Die Marienwegetappen,  Wandertouren

TOUR 113/1. TAG – VON WÜRZBURG NACH VEITSHÖCHHEIM

Wo immer wir sind, und sei es an einem von der Menschheit vergessenen Ort am Rand der Welt, wir tragen unsere Vergangenheiten mit uns, unsere Vergangenheiten und damit auch unsere Erinnerungen, Bild neben Bild.
Wir können so stark im Hier und Jetzt verwurzelt sein, wie wir wollen, ein Teil von uns lebt immer auch in dem, was vorüber ist.

Die Dinge ändern sich, die Orte ändern sich, das ist eine unbestreitbare Wahrheit.
Auch deshalb ist es so spannend, irgendwohin zurückzukehren, wo man sich zwar auskennt, wo man aber seit Jahren nicht mehr gewesen ist, und die eigenen Erinnerungen mit der gegenwärtigen Realität zu vergleichen.

Meine letzten Besuche in Würzburg und Veitshöchheim liegen drei Jahre zurück. Um mich daran zu erinnern, wann ich zuletzt in Karlstadt, Gemünden und Lohr gewesen bin, müsste ich allmählich beginnen, Kerben ins Holz oder sonstwohin zu schlagen. Ich denke lieber gar nicht erst darüber nach, wie beinahe unwirklich rasch die Zeit vergeht, das ist ein eigenes Thema.
Jedenfalls werde ich auf unserer viertägigen Wanderung entlang des Mains eine Menge Orte zu sehen bekommen, an denen die stille Macht der Erinnerung auf einer unterschwelligen Ebene sehr präsent ist, aber nicht als Störfaktor, sondern als Ergänzung und Bereicherung.

Erster Tag.
Es ist kurz nach 15 Uhr.
Eine grelle Augustsonne heizt die Straßen Würzburgs auf.
Jana hat an einem Verkaufsstand im Bahnhof Becher mit Wassermelonenstücken entdeckt, die wir später bei einer Rast vertilgen können. Das ist genau das Richtige für einen heißen Sommertag wie heute. Die Wanderung wird zwar nicht lang werden – nur etwa zehn bis elf Kilometer -, aber in der prallen Sonne braucht es nur wenige Schritte, um sich in einen kalten, vor der Sonne geschützten Keller zu wünschen.

Wir laufen die Juliuspromenade entlang und von da auf dem kürzesten Weg zum Main.
In den Straßen und auch am Mainufer eine Art Ameisengewimmel, aber die Meisten orientieren sich doch in Richtung Alte Brücke und Dom, während wir stadtauswärts zur Friedensbrücke und auf die gegenüberliegende Flussseite wandern. Das ist zwar auch nicht gerade eine Wanderung in die vollkommene Stille hinein, aber den größten Lärm lassen wir ziemlich rasch hinter uns.

Wir befinden uns nun im Stadtteil Zellerau, von dem es bis vor nicht allzu langer Zeit viel Negatives zu hören gab – sozialer Brennpunkt, Kriminalität usw. Über Jahrzehnte hinweg handelte es sich um einen Bezirk, auf den der Rest der Stadt mit dem Finger zeigte. Es mag allerdings sein, dass sich das mittlerweile zum Besseren gewendet hat.
Vor etlichen Jahren auf der ersten Etappe des Fränkischen Marienwegs bin ich eine halbe Stunde und länger durch die Frankfurter Straße gelaufen, verfolgt von Bau- und Verkehrslärm, diesmal aber biegen wir schon nach kurzer Zeit zum Mainufer ab.

Von einer Sekunde auf die nächste wird es beinahe paradiesisch still.
Obgleich uns von dem Tumult der Stadt nur ein paar Bäume und einige kleine Gärten trennen, ist es, als würden wir durch einen geräuschlosen Raum wandern, durch ein plötzlich aufgeplopptes Vakuum, zumindest ein paar kurze Augenblicke lang.
Nach und nach treten die vorhandenen Geräusche dann zwar wieder in unser Bewusstsein, aber es sind keine Stadtgeräusche mehr wie noch wenige Minuten vorher, sondern es sind Freizeitgeräusche – Stimmen von Radfahrern, von Spaziergängern, von Leuten, die sich auf Bänken oder auf den Wiesen am Fluss niedergelassen haben. Wobei allerdings diese verbrannten, graslosen Flächen nur mit viel Vorstellungskraft noch etwas mit einer Wiese gemein haben.

Wir bleiben die ganze Zeit nahe am Main.
Es gibt eine Menge stiller, ruhiger Bilder, die haften bleiben, jetzt schon: die beinahe glatte Wasserfläche, die im Fluss sich spiegelnden Baumarmeen am Ufer, das warme Licht im Geäst, das ruhige Blau des Himmels, das ebenso ruhige Grün der Bäume.
Eigentlich haben wir mit dieser Art von Bildern erst ab etwa dem Kloster Oberzell gerechnet, das ziemlich genau an der Gemarkungsgrenze der Stadt Würzburg zur Nachbargemeinde Zell zu finden ist.

Kloster Oberzell ist für uns heute so etwas wie ein Etappenziel. Nicht weil wir aus irgendeinem Grund einen mentalen Anker benötigen würden, um die Wanderung zu bewältigen oder weil wir uns hier näher umschauen wollen, sondern weil wir an dieser Stelle endgültig die urbane Umgebung verlassen und allmählich in spärlicher besiedelte Gegenden kommen, mit mehr Landschaft und mit kleineren Städten und Dörfern.

So richtig etwas zu sehen bekommen wir vom Kloster im Grunde nicht, denn wir laufen die ganze Zeit an einer wuchtigen, lichtverschluckenden Mauer entlang. Das Klosterareal ist nicht klein und von weitem betrachtet sticht auch weniger diese Mauer ins Auge, sondern viel eher die beiden Türme der Klosterkirche.
In seinen Anfängen war das Kloster eine Abtei der Prämonstratenser, eines Ordens, der seinerseits erst wenige Jahre zuvor gegründet worden war. Wir sprechen hier vom Beginn des 12. Jahrhunderts, einer Blütezeit der Orden und Abteien und zugleich eine Epoche, in welcher ein gewisser Bildungsaufschwung zu verzeichnen war, nicht zuletzt durch das Entstehen von Klosterschulen.
Die Prämonstratenser bestanden bemerkenswerterweise zunächst aus Doppelklöstern, was bedeutete, dass sowohl Mönche als auch Nonnen darin lebten, allerdings in voneinander getrennten Gemeinschaften.
Es ist kaum überraschend, dass diese Doppelklöster schon sehr bald umstritten waren. Nicht lange und vielerorts wurden die Frauenklöster ausgegliedert. So kam es schließlich, dass auch der Oberzeller Frauenkonvent abgetrennt und fortan als Kloster Unterzell weitergeführt wurde.

Lange her, das alles.
Die allgemeine Säkularisierung der Klöster zu Beginn des 19. Jahrhunderts bedeutete auch für die Abtei Oberzell das vorläufige Ende. Erst rund 100 Jahre später übernahm ein franziskanischer Frauenorden das Kloster und ist darin bis heute beheimatet.

Hinter Kloster Oberzell wird es noch stiller.
Das ist schon mal ein kleiner Vorgeschmack auf den zweiten Tag, an dem wir uns durch wunderbar ruhige Landschaften bewegen werden.
Ich weiß nicht, ob die Stille vom Fluss her kommt.
Oder ob sie einfach nur Teil dieses Sommertages ist.

Minute um Minute marschieren wir am Fluss entlang.
Von Zeit zu Zeit vollzieht der Weg, dem Flusslauf folgend, eine kleine Biegung, verliert sich in behäbigen, beinahe unbeweglichen Schatten, meistens aber führt er wie mit dem Lineal gezogen geradeaus.
Das Ufer ist oft nur ein paar Meter entfernt.
Der Blick übers Wasser macht ruhig, selbst dann oder vielleicht auch gerade dann, wenn es auf den Wegen und Straßen ringsum geschäftig zugeht.

Wir nähern uns nämlich bereits Veitshöchheim, dem Ziel unserer heutigen Etappe.
Es ist mittlerweile heiß wie in einem Backofen, aber immerhin gibt es am Wegrand jede Menge Bäume und damit auch jede Menge Schatten.

Um genau zu sein, erreichen wir zunächst einmal Margetshöchheim.
Um von da nach Veitshöchheim zu gelangen, müssen wir eine Fußgängerbrücke überqueren, die mittlerweile in die Jahre gekommen ist und deshalb eigentlich von einer neuen Brücke ein paar hundert Meter flussaufwärts ersetzt werden soll.
Im Vorbeigehen sieht das, was wir von der neuen Brücke zu sehen bekommen, ziemlich ansprechend aus, aber was nutzt das, wenn sie wegen juristischer Streitigkeiten nicht weitergebaut wird, wie es im Moment der Fall ist.

Noch ein stilles Flussbild, das stillste von allen: eine lange Reihe von Booten, eins hinter dem anderen, wie mit dem Fluss verwachsen. Das Wasser des Mains dunkelblau, aber doch irgendwie hell, die Ufer dagegen verborgen in grünen Schatten.
Das Licht weit hinten strahlend, wie mit einem weichen Pinsel auf den Horizont aufgetragen.
Es fehlt nichts an diesem Bild und es ist nichts zu viel.
Die Zeit könnte für eine Minute oder sogar länger stillstehen und wir würden es nicht merken.

Dann der Abschluss dieses ersten Tages – der Rokokogarten von Veitshöchheim.
Jana und ich haben uns viel Zeit gelassen heute, deshalb bricht bereits der Abend herein. Ein Augustabend, warm und spätsommerlich schön. Er wäre perfekt geeignet, um irgendwo an einem Fluss oder einem See zu sitzen und Vögel zu beobachten oder einfach nur die Bewegung des Wassers. Aber durch diesen mehrere hundert Jahre alten Garten zu flanieren ist auch nicht schlechter.

In gewisser Weise schließt sich damit für heute der Kreis zu unserem Startort Würzburg. Denn es waren die Fürstbischöfe von Würzburg, die den Garten Anfang des 18. Jahrhunderts zu ihrer Sommerresidenz ausbauen ließen. Auch das am Rande des Gartens liegende Schloss – vorher lediglich ein eher kleines Lusthaus – entstand in dieser Epoche.

Eine knappe Stunde halten wir uns hier auf.
Flanieren umher, sitzen am Rande des Teichs im Zentrum der Anlage, beobachten, wie das immer mehr sich abschwächende Tageslicht ein eigenartig schönes Farbenspiel hervorbringt.

Das ist der erste Tag, aber wir wissen jetzt schon, dass wir nicht nur vier, sondern auch sieben, acht Tage in dieser Gegend wandern könnten, ohne irgendwann genug davon zu haben.
Als wir dann vom Garten zu dem unmittelbar benachbarten Bahnhof gehen, taucht die sinkende Abendsonne das Schloss in ein mystisches Dunkellicht. Die Fassade glänzt sehr hell, die Büsche davor sehen aus wie surreale Schattengestalten. Hinter dem Schloss ein glühender Schein, als wäre weit hinterm Horizont ein Gebirge in Flammen aufgegangen.

4 Comments

  • Railph

    Flusswanderungen haben bestimmt ihren Reiz, allerdings sind sie mir persönlich auf Dauer etwas langweilig. Ein paar Hügel mit Aussichten dürfen es dann schon sein. Abgesehen davon schöner Bericht und auch schöne Fotos.

    Railph

    • Torsten Wirschum

      Wir machen tatsächlich sehr gerne Flusswanderungen, aber selbstverständlich gibt es auch jede Menge anderer Touren, die wunderbar sind bzw. sein können. Danke für den Kommentar.:-)

      Beste Grüße
      Torsten

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