sehe Mainzweiler vor mir. Wie bei vielen dieser kleineren Orte üblich gibt es eine zentrale Durchgangsstraße und drumherum teilweise verwinkelte Nebenstraßen.
Viel bekomme ich von dem Ort nicht zu sehen. Ich laufe eine Nebenstraße hinunter, überquere besagte Durchgangsstraße und arbeite mich dann eine weitere Nebenstraße hinauf. Danach bin ich wieder in der gewohnten Szenerie – ein Asphaltweg zwischen Wiesen und Weiden und in der Ferne ein paar Hügel, die kleine Dörfer umschließen.

Mit dem Anflug von ziellosem Umherstreifen ist es nun vorüber. Ich durchwandere das nächste Dorf, nämlich Urexweiler, und bringe dort einen der beiden noch ausstehenden Anstiege hinter mich. Die Sonne, halb hinter dünnen Wolken verborgen, verbreitet ein geheimnisvolles, mystisches Licht, das sich jedoch rasch verflüchtigt und von einer geradezu frühlingshaften Helligkeit abgelöst wird, die das Ferne plötzlich ganz nahe heranrückt.

Der letzte Anstieg.
Leere Wege, leere Landschaftsräume, aber von der Verlassenheit, die am Morgen spürbar war, ist nichts mehr vorhanden. Vielleicht nehme ich sie aber auch einfach nicht mehr wahr, da meine Aufmerksamkeit so kurz vor dem Ende der Wanderung nur noch selten allzu umfassend ist. Im Großen und Ganzen beobachte ich auf den letzten ein, zwei Kilometern nur noch den Weg.
Schaue zu, wie das Licht sich langsam zurückzieht, zum Rand, über den Rand hinaus.
Und wie der Weg alllmählich grau und dunkel wird, genau wie die Umgebung.
Aber ich bin ja auch schon so gut wie am Ziel.

2 Comments

Leave a Reply

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert