Wandertouren

TOUR 119 – VON DOLLNSTEIN NACH EICHSTÄTT

In einer Zeit, in der das Beobachten der Ereignisse allüberall in der Welt einer Art selbstzerstörerischem Akt gleichkommt, erfüllt das Gehen unter anderem den Zweck, Distanz zur schaffen zu dieser Welt und sich eine gewisse Zeitspanne zu gönnen, in der man sich von allem Unheil und Unglück abschottet. Gehen als temporäre Weltflucht sozusagen.
Aber Gehen wird, zumindest für mich, immer auch Selbstzweck sein, eine Sache, die für sich genommen so wichtig ist, dass ich sie in so ziemlich jeder halbwegs annehmbaren Umgebung ausüben würde, und zwar, ohne damit ein anderes Ziel zu verfolgen, als eben zu gehen.
Und so kommt es, dass viele meiner Erinnerungen der letzten Jahre Geherinnerungen bzw. Wandererinnerungen sind und dass Gehen für mich beinahe so selbstverständlich geworden ist wie Essen und Trinken.

Es ist August.
Das heißt, es ist Sommer und trotzdem auch schon ein bisschen Herbst, der aber gerade heute so gut wie noch überhaupt nicht zur Geltung kommt.
Jana und ich starten in dem Ort, an dem wir unsere Wanderung tags zuvor beendet hatten, in Dollnstein.
Eine ganze Weile laufen wir durch den Ort, am Rande einer wenig befahrenen Straße entlang, dann, wie schon am Vortag, über die Altmühl hinüber.

Würden wir Dollnstein und seine Umgebung aus der Vogelperspektive betrachten oder zumindest von einem erhöhten Standpunkt aus, dann würden wir eine von langgestreckten Hügeln umgebene Mulde sehen, mittendrin das Dorf, bei dem vor allem die alabasterweiße Kirche herausstechen würde. Unübersehbar wären natürlich auch die Kalkfelsen, wie aus der Tiefe der Erde emporwachsend.

Es dauert auch nicht allzu lange, bis die ersten Felsen am Wegrand auftauchen. Einige erblicken wir bereits, kaum dass wir Dollnstein hinter uns gelassen haben.
Ein paar Minuten lang trabt eine Wandergruppe aus vielleicht einem Dutzend Leuten hinter uns her, als ob sie sich uns an die Fersen heften wollten. Obgleich wir nicht gerade schnell gehen, hören wir bald nicht einmal mehr ihre Stimmen und begegnen ihnen auch später nicht wieder.

Der Pfad ist schmal und wie in die Böschung hineingepresst. Ein großer, schattenspendender Baum folgt auf den nächsten. Oft ragen die Kronen über den Pfad hinweg, so dass abgedunkelte Schattenbereiche und der prallen Sonne ausgesetzte Passagen einander abwechseln.
Die Altmühl ist noch ziemlich nahe. Nicht mehr als eine Wiese und eine Straße trennt uns von ihr, trotzdem ist der Pfad, auf dem wir dahinlaufen, auf ganz eigene Weise abgesondert, wie zu einem anderen Raum gehörig. In beinahe alle Richtungen Hügel, ansonsten könnte man bei diesem hellen, klaren Licht wahrscheinlich bis Patagonien schauen.

Es existieren übrigens verschiedene Deutungen, was den Namensursprung der Altmühl betrifft. Eine davon besagt, dass der Name auf ein uraltes keltisches Wort zurückzuführen sei, das so viel wie „still“ bzw. „ruhig“ bedeutet. Ob das nun stimmt oder nicht, sei dahingestellt, fest steht jedoch, dass die Altmühl, wann immer wir sie überqueren, eher träge wirkt, allerdings bekommen wir auch nur wenige der insgesamt rund 225 Kilometer zu sehen.

Eine ganze Weile wandern wir jetzt über einen schmalen, nur zögerlich ansteigenden Pfad, umgeben von leichten Schattenvorhängen, während die Landschaft bis zum Horizont in grelles Sonnenlicht getaucht ist. Auf der Böschung links von uns immer wieder kleine Felsen, aber nicht nur diese riesigen, weißen Kalkmonumente, sondern auch kleinere Felsbrocken, nicht größer als Stühle, die wie Maulwürfshügel übers Gras hinausragen.

Irgendwann aber wird der Pfad breiter, die Schatten treiben auseinander wie von einer Strömung fortgerissen, und kurz darauf finden wir uns am Rande einer Wiese wieder, genau an der Schatten-Licht-Schwelle. Unmittelbar gegenüber von unserem Standpunkt ein Hügelensemble, irgendwo mittendrin natürlich auch wieder ein Felsen, und obgleich die Hügel Fernblicke verhindern, wirkt alles eher weit als eng, eher ausufernd als begrenzt.

Im Allgemeinen lassen Jana und ich die Dinge beim Wandern eher auf uns zukommen, aber diesmal haben wir uns den Verlauf der Strecke vor dem Start ein wenig näher angeschaut. Und dabei sprang uns ein für Mittelgebirgsverhältnisse sehr langer Anstieg ins Auge, dem wir uns jetzt allmählich nähern.
Zunächst allerdings erwartet uns wieder ein schmaler Pfad, ähnlich dem vom Beginn, und auch diesmal besteht die Szenerie in erster Linie aus Felsen und aus mehr oder weniger fernen Hügeln.
Wir wandern unter einem Baldachin aus gebogenen Ästen hindurch, die den Boden beinahe völlig vom Sonnenlicht abschirmen, zwei, drei Atemzüge später jedoch ist der Pfad dem prallen Sonnenlicht ausgesetzt, links und rechts sommerdürres Gras, weiter weg Wald, und über oder zwischen den Bäumen schwebt irgendein fernes Geräusch, das eine Weile da ist und dann verebbt.

Dann ist der Boden mit einem Mal von dicken Wurzeln durchzogen, der Weg führt leicht bergan, wird aber nach und nach immer steiler, und nach jeder Kurve geht es immer noch weiter bergan. Immerhin sind wir wieder im Wald, was gerade bei solch einem Anstieg erheblich angenehmer ist, als sich in der stechenden Sonne den Berg hinaufzuquälen.
Schritt für Schritt, Herzschlag für Herzschlag stapfen wir stoisch hügelan. An einer Stelle öffnet sich der Wald zur Seite hin und wir erhaschen einen kurzen Blick in die Landschaft, ansonsten ist da Minute um Minute nur das, was unmittelbar vor uns auf dem Weg zu sehen ist.

Der Anstieg zieht sich tatsächlich sehr lange hin, und als wir endlich oben angekommen sind, bleiben wir erst einmal eine halbe Minute lang stehen, weil es beinahe ist, als seien wir aus einer Höhle ans Sonnenlicht zurückgekehrt.
Wir befinden uns jetzt am Rande einer Pferdekoppel. Der tischebene Pfad, der an der Koppel entlangführt, wirkt nach dem zähen Anstieg sehr einladend. Es bleibt jetzt auch erst einmal eben.
Aus dem Graspfad entlang der Koppel wird bald ein Kiespfad. Am Wegrand bauchnabelhohes Gras, auf dem Weg selbst ein fortwährender Wechsel von Schatten und Licht, bis irgendwann die Schatten enden und nur noch das Licht übrigbleibt.

So langsam die Zeit während des Anstiegs vergangen ist, so schnell verrinnt sie jetzt. Es dauert nicht lange, bis wir auch schon hinab auf Eichstätt schauen können, wobei der Blick wie ferngelenkt auf ein wuchtiges, die gesamte Umgebung beherrschendes Gebäude fällt, nämlich die Willibaldsburg. Sie war früher Sitz der Eichstätter Fürstbischöfe, vergleichbar also etwa mit der Residenz in Würzburg, die ihrerseits den Würzburger Fürstbischöfen als Sitz diente.

Gemeinsam ist diesen beiden und anderen, ähnlichen Bauwerken, dass sie spätestens nach der Säkularisierung der Klöster – und ganz allgemein kirchlicher Güter – Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts neuen Zwecken zugeführt wurden. Die Willibaldsburg war infolgedessen mal Spital, mal Gefängnis, mal Kaserne.
Im Hintergrund wieder einmal, überall verstreut in den Hügeln, die weiß schimmernden Kalkfelsen, die sich selbst zum Rand unseres Blickfeldes hin noch sehr deutlich von ihrer Umgebung abheben.

Wir laufen nun ins Tal hinab.
Die heißeste Zeit des Tages ist angebrochen und wir sind um jeden Meter froh, den wir im Schatten zurücklegen können.
Kiespfad, Wiesenpfad, Wohngebiet, das ist der Ablauf, bis wir ganz unten angelangt sind. Das Ende der Wanderung ist das allerdings noch keineswegs. Wir überlegen zwar eine Weile, ob wir von hier aus direkt zum Bahnhof von Eichstätt marschieren sollen, aber letztendlich entschließen wir uns, doch noch eine kleine Schleife zu wandern, und das bedeutet, dass wir unsere Schritte wieder hügelaufwärts richten.

Es ist ein völlig anderer Anstieg als der erste, wenngleich auch dieser sich durchaus in die Länge zieht.
Mehr Sonne, mehr Steine, mehr Ausblicke.
Und während der erste Anstieg aus der Stille eher zurück in den Lärm führte, bringt uns dieser Anstieg aus dem Lärm zurück in eine sommerliche Hügelstille.

Nicht lange und wir sind wieder deutlich oberhalb der Stadt, wandern gleichsam wie auf einer Umlaufbahn um sie herum, so dass sich uns ein Stadtblick nach dem anderen bietet. Auch die Altmühl kommt irgendwann wieder in Sichtweite, wenn auch nur als schmales, blaues Band zwischen Bäumen und Gebäuden.

Erstaunlich lange traben wir so dahin, meistens im Wald, entlang schmaler, schattiger Pfade, umgeben von Variationen hellen Grüns. Alles im Einklang, alles zueinander passend. Die Enge des Pfades, der oft am Rande steiler Böschungen verläuft, wird immer wieder aufgelöst von Fernblicken in die weite Landschaft, das Nachmittagslicht reicht bis in die tiefsten Schatten hinein, ab und zu schiebt eine leichte Windhand die Schattenschleier zur Seite, und schließlich senkt der Pfad sich immer mehr in Richtung Tal.

Der Abschluss.
Ein ruhiger Blick, auf einer Brücke stehend, über die beinahe strömungslose, grünlich schimmernde Altmühl hinweg. Am Ufer eine riesige Trauerweide, dahinter das helle Weiß eines Kirchturms.
Im Wasser eine undeutliche Spiegelwelt. Es sieht aus, als sei ein großes Wolkengebirge vom Himmel gestürzt.

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